Philippe Manoury (* 19. 6. 1952): Uraufführung: "Ring" für großes, im Raum verteiltes Orchester (2015/2016), ein Auftragswerk des Gürzenich-Orchesters Köln (22. 5., 23. 5. und 24. 5.)

  • Ich komme soeben von einem höchsten "speziellen" Konzert zurück, indem wir, das Publikum, zu Beginn Augen- und Ohrenzeugen einer Welturaufführung der ganz besonderen Art wurden:
    Zu Beginn möchte ich einmal das Programm hierher kopieren:


    24.05.2016 Dienstag 20:00 Uhr
    Kölner Philharmonie
    Sophie Karthäuser Sopran
    Gürzenich-Orchester Köln
    François-Xavier Roth Dirigent
    Philippe Manoury
    Ring (2016)
    Auftragswerk des Gürzenich-Orchesters Köln
    Uraufführung
    Wolfgang Amadeus Mozart
    "Voi avete un cor fedele" KV 217 (1775)
    Arie für Sopran und Orchester, vermutlich für
    die Oper "Le nozze di Dorina" von Baldassare
    Galuppi. Text nach Carlo Goldoni, "Le nozze
    di Dorina"
    Wolfgang Amadeus Mozart
    "Basta, vincesti" – "Ah non lasciarmi, no" KV
    486a (1778)
    Arie für Sopran, zwei Flöten, zwei Fagotte,
    zwei Hörner und Streicher. Text von Pietro
    Metastasio
    Pause
    Wolfgang Amadeus Mozart
    "Bella mia fiamma, addio" – "Resta, oh cara"
    KV 528 (1787)
    Rezitativ und Arie für Sopran und Orchester.
    Text von D. Michele Sarcone aus der Festa
    teatrale "Cerere placata" von Niccolò
    Jommelli
    Wolfgang Amadeus Mozart
    Sinfonie g-Moll KV 550 (1788)
    Pause gegen 20:55 | Ende gegen 22:00
    Das heutige Konzert wird im Rahmen von GO
    PLUS aufgezeichnet. Der Video- und
    Audiomitschnitt ist in einigen Wochen auf der
    Homepage des Gürzenich-Orchesters unter
    http://www.guerzenich-orchester.de/go-plus
    verfügbar.



    --- Philippe Manoury


    --- Francois Xavier Roth


    --- Sophie Karthäuser


    Um das Besondere an Philipp Manourys Werk "Ring" für großes, im Raum verteiltes Orchester (2015/2016) etwas zu verdeutlichen, will ich zunächst einen Ausschnitt aus seinen Ausführungen hier zitieren:

    Zitat

    Philippe Manoury: Was ich vorschlagen möchte, ist nicht so sehr die Verräumlichung als Klangeffekt, sonder eine neue Konzeption des Klangs, weniger hierarchisch, weniger "philharmonisch". Wenn ich die Musiker um das Publikum herum platziere, versuche ich nicht, dem eigentlichen Konzert etwas hinzu zu fügen, sonder ein Klangparadigma zu schaffen, das noch nicht ausprobiert worden ist...


    Da ich den Saalplan nicht hier hineinkopieren kann, versuche ich das Ganze zu beschreiben:
    Die Kölner Philharmonie hat einen kreisähnlichen Grundriss, dabei liegen die Chorempore und die darüber liegenden Balkone halbkreisförmig hinter und über der Bühne und die amphitheaterähnlich ansteigenden Sitzreihen des Parketts der Bühne und den vorgenannten Plätzen ebenfalls halbkreisförmig gegenüber, wobei das Dirigentenpodest etwa im Kreismittelpunkt liegt.
    Im unteren Balkonhalbkreis, daran anschließenden zwei großen Einzelbalkonen und hinter den obersten Sitzreihen des Parketts waren nun insgesamt, wenn ich richtig gezählt habe, an zwölf Punkten verschieden große Instrumentengruppen platziert. Hinzu kam auf der Bühne ein Aufgebot von der Größe eines Mozartorchesters, verstärkt durch drei enorme Schlagwerke, denen hinter den obersten zuschauerreihen noch zwei Schlagwerke gegenüber standen. Alles in allem waren es ca. 110 Aktive.
    Wie der geneigte Leser schon annehmen mag, bestand der zeitweilige vielschichte "Klang" aus Höchstdynamik pur, ein Umstand, der vor knapp 25 Jahren schärfste Panikattacken bei mir ausgelöst hätte. aber darüber bin ich längst hinweg. Ich konnte dem ganzen entspannt-angespannt folgen.
    Es handelt sich um die sogenannte Köln-Trilogie, die 2016 (gestern, vorgestern und Sonntag), 2017 und 2018 uraufgeführt wird. Der gestrige erste Teil dauerte gut 30 Minuten.
    Die Aufstellung der von mir genannten Gruppen war durchaus mathematisch und klanglich gut durchdacht und führte zu erstaunlichen Klangerlebnissen, und das Publikum folgte dem ganzen auch, wie ich glaube durchaus fasziniert.
    An manchen Stellen schien der Komponist auch eine Brücke zur Vergangenheit zu bauen, nicht nur durch das zentral aufgestellte "Mozartorchester", das Philippe Manoury auch als "Symbol der Vergangenheit" bezeichnete (wozu der Verfasser etwas anderer Meinung ist). Ich meine die Stellen, an denen die Hörner des "Mozartorchesters" durchaus melodischen Klang entfalteten, nicht die tumultösen Klangballungen der Blechbläser und Schlagzeuge von locker vier bis fünf Fortestufen.
    Als Klangexperiment sehe ich das Ganze ohne Weiteres als gelungen an, glaube aber nicht, dass das eintreffen wird, was der Komponist an anderer Stelle sagte:

    Zitat

    Philippe Manoury: Müssen wir ad infinitum den hierachisierten "philharmonischen Klang" kultivieren, den uns die Tradtion der Klassik und Romantik hinterlassen hat? Sollte man sich nicht in einer radikal zeitgenössischen Ästhetik ausrücken und endlich jene Codes aufgeben können, die auf die soziale Ordnung von damals bezogen sind? Ist nicht der Augenblick gekommen, neue Klangästhetiken zu erdenken, deren reiche Vielfalt und Kraft gerade aus Verschiedenheit und Vielschichtigkeit entstehen und die, statt das Publikum an der Peripherie zu isolieren, es im Zentrum aufnehmen würden?


    Dass nun ausgerechnet der als Kontrapunkt ersonnene Mozart hier angeführt wurde, führt m. E. bei Manoury zu einem Trugschluss, wenn er sagt, dass nach der Pause, wenn sich die Musikergruppen von den Rängen und aus den Gängen verflüchtigt haben, auf der Bühne "das historisch überlebte" Mozartorchester zurückbleibt. Ich möchte ihm zurufen, es sei "das historisch überlebende" Mozartorchester.
    Dennoch erleben wir hier etwas Neues, denn die drei von der wunderbaren belgischen Sopranistin vorgetragenen Konzertarien und die vier Sätze der Sinfonie Nr. 40 g-moll KV 550 werden alternierend vorgetragen, was durchaus seinen Reiz hat, wenn auch Puristen darüber die Nase rümpfen mögen.


    Alles in allem ein sehr erfüllender Konzertabend, der vor allem vor der Pause auch einen sehr glücklichen Komponisten des monumentalen Uraufführungswerkes gezeitigt hat.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    das finde ich toll, dass Du auch solche Konzerte mit zeitgenössischer Musik nicht schmähst! :) Das ist beste Kölner-Tradition. Die "Raummusik" war eine zentrale Idee von Karlheinz Stockhausen. In der Kölner Messe (gegenüber der Philharmonie auf der anderen Rheinseite in Deutz) hat er die "Gruppen" aufgeführt. Auch da wird das traditionelle Orchester "multipliziert" - es spielen drei Orchester mal getrennt und mal zusammen im Rau, dirigiert von drei Dirigenten. In der Philharmonie selbst habe ich damals von Stockhausen selbst geleitet eine Aufführung von elektronischer Musik erlebt, wo sich die Grundidee von Manoury auch findet. Die Lautsprecher waren im Kreis um die Zuhörer herum postiert, so dass die Musik um den Hörer "herumwanderte", also nicht nur von unterschiedlichen Stellen im Raum her erklang, sondern eine Bewegung im Raum ausführte. Stockhausen weist in seinen Schriften darauf hin, dass musikalische Komposition im Raum etwas war, was bei Alter Musik praktiziert wurde, eine Tradition, welche die Neue Musik also "wiederbelebt". Insofern gebe ich Dir Recht - in der Musik überlebt sich nichts. Das Neue ist meist eine Wiederbelebung des Alten - unter veränderten Vorzeichen. Gerade auf Mozart berufen sich immer wieder die Modernen, z.B. Kurt Weill war ein großer Mozart-Bewunderer. Für ihn war die Orientierung an Mozart der Inbegriff für die moderne Oper, die sich von der Übermacht des Wagnerianismus (also "Romantik") befreit.


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich denke, lieber Holger, dass auch die folgenden Ausführungen in diese Richtung gehen:

    Zitat

    Dennoch ist der nun folgende Blick auf Mozarts Sinfonie KV 550 und drei seiner Konzertarien ein gegenwärtiger: Die Tonart g-moll, in der die beiden einzigen Moll-Sinfonien Mozarts, aber auch Pamina Verzweiflungsarie aus der Zauberflöte gehalten sind, umklammert drei Arien, in denen der Zweifel an der Liebe und der Abschied von einem geliebten Menschen und vom Leben selbst formuliert sind. Auch diese Collage kann, wie Manourys Klang-Raum-Installation, ein neues Hören auslösen, wenn man sie als Spieglung des gleichen Gedankens in einem anderen musikalischen Medium anzusehen vermag. Die Sätze der Sinfonie werden zu Echoräumen der Seelenzustände der Arien.


    Dei einzelnen Arien und Sätze wurden in folgender Reihenfolge vorgetragen:


    1. "Voi avete un cor fidele"
    2. Molto Allegro (1. Satz)
    3. "Basta, vincesti - Ah non lasciarmi, no"
    4. Andante
    5. Menuetto: Allegretto
    6. "Bella mia flamma, addio - Resta, oh cara"
    7. Allegro assai


    Übrigens wurde das gestrige Konzert aufgezeichnet und ist in einigen Wochen über die Homepage des Gürzenich-Orchesters http://www.guerzenich-orchester.de als Audio- und Videostream verfügbar.
    Auch Deutschlnadradio hat das Konzert aufezeichnet und wird es in den kommenden Wochen ausstrahlen.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo William B.A.


    mir ist völlig unklar ob es sich bei den von Manoury komponierten Stücken um völlig neu komponierte Stücke handelt (wenn ja, wodurch besteht die Verbindung zu Mozart) oder um von ihm völlig verfremdete Musikstücke von Mozart?
    Um Klärung bittet der
    zweitebass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber zweiterbass,


    nach meinen Erinnerungen werde ich auf deine Frage zurückkommen und zitieren, was der Komponist dazu gesagt hat. Soviel glaube ich jetzt schon sagen zu können, dass es sich keineswegs um Mozart-Stücke handelt, die von Manoury verfremdet wurden.


