QUO VADIS, OPERA? - Versuch einer Diagnose des Opernbetriebs

  • Wenn ein Schiff in Schieflage gerät, ist es ratsam, nach den Gründen zu forschen. Das ist zwar noch keine Lösung, aber es hilft bei den Bemühunngen auf der Suche nach ihr. Da ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass diese Schieflage besteht, stelle ich dieses Thema zur Diskussion.


    Vonseiten der betroffenen Theater wie auch der Presse wird das zwar gern in Abrede gestellt und mit Statistiken zu widerlegen versucht. Doch das halte ich für wohlfeilen Zweckoptimismus, der leicht zu durchschauen ist, wenn man einige Einblicke in den Betrieb hat: wenn man z.B. mit Leuten Umgang hat, die die Branche kennen - und zudem seit Jahren Neuproduktionen zu rezensieren hat, um sie in einem Blatt zu veröffentlichen, dessen Ziel nicht Hofberichterstattung ist, sondern größtmögliche faire Beurteilung nach künstlerischen Gesichtspunkten, wie es im Wiener Merker Standard ist.


    Neben fragwürdigen Praktiken bei der szenischen Umsetzung, die hier schon seit langem Thema der Diskussion sind, halte ich die Stellung der Sänger, den Umgang mit ihnen und die Gleichgültigkeit ihrer Karriere gegenüber für dringend einer kritischen Prüfung bedürftig. Die Kriterien, nach denen Partien besetzt werden, sind mit beliebig oft milde beschrieben. Die Frage stellt sich, ob es Unwissenheit und Ahnungslosigkeit in Sachen Gesang - oder einfach Gleichgültigkeit den Sängern gegenüber zugunsten von sachfremden Auswahlkriterien ist.


    Wie wollen wir den Verfall der Urteilfähigkeit seitens des Publikums aufhalten, wenn an verantwortlichen Stellen in den Theatern und bei der Presse ein eklatanter Mangel an diesbezüglichem Sachverstand herrscht? Beim Publikum können immer weniger Kenntnisse von elementaren Voraussetzungen (Stimmfächer, Stimmlagen, Belcanto etc.) vorausgesetzt werden. Sänger sind austauschbar geworden, ohne dass dagegen protestiert wird. In den Pausen sieht man bei simplen Aussagen wie "zu lyrisch" oder "fehlende Tiefe" in fragende Augen, die damit nichts anfangen können.


    Bei Einführungsvorträgen wird vor allem die Handlung ausgebreitet und das Regiekonzept (vorsorglich) erklärt, anstatt die Stimmcharaktere und ihre dramaturgische Bedeutung zu erläutern.


    Ich würde mich freuen, wenn wir über solche Fragen diskutieren könnten. Denn ich bin erstaunt, wie viele kenntnisreiche Experten unter uns sind. Deren Urteile zu hören und auszutauschen, darauf freut sich


    Sixtus

  • Lieber Sixtus, alle noch so energischen Aussortierungen in meinen Bücherregalen und Ablagen haben zwei Dokumente immer überstanden: Ein sehr umfänglicher Beitrag des Musikkritikers Wolfgang Schreiber in der "Opernwelt" mit dem Titel "Als Schaljapin, Caruso, Lotte Lehmann und Richard Tauber sangen ... gab es noch keinen Ärger über Fischer-Dieskau und Birgit Nilsson" sowie das Buch "Die Krise der Gesangskunst" von Wolf Rosenberg. Bei Schreiber weiß ich das Erscheinungsdatum nicht mehr, denn ich habe den Beitrag nur in Kopie. Aus der Erinnerung tippe ich mal auf die 1970er Jahre. Dieskau und die Nilsson waren ja noch auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren. Das Buch stammt von 1968. Beide Autoren gelten als ausgewiesene Kenner der Materie. Interessant ist, dass sie im Rückblick zu ähnlichen Schlüssen kommen wie Du im Mai 2016.


    Was Du beklagst und ziemlich scharf kritisierst, scheint mir kein neues Problem zu sein. Es ist offenbar das Problem jeder Generation. Die nur will es so nur nicht wahrhaben. Das ist kein Vorwurf gegen Dich, das sage ich auch für oder gegen mich. Die von mir aufgeführten Zeugen Schreiber und Rosenberg bestärken mich darin imme wieder. Ich bezweifele scharf, dass früher alles besser war. Es war nur anders. Wir richten unsere ästhetischen Bewertungen offenkundig zu sehr an Konserven aus. Tatsächlich wurde auch in den 1950er Jahren oder zwei, drei Jahrzehnte später fehlbesetzt gesungen. Es gab auch die völlig inakzeptablen Leistungen. Dokumente, die es nicht zur Grammophon oder zur EMI geschafft haben, legen Zeugnis davon ab. Inszenierungen, so nachvollziehbar, waren oft muffig und verdrehten die Wirklichkeit. An den Theatern ging es nicht sonderlich demokratisch zu. In einem folge ich Dir: Es wurde oft besser und genauer gesungen. Mit mehr Ausdruck. Gründgens hat auch besser gesprochen und mit mehr Ausdruck als das heutzutage Schauspieler tun. Nur kann man das nur noch zu Studienzwecken heranziehen.


