Wundervoll gefühlvoll gesungene und ausdruckvoll gestaltete "Winterreise" in Stuttgart.

  • Erstes Erstaunen, dass der Mozart-Saal in der Stuttgarter Liederhalle fast ausverkauft war. Heute bei einem Liederabend eher selten. Das lag sicherlich an Daniel Behle, der sich bereits bei einem früheren Liederabend in die Herzen der Stuttgarter Liedgemeinde gesungen hat. Zweites Erstaunen die Fassung dieser Winterreise. Der komponierende Sänger Behle hat die Begleitung zum Klaviertrio ausgeweitet. Durch Violine und Cello bereicherten zusätzliche Farben Schuberts Meisterwerk. Diese Ergänzung ist zum größten Teil gut gelungen. Nur bei der "Krähe" wirkten die Streichinstrumente hart, am Schluss beim" Leiermann" dagegen war das klangliche Ergebnis überwältigend. Das größte Erstaunen schuf jedoch der Interpret Daniel Behle. Ein lyrischer Tenor mit jugendlichem Schmelz. Die Stimme ist ausgezeichnet fokussiert, spricht in allen Lagen perfekt an, fließt wunderbar leicht und unangestrengt durch eine vollkommen beherrschte Atemtechnik. Das Legato und vor allem die stimmlichen Färbungen und Nuancen sind perfekt. Elegante Linienführung, deutliche Artikulation und höchste Wortverständlichkeit vervollkommnen die sängerische Leistung. Zum überwältigenden Gesamterlebnis wird Behles "Winterreise" jedoch durch die Intensität der Gestaltung. Der Sänger durchschreitet die ganze Gefühlswelt mit zartestem Piano bis hin zum dramatisch-überschäumenden Fortissimo. Der Sänger vermittelte durch stimmlich variierende Lautmalerei die gesamten wechselnden Gefühlslstimmungen der "Winterreise". Daniel Behle bestätigte an diesem Abend seinen Ruf als hervorragender Liedersänger nachdrücklich. Vergleiche von Sängern sind immer fragwürdig: Bei Behle spricht man oft vom neuen Wunderlich.Genau das ist er nicht. Wunderlich verströmte immer sein herrliches Material und sang mit schwelgener Inbrunst und glühender Emphase. Behle dagegen ist ein sehr klug disponierender Sänger, der sich immer an der Textgestaltung orientiert und den inneren Kern des Werkes herausarbeiten will. Wenn schon Vergleiche dann wären diese eher in Richtung lyrischer Stilisten wie Alfredo Kraus und Léopold Simoneau möglich. Was soll'ls: Daniel Behle ist ein noch junger Tenor, der zu höchsten Hoffnungen berechtigt und sich mit seiner vollendeten Wiedergabe der "Winterreise" bereits heute als großer Sänger und Gestalter glanzvoll bewährte. Bravissimo!


    Herzlichst
    Operus

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  • Übrigens machte uns mein Tamino-Kollege WOKA auf diesen Liederabend aufmerksam. Er besorgte die Karten, lud uns zum Kaffee ein und chauffierte uns noch nach Stuttgart hinein. Perfekter Service und Beweis, dass Tamino-Freundschaften funktionieren und Beziehungen auch im Forum und darüber hinaus festigen. Lieber WOKA danke.


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  • Es gehört nicht hierher. Aber die Bemerkung von operus "am Schluss beim" Leiermann" dagegen war das klangliche Ergebnis überwältigend" hat mich veranlasst, mir diese Behle-Interpretation der "Winterreise", auf die ich mich im Thread "Schuberts Winterreise post Fischer-Dieskau" ja einließ, noch einmal anzuhören, - speziell den "Leiermann".


    Ja, das kann klanglich beeindrucken. Ich versteh´s gut. Gleichwohl: Es geht an Schubert vorbei. Zuviel weiche Klanglichkeit mit Violine, Cello und Klavier. Es fehlt: Die in ihrem Quinten-Exzess wirklich erschreckende klangliche Leere der Liedmusik, wie sie einem in Schuberts Original begegnet.
    Gleichwohl: Dank an operus für diesen Bericht über eine Konzerterfahrung!
    Und Pardon!

  • Und Pardon!


    Lieber Helmut,


    eine klare und begründete Aussage braucht kein Pardon. Selbstverständlich birgt jede Veränderung und Ergänzung des Originals auch Risiken. Die Erweiterung auf ein Trio kann in der Tat von der ursprünglich gewollten Stimmung wegführen. Dennoch war diese Interpretation der Winterreise ein eindrucksvolles Erlebnis. Leider war die CD ausverkauft, so dass ich erst nach Lieferung nachhören kann.


    Herzlichst
    Operus

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  • Gibt es bei youtube: https://www.youtube.com/watch?v=_GvO8XyJngk und kostenlos bei spotify ! :)


    Ich finde die meisten Bearbeitungen der Winterreise mindestens interessant, zeigen sie doch denkbare Aspekte dieses zentralen Zyklus´.
    Behle hat das Original, wie ich finde, dezent ergänzt und ich finde, gegenüber den unzähligen Originalversionen ist dies eine Bereicherung.


  • Auf CD gibt es mit Behle die Wintertages zweimal, im Original und in der von Helmut genannten Version mit Klavier-Trio, die er, Behle, übrigens selbst einrichtet. Man kann also wählen, sich für die eine oder die andere Variante entscheiden. Beides mögen oder nicht. Beginnen möchte ich mit dem Lob. Behle singt, wie er kann. Er weckt keine falschen Hoffnungen, bleibt im Rahmen seiner lyrischen Möglichkeiten. Stimmlich klingt er noch viel jünger, als er es im wirklichen Leben ist. Das überzeugt. Er ist Jahrgang 1974, hatte eine gründliche musikalische Ausbildung – auch als Komponist. Behle verzichtet auf jegliche theatralische Mittel, er bleibt ganz bei der Musik. Nur vereinzelt und wohl dosiert holt er das dramatische Werkzeug hervor. Dadurch glückt ihm seine Einspielung so gut, so diesseitig. Sie ist nicht bitter, lässt einen nicht mit Tränen zurück. Wäre eine Entscheidung gefragt, meine Wahl würde auf das Original mit Klavierbegleitung fallen. Setzen in der zweiten Einspielung die zusätzlichen Instrumente ein, zuckt es schon mal im Ohr. Was war denn das, durchschoss es mich beim ersten Hören. Zunächst hatte ich den Eindruck, als liege plötzlich eine ganz andere Musik auf. Und dann war mir, als mische sich ein Streichquartett über einen zusätzlichen Kanal in die Winterreise hinein, so wie im Radio, wenn zwei Sender aufeinander liegen. Das dürfte beabsichtigt sein, auch in seiner mitunter verstörenden Wirkung. Im letzten Lied, dem "Leiermann", wird gar in einem Anflug die Leier simuliert. Weil es aber wie ein Dudelsack aus der Ferne kling, gerät dieser musikalische Moment zu sehr in die Nähe von Folklore. Für mich braucht gerade dieses Lied, in dem alles erstarrt, keinerlei Zutat. Es ist das Ende. Da stimme ich ganz mit Helmut überein.


    Operus möchte ich danken für seinen schönen Bericht. Er regt an, sich wieder mit der "Winterreise" zu befassen.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent