Ich komme soeben von einem höchsten "speziellen" Konzert zurück, indem wir, das Publikum, zu Beginn Augen- und Ohrenzeugen einer Welturaufführung der ganz besonderen Art wurden:
Zu Beginn möchte ich einmal das Programm hierher kopieren:
24.05.2016 Dienstag 20:00 Uhr
Kölner Philharmonie
Sophie Karthäuser Sopran
Gürzenich-Orchester Köln
François-Xavier Roth Dirigent
Philippe Manoury
Ring (2016)
Auftragswerk des Gürzenich-Orchesters Köln
Uraufführung
Wolfgang Amadeus Mozart
"Voi avete un cor fedele" KV 217 (1775)
Arie für Sopran und Orchester, vermutlich für
die Oper "Le nozze di Dorina" von Baldassare
Galuppi. Text nach Carlo Goldoni, "Le nozze
di Dorina"
Wolfgang Amadeus Mozart
"Basta, vincesti" – "Ah non lasciarmi, no" KV
486a (1778)
Arie für Sopran, zwei Flöten, zwei Fagotte,
zwei Hörner und Streicher. Text von Pietro
Metastasio
Pause
Wolfgang Amadeus Mozart
"Bella mia fiamma, addio" – "Resta, oh cara"
KV 528 (1787)
Rezitativ und Arie für Sopran und Orchester.
Text von D. Michele Sarcone aus der Festa
teatrale "Cerere placata" von Niccolò
Jommelli
Wolfgang Amadeus Mozart
Sinfonie g-Moll KV 550 (1788)
Pause gegen 20:55 | Ende gegen 22:00
Das heutige Konzert wird im Rahmen von GO
PLUS aufgezeichnet. Der Video- und
Audiomitschnitt ist in einigen Wochen auf der
Homepage des Gürzenich-Orchesters unter
http://www.guerzenich-orchester.de/go-plus
verfügbar.
--- Philippe Manoury
--- Francois Xavier Roth
--- Sophie Karthäuser
Um das Besondere an Philipp Manourys Werk "Ring" für großes, im Raum verteiltes Orchester (2015/2016) etwas zu verdeutlichen, will ich zunächst einen Ausschnitt aus seinen Ausführungen hier zitieren:
ZitatPhilippe Manoury: Was ich vorschlagen möchte, ist nicht so sehr die Verräumlichung als Klangeffekt, sonder eine neue Konzeption des Klangs, weniger hierarchisch, weniger "philharmonisch". Wenn ich die Musiker um das Publikum herum platziere, versuche ich nicht, dem eigentlichen Konzert etwas hinzu zu fügen, sonder ein Klangparadigma zu schaffen, das noch nicht ausprobiert worden ist...
Da ich den Saalplan nicht hier hineinkopieren kann, versuche ich das Ganze zu beschreiben:
Die Kölner Philharmonie hat einen kreisähnlichen Grundriss, dabei liegen die Chorempore und die darüber liegenden Balkone halbkreisförmig hinter und über der Bühne und die amphitheaterähnlich ansteigenden Sitzreihen des Parketts der Bühne und den vorgenannten Plätzen ebenfalls halbkreisförmig gegenüber, wobei das Dirigentenpodest etwa im Kreismittelpunkt liegt.
Im unteren Balkonhalbkreis, daran anschließenden zwei großen Einzelbalkonen und hinter den obersten Sitzreihen des Parketts waren nun insgesamt, wenn ich richtig gezählt habe, an zwölf Punkten verschieden große Instrumentengruppen platziert. Hinzu kam auf der Bühne ein Aufgebot von der Größe eines Mozartorchesters, verstärkt durch drei enorme Schlagwerke, denen hinter den obersten zuschauerreihen noch zwei Schlagwerke gegenüber standen. Alles in allem waren es ca. 110 Aktive.
Wie der geneigte Leser schon annehmen mag, bestand der zeitweilige vielschichte "Klang" aus Höchstdynamik pur, ein Umstand, der vor knapp 25 Jahren schärfste Panikattacken bei mir ausgelöst hätte. aber darüber bin ich längst hinweg. Ich konnte dem ganzen entspannt-angespannt folgen.
Es handelt sich um die sogenannte Köln-Trilogie, die 2016 (gestern, vorgestern und Sonntag), 2017 und 2018 uraufgeführt wird. Der gestrige erste Teil dauerte gut 30 Minuten.
Die Aufstellung der von mir genannten Gruppen war durchaus mathematisch und klanglich gut durchdacht und führte zu erstaunlichen Klangerlebnissen, und das Publikum folgte dem ganzen auch, wie ich glaube durchaus fasziniert.
An manchen Stellen schien der Komponist auch eine Brücke zur Vergangenheit zu bauen, nicht nur durch das zentral aufgestellte "Mozartorchester", das Philippe Manoury auch als "Symbol der Vergangenheit" bezeichnete (wozu der Verfasser etwas anderer Meinung ist). Ich meine die Stellen, an denen die Hörner des "Mozartorchesters" durchaus melodischen Klang entfalteten, nicht die tumultösen Klangballungen der Blechbläser und Schlagzeuge von locker vier bis fünf Fortestufen.
Als Klangexperiment sehe ich das Ganze ohne Weiteres als gelungen an, glaube aber nicht, dass das eintreffen wird, was der Komponist an anderer Stelle sagte:
ZitatPhilippe Manoury: Müssen wir ad infinitum den hierachisierten "philharmonischen Klang" kultivieren, den uns die Tradtion der Klassik und Romantik hinterlassen hat? Sollte man sich nicht in einer radikal zeitgenössischen Ästhetik ausrücken und endlich jene Codes aufgeben können, die auf die soziale Ordnung von damals bezogen sind? Ist nicht der Augenblick gekommen, neue Klangästhetiken zu erdenken, deren reiche Vielfalt und Kraft gerade aus Verschiedenheit und Vielschichtigkeit entstehen und die, statt das Publikum an der Peripherie zu isolieren, es im Zentrum aufnehmen würden?
Dass nun ausgerechnet der als Kontrapunkt ersonnene Mozart hier angeführt wurde, führt m. E. bei Manoury zu einem Trugschluss, wenn er sagt, dass nach der Pause, wenn sich die Musikergruppen von den Rängen und aus den Gängen verflüchtigt haben, auf der Bühne "das historisch überlebte" Mozartorchester zurückbleibt. Ich möchte ihm zurufen, es sei "das historisch überlebende" Mozartorchester.
Dennoch erleben wir hier etwas Neues, denn die drei von der wunderbaren belgischen Sopranistin vorgetragenen Konzertarien und die vier Sätze der Sinfonie Nr. 40 g-moll KV 550 werden alternierend vorgetragen, was durchaus seinen Reiz hat, wenn auch Puristen darüber die Nase rümpfen mögen.
Alles in allem ein sehr erfüllender Konzertabend, der vor allem vor der Pause auch einen sehr glücklichen Komponisten des monumentalen Uraufführungswerkes gezeitigt hat.
Liebe Grüße
Willi