    Ich sage es ganz offen: Mich bringen die Klagen über die Schlechtigkeit der Welt nicht weiter. Sie machten mich noch älter als ich bin, depressiv und missmutig, wollte ich mich darauf einlassen. Ich lebe heute und jetzt, will kritisch und neugierig bleiben. Wir können Vergangenes mit Staunen bewundern und genießen, was ich unentwegt tue. Es es ist nicht zurückzuwünschen. Es ist vorbei. Wie wir alle wissen, wurde früher nicht nur besser gesungen. :( Die Verhältnisse waren eng, kleinkariert, modrig - und gefährlich. Es gibt keine nur gute Vergangenheit.


    Das ein paar ganz persönliche knappe Gedanken. Nicht mehr und nicht weniger.


    Herzliche Grüße von Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent


  • Was Du beklagst und ziemlich scharf kritisierst, scheint mir kein neues Problem zu sein. Es ist offenbar das Problem jeder Generation. Die nur will es so nur nicht wahrhaben. Das ist kein Vorwurf gegen Dich, das sage ich auch für oder gegen mich. Die von mir aufgeführten Zeugen Schreiber und Rosenberg bestärken mich darin imme wieder. Ich bezweifele scharf, dass früher alles besser war. Es war nur anders. Wir richten unsere ästhetischen Bewertungen offenkundig zu sehr an Konserven aus.


    :jubel::jubel::jubel::jubel:


    Du sprichst mir aus der Seele, lieber Rheingold. Ich kann mit dem "früher war alles besser"-Gerede nichts anfangen. Es war früher sicher anders, Berwertungsmaßstäbe haben sich verändert, die Anforderungen und Erwartungen an Sänger auch. Mag sein, dass die Gesangskunst nachgelassen hat, wenn man bestimmte Kriterien für dieses Urteil zugrundelegt, die aber auch nicht in Stein gemeißelt sind. Dafür ist nach meinen Maßstäben vieles heute besser, zum Beispiel das szenische Element. Wenn ich mir so manches Video-Dokument aus vergangenen Opern-Zeiten anschaue, dann möchte ich dahin weiß Gott nicht zurück. Ich fühle mich wohl in meiner Zeit, ich erlebe regelmäßig wunderbare Opernaufführungen, und ich liebe die Oper so, wie ich sie heute zu sehen und zu hören bekomme. Daher habe ich keinen Grund, nostalgisch in eine Zeit zurückzublicken, in der ich nicht mal geboren war.



    Wie wir alle wissen, wurde früher nicht nur besser gesungen. :( Die Verhältnisse waren eng, kleinkariert, modrig - und gefährlich. Es gibt keine nur gute Vergangenheit.


    Wie wahr. In der Zeit, in der meine Eltern lebten, würde ich um keinen Preis der Welt mein Leben verbringen wollen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Lieber Rheingold,
    danke für diesen fundierten Beitrag, den ich im Grunde vollständig unterschreiben kann.


    Vielleicht hätte ich meinen einleitenden Text nochmal korrekturlesen sollen. Dann wäre mir aufgefallen, dass ich ihn dahingehend ergänzen muss: Nicht früher war alles besser (da war anderes sogar schlechter!); aber inzwischen sind die Akzente besonders deutlich von der Musik zum Optischen verschoben worden - auf Kosten dessen, was das Zentrum der Gattung ausmacht: des Gesangs.


    Mit Schieflage meine ich, dass sich der Schwerpunkt verschoben hat, von der Oper als Gesangskunstwerk zum Musiktheater - ein unscharfer Begriff, der die Gattung nicht mehr so scharf nach außen abgrenzt, wodurch die Beliebigkeit einsickern kann. Ich frage mich da schon manchmal, wie lange die Oper diese Marschrichtung noch verträgt, ohne (um im Bilde zu bleiben) zu sinken.


    Die von dir zitierten Experten kenne ich gut. Ich bin weit davon entfernt, sie (oder auch Kesting) auf einen Sockel zu stellen. Aber ihre Thesen manchmal zu rekapitulieren, kann nicht schaden.


    Dass es auch heute eine Fülle exzellenter Sänger gibt, habe ich ja schon öfters mit Emphase beschrieben. Ich glaube nur, dass sie heute unter Bedingungen arbeiten müssen, die zunehmend prekärer werden. Und, was noch schwerer wiegt: Der Anteil der Kenntnisreichen im Publikum hat auffallend abgenommen.


    Wenn die Differenzen zwischen den Teilnehmern an diesem Thread weiterhin so marginal bleiben, werde ich sicher nicht depressiv werden. In diesem Sinne


    herzliche Grüße von Sixtus

  • Eins ist heute sehr viel besser als früher, sowohl von den Orchestern wie von den Sängern: die frühen Opern! Ich nenne nur Monteverdi, Cavalli und Händel. Hier haben wir auch die Vergleiche, etwa Leppard bei Cavalli und etwa René Jacobs. Bei Wagner und der italienischen Oper mag es bei den Sängern hapern, wie ich das hier oft lese. In der Alten Musik gibt es großes Angebot an tollen Sängern, vor allem Sopran, Counter, Bässe; Alt und Tenor weniger. Auch hat die beklagte Verschiebung vom Musikalischen zum Optischen in der Alten Musik nicht stattgefunden.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Lieber Rheingold, vielen Dank für deinen Beitrag. Heute Abend werde ich in eine Oper gehen, wo es wahrscheinlich bei Sängern und der Inszenierung nichts zu meckern gibt, und zwar in den Rosenkavalier in der Otto Schenk Inszenierung.