    Lieb Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Wie ich heute Nachmittsg schon sagte, handelt es sich um eine völlig eigenständige Komposition Manourys, und der Bezug Mozarts ist nur dadruch gegeben, dass die in seinem Klangkonzept für dieses Konzert vorgesehene Instrumentengruppe auf dem Podium dem traditionellen Mozart-Orchester entsprach, verstärkt durch drei veritable Schlagwerkgruppen.
    Philippe Manoury sagt dazu im Einzelnen:

    Zitat

    Philippe Manoury: Die Köln-Trilogie wurde um mein Werk "in situ" herum konzipiert, das 2013 bei den Donaueschinger Musiktagen durch das Ensemble Modern und das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Francois-Xavier Roth uraufgeführt wurde. Sie beginnt mit der ungefähr 30minütigen Komposition "Ring" (s. o.) und wird mit einer Komposition für großes Orchester mit Chor, Sängern, Schauspielern und Live-Elektronik enden. Die drei Stücke des Zyklus werden jeweils in den Jahren 2016, 2017 und 219 durch das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung seines Chefs Francois-Xavier Roth in Köln uraufgeführt. Für Ring, das erste Stück, ist die Aufstellung wie folgt:
    Ein kleines Mozart-Orchester, das die Vergangenheit symbolisiert, wird die eigentliche Bühne einnehmen, während diverse Gruppen auf verschiedenen Stellen im Saal verteilt werden. Zwei Gruppen von neun Musikern rechts und links (also sechs Trios, werden über dem Orchester in Logen sitzen, die sich oben hinter dem Orchester befinden, zwei weitere Gruppen von ca. 10 Musikern werden die seitlichen Balkone einnehmen, vier Gruppen werden hinten oben im Saal in einer einzigen Reihe platziert. Jede dieser Gruppen wird einen heterogenen Charakter haben, also aus Instrumenten aus verschiedenen Instrumentenfamilien bestehen.
    Dieser in Köln auf diese Weise angeordnete klingende "Ring" könnte in einem anderen Saal sehr gut in anderen unterschiedlichen Höhen abgestuft angeordnet werden, wenn dabei die vorgeschriebenen Nachbarschaften der Gruppen erhalten bleiben. (Übersetzung: Birgit Gotzes)


    Ähnlich hatte ich im Eingangstext die Aufstellung auch schon beschrieben. Wie schon gesagt, deckt sich die Aussage des Komponisten über Mozart nicht unbedingt mit meiner Ansicht.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo William B.A.


    ich habe mir inzwischen „In situ“ angehört (was Du in Köln gehört hast, ist ja noch nicht nachhörbar); diese Klangwelten sind zweifelsohne hörenswert - ob auch als Musik?


    Nach wie vor ist mir unklar, wie Manoury zu einem Bezug mit Mozart kommt? Waren die Texte der vorgetragenen Arien die Originaltexte aus den Libretti? Welchen Bezug gab es zu KV550? Oder gab es nur den Bezug zur Größe und Besetzung des Mozart-Orchesters? (Dann könnte man als „Persiflage“ auch deuteln, in Manourys Namen kommen 3 Buchstaben aus Mozarts Namen vor und ergeben damit einen Bezug der beiden Personen zueinander. :hahahaha: )


    Mit einer Mozart-Orchesterbesetzung kann bestimmt noch viel Schrägeres produziert werden. In einem Kirchenkonzert vor 2-3 Jahren wurden die Schallerzeugungsmöglichkeiten von 3 Blasinstrumenten z. T. ausgelotet – dies auf ein ganzes Orchester übertragen gibt unvorstellbare Klang-/Schallwelten.


    Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Musikfreunde in z. B. 30/50 Jahren Monourys Klangkonstrukte als respektable, hörenswerte Musik empfinden/hören. M. E. sind aber die Klangunterschiede von z. Zt. in Konzertsälen zu hörender Musik des 20. Jh. und der in Donaueschingen größer (haben größere Klippen bei Hörern zu überwinden), als die Musik z. B. zwischen Spätrenaissance und Frühbarock.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    zweiterbass: (Dann könnte man als „Persiflage“ auch deuteln, in Manourys Namen kommen 3 Buchstaben aus Mozarts Namen vor und ergeben damit einen Bezug der beiden Personen zueinander. :hahahaha: )


    Lieber zweiterbasss. es sind 4 Buchstaben: Manoury.


    Liebe Grüße


    Willi :D

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).