  • Ich bin zwar kein "kenntnisreicher Experte" aber ich bringe das Leichtgewicht meiner Meinung mal trotzdem hier ein ;-)


    Neben fragwürdigen Praktiken bei der szenischen Umsetzung, die hier schon seit langem Thema der Diskussion sind, halte ich die Stellung der Sänger, den Umgang mit ihnen und die Gleichgültigkeit ihrer Karriere gegenüber für dringend einer kritischen Prüfung bedürftig. Die Kriterien, nach denen Partien besetzt werden, sind mit beliebig oft milde beschrieben. Die Frage stellt sich, ob es Unwissenheit und Ahnungslosigkeit in Sachen Gesang - oder einfach Gleichgültigkeit den Sängern gegenüber zugunsten von sachfremden Auswahlkriterien ist.


    Naja, was verstehst du denn genau unter Gleichgültigkeit?
    Ich denke, dass der Wettbewerb vielleicht etwas härter geworden ist (aber das war er doch früher sicher auch, sehr hart oder etwa nicht?), wie überall in der Musikbranche. Von CD-Verkäufen kann man heute als Sänger schwer leben, man denke einmal kurz an Youtube. Alleine was ich in den letzten Tagen gehört habe schädigt den Herrn Kaufmann und Frau Garanca finanziell beträchtlich.
    Und Live-Auftritte, wovon die Oper ja bekanntlich lebt sind auch kostspielige Angelegenheiten sowohl für die die es produzieren und erst recht für die, die sich besuchen. Die meisten bekannten Opernhäuser sind doch auf Subventionen aufgebaut...Das da dann was die Sänger betrifft ein harter Wettbewerb herrscht, bei dem auf Teufel komm raus der größte Zuschauermagnet genommen wird anstatt des besten Sängers ist verständlich wenn es auch nicht in Ordnung ist.
    Was die Unfähigkeit der Presse betrifft kann ich dir nicht ganz zustimmen. Wenn ich die Qualitätsblätter aufschlage verstehe ich als Anfänger in der Oper und klassischen Musik oftmals nur Bahnhof was es dann schwer macht Kritiken zu verfolgen, wenn also eine Zeitung mal ein wenig reißerischer schreibt bin ich da durchaus dankbar, damit auch ich zur Gänze verstehe was der Kritiker ausdrücken möchte.
    Was die Boulevardblätter betrifft so sind diese wieder eine ganz eigene Geschichte, anstatt irgend ein barbusiges Popsternchen (wovon die meisten eh nicht singen können) auf die Titelseite zu schmeißen und spannende Fragen zu stellen wie: Ist sie schwanger?Single?Ein Mann? wäre es mir auch lieber wenn sie Jonas Kaufmann auf das Titelblatt bringen aber das wird halt leider nicht gemacht, ist nun mal so.



    Wie wollen wir den Verfall der Urteilfähigkeit seitens des Publikums aufhalten, wenn an verantwortlichen Stellen in den Theatern und bei der Presse ein eklatanter Mangel an diesbezüglichem Sachverstand herrscht? Beim Publikum können immer weniger Kenntnisse von elementaren Voraussetzungen (Stimmfächer, Stimmlagen, Belcanto etc.) vorausgesetzt werden. Sänger sind austauschbar geworden, ohne dass dagegen protestiert wird. In den Pausen sieht man bei simplen Aussagen wie "zu lyrisch" oder "fehlende Tiefe" in fragende Augen, die damit nichts anfangen können.


    Woher soll man das denn auch wissen? Jemand wie ich z.B.? Ich sitz mittlerweile auf der Uni und in meiner gesamten Schullaufbahn haben wir zwei Opern gehört und Referate zu den Komponisten gemacht.....Das wars auch schon und ich bin mir ziemlich sicher, dass es vielen Leuten in meinem Alter und darüber hinaus ähnlich geht.
    Wenn dann also jemand neben dir in der Oper sitzt und mit Begriffen wie "fehlende Tiefe" nichts anfangen kann sei mal nichts ganz so streng ;-)
    Stattdessen fände ich es eher toll, dass sich die Leute egal ob mit mehr oder weniger Verständnis in die Oper setzen und Puccini, Rossini und Mozart lauschen.
    Das Verständnis kommt denk ich mit der Zeit, ich kenne jetzt auch schon mehr Aufnahmen als vor einem Jahr, mehr Sänger, mehr Orchester, mehr Dirigenten.
    Von manchen Symphonien, Arien habe ich schon die verschiedensten Sachen gehört und bin trotzdem erst ganz am Anfang. Aber mein Horizont ist auf jeden Fall schon größer geworden (auch dank dieses Forums hier) und ich habe den festen, idealistischen Glauben, dass das auch bei anderen der Fall ist. Vielleicht hast du ja wenn du von "zu lyrisch" sprichst jemand mit "fragenden Augen" dazu inspiriert sich mit den Begriffen auseinander zu setzten? Mich schon ;-)


    Lg. Traubi

    Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst; sie liegt in unserem Herzen eingeschlossen

    .

  • Lieber Bertarido, leider ist dein Beitrag vor meiner Erwiderung auf den von Rheingold eingegangen. Sonst wäre er vielleicht weniger aggressiv ausgefallen. Wenn du meinen zweiten Text auch gelesen hast, wird sich dein Zorn hoffentlich etwas gelegt haben. .


    Was ich mit diesem Thread ansprechen will, ist keine Nostalgie-Debatte. Aber ich habe seit längerer Zeit Erfahrungen gemacht, die mich beunruhigen. Sie lassen sich so beschreiben:
    Es gibt eine Tendenz (wahrscheinlich ausgelöst durch die visuellen Medien), die Optik zu begünstigen und die akustischen Aspekte zu vernachlässigen - oder zumindest zu vergröbern. Das betrifft nicht nur die Oper. Im Schauspiel wird mehr genuschelt und geschrieen, weil man "authentisch" sein will. Das färbt auch auf die Oper ab. Aber da passt es noch weniger hin, weil es zulasten der Musik geht, besonders des Gesangs. Weil Oper einen höheren Grad von Stilisierung verlangt. Wer singt noch im Sterben? Aber in der Oper wird es aus guten Gründen verlangt. Und genau diese (eigentlich lebensferne) artifizielle Stilisierung geht dadurch verloren - zuerst im Theater, dann beim Publikum.


    Auf diese Entwicklung will ich hinweisen. Früher hat es andere Defizite gegeben. Aber das ist vorbei. Die heutigen rechtzeitig zu beschreiben, ist, denke ich, legitim. Wenn Defizite nicht thematisiert werden, besteht die Gefahr, dass sie sich verfestigen. Eine Debatte darüber kann also nicht schaden.


    Herzliche Grüße an alle Interessierten


    von Sixtus

  • Lieber Traubi, erst grade habe ich deinen Beitrag entdeckt.
    Ich muss aber jetzt wegfahren. Morgen komme ich gern auf deine Einwände zurück.
    Tschüs, bis bald!
    Sixtus

  • Tut mir leid, dass ich jetzt drei Beiträge hintereinander belege; aber manchmal ergibt es sich so, dass sich etwas dazwischen schiebt und die Reihenfolge durcheinander wirbelt. Und das Folgende ist mir jetzt wichtig.


    Lieber Traubi, es freut mich, dass du offenbar mächtig Feuer gefangen hast in Sachen Oper. Auf deinen gestrigen Beitrag, den ich nicht mehr beantworten konnte, will ich jetzt eingehen. Dreierlei scheint mir dabei besonders erklärungsbedürftig:


    Mit Gleichgültigkeit gegenüber den Sängerkarrieren meine ich, dass Theaterleitungen besonders junge Sänger, die sich noch nicht wehren können, weil sie noch nicht fest im Sattel sitzen, für Partien einsetzen, für die sie nicht - oder noch nicht - geeignet sind. Sie werden einfach "verheizt", also ohne Rücksicht auf ihre stimmliche Entwicklung eingesetzt, damit der Laden läuft. Diese Fälle häufen sich bedenklich.


    Was die mangelnden (und wie ich glaube, abnehmenden) Kenntnisse im Publikum betrifft, so nehme ich das den Betreffenden nicht etwa übel (am wenigsten interessierten jungen Leuten wie dir!). Jeder fängt mal an, sich etwas zu erobern, und das geht nicht alles auf einmal. Aber wenn es schon in den Schulen kaum noch Informationen auf diesem Gebiet gibt, müssten die Dramaturgen bei Einführungsveranstaltungen nicht nur hochgestochene Vorträge halten, sondern die Besucher dort "abholen", wo sie stehen, nämlich teilweise fast bei Null. Und das geschieht zu wenig. Kein Wunder, dass Oper vielen als unverständlich oder abgehoben gilt.


    Schließlich die Presse: Ich spreche nicht von der Boulevardpresse. Grade in den anspruchsvolleren Zeitungen wimmelt es in den Feuilletons von unverständlichen, wissenschaftlich daherkommenden, aber nichtssagenden Auslassungen, die Neuproduktion wird als spannendes Musiktheater beschrieben, und für die Musik, besonders die Sänger, bleiben ein paar nichtssagende zeilen übrig. Also Werbung statt Information. (Ich nenne das Hofberichterstattung.) Ausnahmen gibt es, aber das ist fast die Regel. Deshalb beschrieb Karl Kraus das Feuilleton "Locken auf einer Glatze drehen" - und das hat sich weiter zugespitzt.


    Das sind die Defizite, die ich mal wieder ins Gedächtnis rufen wollte - und über die es sich in einem Opernforum zu sprechen lohnt (wo sonst?).
    Ich hoffe, lieber Traubi, damit deine Fragen einigermaßen zufriedenstellend beantwortet zu haben, und wünsche dir für die nächste Zeit viel schöne Opernerlebnisse!


    Herzliche grüße von Sixtus

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  • Wir sollten doch erst mal froh sein, wenn die Jugend überhaupt in die Oper geht. Gestern war ich in Duisburg in einem hervorragenden Rosenkavalier, Bericht folgt später, und es war wie fast die ganze Spielzeit eine gute Mischung aus jungem und älteren Publikum. Wenn ich mich an meine Anfangszeit erinnere, waren im Rosenkavalier oder bei Wagner nur ein Publikum ab 50 Jahren aufwärts. Bei den Sängern gibt es Unterschiede, je nach dem ob sie freischaffend tätig sind, oder im Ensemble singen. Die Ensemble Sänger können sich leider nicht aussuchen, was sie singen, bei den freischaffend tätigen kommt es darauf an, ob sie einen guten Agenten bzw. Gesangslehrer haben, die ihre Karriere vorsichtig planen.

  • Die Ensemble Sänger können sich leider nicht aussuchen

    Das stimmt so auch nicht ganz, selbstverständlich muss das Ensemblemitglied mit der angebotenen Rolle einverstanden sein. Die Leitung wird ihn zu übeerden versuchen, aber wenn er sich standhaft weigert und als Begründung anführt, dass das nicht sein Fach sei, wird er die Partie nicht singen. Dann gibt es die Möglichkeit einer Überprüfung vor dem Bühnenschiedsgericht, wo immer noch das Opernhandbuch von Kloiber eine wichtige Rolle spielt, aber in der Regel verzichtet die Theaterleitung auf einen solchen Weg, wenn sich der Sänger weigert. Dann kann es natürlich passieren, dass sein Vertrag bei nächster Gelegenheit nichtverlängert wird, und insbesondere an den kleinen Häusern und in den kleinen Ensembles ist der Druck, auch mal etwas fachfremdes singen zu müssen sehr groß, aber weil du gerade von Rheinoper sprachst: die haben ein riesiges Ensemble und ein ziemlich großes Repertoire: da kann sich das Ensemblemitglied schon aussuchen, welche Rollen es singt, der Vertrag erstreckt sich nämlich häufig genug nur über 30 Abende pro Spielzeit, sodass der Einzelne mitunter nur 3, 4 oder 5 Rollen pro Spielzeit sind - die dann häufig genug auch noch doppelt oder dreifach besetzt sind. In solch einem Ensemble ist der Druck auf den einzelnen Sänger bei weitem nicht so groß - und die oben von dir zitierte Aussage trifft dort so nicht zu. Der Sänger nennt Wunschpartien, das Haus nennt Partien, in den es ihn einsetzen will - und dann findet man einen Kompromiss.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die zuletzt angesprochene Thematik Fehlbesetzungen und juristische Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, ist im Zuge allgemeiner Verrechtlichung entstanden, um den Missbrauch zu begrenzen. Ob es für junge Sänger klug ist, sich auf ihre Rechte zu berufen, ist eine andere Frage.


    Dass die Theaterleitungen versuchen, ihr bestehendes Personal auszuschöpfen, um teure Gäste zu sparen, ist verständlich. Und es gibt noch andere Gründe für solche Praktiken, die aus alter Tradition herrühren:


    Kleinere Stadttheater hatten einst Strukturen, die einem Familienbetrieb nahe kamen. Es gab noch viele Sänger, die vor allem belastbare, gute Gesangshandwerker waren. Die ließen sich flexibel einsetzen, also in mehreren Fächern, und die Fächer waren noch nicht so spezialisiert abgegrenzt. Ein Max musste und konnte auch Tamino singen, die Agathe auch Pamina, vielleicht mehr schlecht als recht. Es gab im Haus einen seriösen Bass und einen Bassbuffo usw. Aber die Gesangsausbildung war darauf eingestellt, dass derlei verlangt wird. Wer das nicht konnte, musste sich mit Nebenrollen begnügen.


    Auch auf hohem Niveau hat das Spuren hinterlassen: Caruso sang auf Platten alles vom Radames bis zum Nemorino. Letzterer war vielleicht etwas üppig im Ton, aber es hatte trotzdem Klangqualität, weil die erforderliche Technik die Stimme färben und bändigen konnte. Durch die zunehmende Fächerung, also Spezialisierung, ging diese Vielseitigkeit mehr und mehr verloren. Die Spezialisten waren aber nicht mehr so vielseitig einsetzbar. So ist es bis heute. Und deshalb gibt es immer wieder diese Machtkämpfe, bei denen dann meist junge Sänger am kürzeren Hebel sitzen - und sich verheizen lassen.


    Hinzu kommt ein verschärfter Konkurrenzdruck. Eine Karriere muss schnell steil ansteigen, sonst verliert der Manager das Interesse und lässt den Sänger fallen. Als es noch nicht so viele Medien gab, hatte man solche Sorgen noch nicht. Ich sage nicht, dass das besser war (die meisten Karrieren blieben in der Provinz stecken!). Aber heute ist beim Scheitern die Fallhöhe größer.


    So viel aus meiner Sicht zu diesem Thema.


    Herzliche Grüße von Sixtus

  • Oper heute heißt: Internationalität, Event, Startheater und progressives Regietheater. Das entspricht in Teilen den Erwartungen des heutigen Publikums. Doch die Opernfreunde sind gespalten, weil eine breite Besucherschicht mehr an der Tradition orientierte Inszenierungen und Aufführungen möchte. Allein daraus ergibt sich, dass die pauschale Aussage "früher war alles besser" verallgemeinender Unsinn ist. Auch die Oper muss mit der Zeit gehen und sich an zum Teil geänderte Erwartungen des Pubikums, der Fachwelt und den Medien anpassen. Viel Veränderung löste Herbert von Karajan aus, der die Oper internationalisierte und technisierte. Damit förderte er eine Entwicklung, welche die damals übliche Ensemblestruktur der Opernhäuser weitgehend auflöste. Daraus resultiert die eingangs erwähnte Veränderung der Opernwelt. Eines ist sicher, dass in der "Familie" Ensemble Sänger behutsamer wachsen konnten und mit weitgehend und ständig zusammenwirkenden Sängern eine geschlossenenere sängerische Gesamtleistung möglich war. Berühmte Beispiele sind das Ensemble der Dresdner Staatsoper, das legendäre Wiener Mozartensemble usw.. Heute in dieser Form nicht mehr möglich und daher ruhmreiche Vergangenheit. Heute gibt es sogar an kleineren Häusern spektakuläre Vorstellungen mit großen Stars, die nach den Eröffnungsvorstellungen wieder weg sind und es bietet sich der Theateralltag mit einer oft recht zusammengewürfelten Sängermannschaft, die ohne große Probenzeit übernehmen muss. Wäre allerdings die Internationalisierung nicht gekommen, hätten wir Sängerinnen und Sänger wie Tebaldi, Freni, Callas Nilsson, Corelli, di Stefano, Bastianini, Gobbi, Christoph usw. nie so oft auf deutschsprachigen Bühnen -besonders an der Wiener Staatsoper - erleben können. Also die Diagnose dieser komplexen Problematik ist vielschichtig und m. E. nur sehr schwer möglich.
    Ich werde falls, mir die Zeit reicht, denn ich ersaufe im Moment in Arbeit, einen anderen Aspekt einbringen und das ist die wirtschaftliche Situation von Sängern und Musikern in Deutschland. Diese sieht in weiten Bereichen erschreckend und trostlos aus.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber "Operus", sei bedankt für deinen wunderbaren Beitrag, dem eigentlich nicht viel hinzuzufügen ist, außer vielleicht, dass die Ensembleleistung der Staatsoper Dresden (wie auch natürlich die der Staatsoper Berlin) viele eindrucksvolle Abende ohne "Star"-Importe auch noch in Zeiten ermöglichte, die du vermutlich nicht mehr meinst, nämlich bis in die 1980er und frühen 1990er Jahre hinein. Was nicht heißt, dass nicht ab und an doch mal ein "Star" importiert wurde. ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Auch von mir vielen Dank lieber Operus. An der Rheinoper erlebe ich ja auch immer sehr gute Aufühungen ohne Star Sänger, und viele singen mindestens genauso gut, wie ihre Promi Kollegen. Und manche werden dann zu bekannten Sängern wie Hans Peter König.

  • Auch von mir vielen Dank lieber Operus. An der Rheinoper erlebe ich ja auch immer sehr gute Aufühungen ohne Star Sänger, und viele singen mindestens genauso gut, wie ihre Promi Kollegen. Und manche werden dann zu bekannten Sängern wie Hans Peter König.


    Gott sei Dank formt meistens immer noch der Weg von unten oder die Ochsentour, also Opernstudio, Provinzbühne, mittleres Haus und dann erste Spitzenengagements Sänger mit stabiler, bleibender Karriere. Hans-Peter König ist dafür ein Musterbeispiel. Die gemachten und gepuschten Marketing-Karrieren sind dagegen oft nur schnelll verglühende Fixsterne.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich traure auch immer noch dem Ensemble-Theater nach, weil ich in Düsseldorf in den 70ern erlebt habe, wie kreativ das sein kann und auf welch hohem Niveau musiziert wurde, auch wenn man die Sänger kaum kannte. Grischa Barfuß als Intendant, Georg Reinhardt als Regisseur (dazu noch Bohumil Herlischka und Jena Pierre Ponnelle), Heinrich Wendel mit seinen traumhaft schönen Bühnenbildern, dann natürlich die Dirigenten Erede, Arnold Quennet, Peter Schneider, Hans Georg Ratjen, Günter Wich. Das war schon eine der besten Truppen in Europa. Heraus kamen damals die beiden Zyklen der Monteverdi-Opern und der sensationelle Janacek-Zyklus; auch der zweite Janacek-Zyklus unter Stein Winge konnte dem ersten Zyklus, mindesten von der Regie her, das Wasser nicht reichen. Manchmal denke ich, dass wir dahin wieder zurück müssen. Einige Provinzhäuser machen es ja vor, auch wenn das aus finanzieller Not geboren ist. Da gehe ich mit Rodolfo übrigens einig, der das auch so sieht.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die letzten Beiträge zeichnen ja ein (berechtigt!) erfreuliches Bild davon, was auch heute an Positivem möglich ist. Ich kann den kurzen, prägnanten Abriss der jüngeren Geschichte des Opernbetriebs, den Operus gezeichnet hat, aus meiner Sicht voll bestätigen.


    Wir dürfen aber nicht vergessen, dass manches in der letzten Zeit auch vernachlässigt und weniger gepflegt wird. Besonders wenn die Premieren vorüber und die prominenten Gäste abgereist sind (und die Presse nicht mehr zuschaut!), tut sich manches Loch auf, das stillschweigend inkauf genommen wird: Fehl- und Unterbesetzungen von Hauptpartien mangels genügend qualifiziertem Personal, vorzeitiges Verheizen hoffnungsvoller junger Sänger.


    Dass dergleichen möglich ist und vom Publikum geschluckt wird, ist (ich wiederhole mich!) einer schwindenden Zahl von Besuchern geschuldet, die dagegen protestieren. Und das tun sie nicht, weil sie weder in den Schulen noch im gesellschaftlichen Leben genügend Kenntnisse mitbekommen, was die Gattung Oper überhaupt ist.


    Der heute gebräuchliche Name "Musiktheater" kann alles oder nichts bedeuten. Er meint jedenfalls nicht das, was die Meisten von uns unter Oper verstehen: eine genuine Gattung, bei der der mehr oder weniger virtuose Gesang im Zentrum steht. Und dieser Trend kann nur gestoppt werden, wenn es genügend Leute im Publikum gibt, die einen hohen Standard einfordern.


    Es ist eine Art Teufelskreis: Weder die Bildungseinrichtungen noch die Aufführungsstätten legen genügend Wert auf den singenden Menschen auf der Bühne. Einer schiebt es auf den andern, und so gerät es mehr und mehr in Vergessenheit. Und wer dieses Problem anspricht, wird von den Meisten als exotischer Vogel einsortiert. Meine ernst gemeinte Frage: Können wir den Trend überhaupt noch aufhalten - und wenn ja, wie?


    Kaum jemand von uns dürfte eine Patentlösung parat haben. Aber wenigstens ein diesbezügliches Problembewusstsein wäre dringend nötig. Einen Beitrag dazu könnten wir leisten. Aber wie?


    Über praktikable Vorschläge sehr erfreut wäre


    Sixtus

  • Zitat

    Zitat von Operus: Oper heute heißt: Internationalität, Event, Startheater und progressives Regietheater.

    Lieber Hans,


    erst einmal vielen Dank für diesen Beitrag.
    Von den von dir genannten Kriterien kann ich nur eines positiv bewerten: Internationalität.
    Die drei muss ich negativ bewerten:
    Event: Es ist schade, dass es heute fast keine gescheiten Operninszenierungen mehr gibt, sondern alles zum Event herabgewürdigt wird.
    Startheater: Das ist es doch, weswegen viele Leute manchen Unsinn in Kauf nehmen. Die meisten Inszenierungen, die Ich im Leben erlebt habe, waren Ensembletheater ohne berühmte Stars. Und mir hat vieles besser gefallen bzw. die Sänger waren ähnlich gut wie die, um die heute soviel Wind gemacht wird. Ich benötige keine Stars, habe nie diesem Kult gehuldigt, sondern eine vernünftige Inszenierung!
    Regietheater (soweit man darunter nur die gegenüber dem Original gegenüber entstellten Inszenierungen versteht, wie der Begriff ja allgemein verstanden wird). Meine Meinung und die Meinung vieler hier kennt ihr und ich will sie hier nicht wiederholen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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  • Oper heute heißt: Internationalität, Event, Startheater und progressives Regietheater.


    Mit Verlaub, lieber operus, heißt Oper heute (zumindest ist Deutschland) auch: Ambitionierte Produktionen an kleinen Häusern in Ensemble-Besetzung von teilweise hervorragender Qualität.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ich hatte zwei total gegensätzliche Erfahrungen hier in Münster, wo ich ja noch nicht so lange wohnhaft bin. Da gab es erst eine Matinee (ohne Eintritt) zu Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" mit dem Regisseur und Intendanten, dem Dirigenten und Bühnenbildner. Es gab Aufführungen dabei u.a. mit Songs aus der Dreigroschenoper und von Eissler. Das Regieteam war äußerst publikumsfreundlich. Das Publikum selbst war sehr interessiert. Ich hatte einige Flyer für ein Wagner-Buch mit - die wurden mir aus der Hand gerissen, ich hätte noch mehr mithaben können. Da habe ich gedacht: Das ist ja wirklich sehr schön. Dann kam die Premiere und der große Schreck: Das Publikum war hoffnungslos überaltert - Altersdurchschnitt etwa 70. Keine jungen Leute, keine Studenten auf den leeren 7 Euro-Plätzen. Einen vereinzelten etwa 14jährigen konnte man sichten an der Hand von Papa! Und in der Pause: Da ich an diesem Abend alleine war, habe ich "Mäuschen" gespielt und gelauscht, worüber die Leute sich so unterhalten. Wiederum die einzige Ausnahme: Ein älterer Herr am Stock fragt einen anderen: "Wie fandest Du >Mahagonny< im Vergleich zur Dreigroschenoper?" Ansonsten hörte man nur banalsten Alltag, Kaffeekränzchen-Gespräche nach der Art von Lieschen Müller, die mal in die Oper geht. Das Regieteam hatte sich den Spaß erlaubt, "Steckbriefe" auszuhängen "Wanted "Dreieinigkeitsmoses""... Davon wurde einfach keine Notiz genommen. Da bin ich vom Konzert aus Bielefeld ganz Anderes gewohnt. Selbstverständlich unterhält man sich über die Aufführung und die Musik, noch beim Nachhausegehen und Durchqueren des Oetker-Parks hört man intensive Gespräche über Mahlers Instrumentierung. Beim Münsteraner Opern-Premierenpublikum dagegen hatte man das Gefühl, dass man ihnen jede beliebige Oper hätte vorstellen können, ob Zauberflöte, Mahagonny oder sonst was, für den Stoff an sich gibt es null Interesse, nur "irgendeine" schöne Oper muß es sein, man will einen schönen Opernabend, was da gespielt wird, ist völlig egal. Also Interesse für die Oper als Kunstform: schlicht nicht vorhanden.


    Mir haben die Künstler in diesem Fall leid getan. Das komplette Ensemble liebt dieses Stück, sie haben sich unglaublich viel Mühe gegeben, das liebevoll bis ins Detail ausgearbeitet und insgesamt sehr ästhetisch. Warum sind bei einem solchen Brecht/Weill-Stück nicht Leute, die sonst eher ins Theater als in die Oper gehen, rübergekommen? Es ist ja begrüßenswert, wenn diese Rentnergeneration, die noch wirklich Geld hat (zukünftige werden vorhersehbar in die Armutsfalle tappen) hilft, unser Theatersystem am Leben zu erhalten. Aber ich würde dann doch gerne eine Oma fragen: Warum nehmen Sie nicht mal ihren Enkel an die Hand und schleifen ihn mit ins Opernhaus? Meine prägende Erfahrung in der Jugend war die Düsseldorfer Rheinoper - was Dr. Pingel schreibt, kann ich nur voll bestätigen. Das war einfach toll - ich habe nicht eine einzige Aufführung erlebt, die ich bereut hätte. Meine Eltern machten es richtig: Sie hatten über Jahre ein Opern-Abbonnement. Wenn es Doppelungen gab, oder einer der beiden nicht wollte, haben sie uns Söhne geschickt. So haben wir doch ein großes, breites Repertoire kennengelernt - von Monteverdi bis Janacek, Reimann und Schönberg. Es muß eine gesunde Mischung von alt und jung geben, sonst stirbt das Musiktheater. Das macht mir doch Bauchschmerzen. In der nächsten Saison gibt es als Premieren in Münster u.a. Händel und den "Freischütz" :D . Das habe ich natürlich schon fest eingeplant, auch die Matinees vorher. Vielleicht spreche den Intendanten mal wegen dieser Eindrücke an.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich freue mich, lieber Hoger, über deinen detaillierten Bericht. Er bekräftigt das, was ich regelmäßig bei Premieren erlebe, über die ich Rezensionen schreibe.


    Das Premierenpublikum besteht ja großenteils aus Leuten, die ein Premieren-Abo haben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es vorwiegend alte Leute sind. Welcher junge Mensch hat schon ein Premieren-Abo? Das ist eher ein Luxus für Etablierte. Aber leider heben sich die Premierenbesucher nicht nur positiv von den anderen Abonnenten ab. Den meisten scheint der Pausensekt das Wichtigste zu sein - und die Garderobe und das Gesehenwerden.


    Die Gesprächsthemen in den Pausen, die ich zufällig mitbekomme, drehen sich fast ausschließlich um Alltag, Klatsch und Tratsch. Und wenn dann von jemandem, der wegen der Aufführung gekommen ist, etwas zur Sache gefragt oder gesagt wird, herrscht betretenes Schweigen, wie wenn sich der Betreffende im Ton vergriffen hat. Man findet das, was "in unserem Theater" auf der Bühne geboten wird, zunächst mal in Ordnung (zumindest solange keine extremen Schweinereien geboten werden). Theater einschließlich Oper wird als Dienstleistung wahrgenommen, Auseinandersetzung damit eher als Störung oder Zumutung. Mit Kunst will man sich schmücken!


    Nun könnte man meinen, das sei bei Klassikern wie Zauberflöte anders. Doch da sind die Unterschiede minimal. Oper wird vor allem wahrgenommen im Sinne von "Man gönnt sich ja sonst nichts!" Das wird sich vermutlich erst ändern, wenn der Nachwuchs vollends ausstirbt. Dann ist das Parkett nicht mehr weißhaarig, sondern leer. (Es sei denn, den entscheidenden Machern fällt etwas Wirksames ein.)


    Dass es sich auch positiv verändern kann, können wir nur wünschen. Es gibt natürlich auch Initiativen wie die löbliche Gottlob-Frick-Gesellschaft, die im kommenden Oktober den Schwerpunkt Sängernachwuchs thematisiert. Aber wer thematisiert den Publikumsnachwuchs?


    Uns stehen also große Aufgaben bevor: die Lehrpläne der Schulen ausmisten, um Platz für Kultur zu schaffen? Ich höre schon das laute Geschrei derer, denen dabei etwas weggenommen wird...


    Für weitere Vorschläge offen ist mit herzlichen Grüßen


    Sixtus

  • Premieren sind sicher nicht repräsentativ für den Opernalltag, insofern, lieber Holger, ist das Publikum in Münster bei einer normalen Vorstelllung wahrscheinlich durchwachsener. Wobei ich sagen muss, dass bei den doch recht zahlreichen Premieren, die ich in München und Berlin besucht habe, auch nicht nur die Generation 70+ präsent war - vielleicht hat Münster hier eine besondere Altersstruktur. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Premierenkarten geht ja ohnehin als Freikarten an Journalisten, Kollegen, Politiker, Freunde und Förderer. Insofern sind durchaus auch Sachkundige und Interessierte im Publikum. Aber natürlich sind Premieren auch immer ein gesellschaftliches Event, das Leute anzieht, denen es mehr auf Sehen und Gesehen werden und den Smalltalk in der Pause ankommt als auf die Musik. Aber das war in anderen Zeiten genauso, oder glaubt jemand, dass Adel und gehobenes Bürgertum im 19. Jahrhundert primär der Musik wegen in die Oper gegangen sind?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • An der Rheinoper ist es mittlerweile so, daß auch bei Premieren sehr viel junge Leute da sind, die auch ganz locker gekleidet sind. Aber bei Stücken wie Ariadne auf Naxos oder Il trittico von eigentlich bekannten Komponisten, sind die Häuser nur zur Hälfte besetzt. Die Frage müsste sein, wie man das normale Abo Publikum für unbekannte Werke begeistern kann. Für die Rheinoper habe ich auch ein Premieren Abo für beide Häuser und die restlichen Vorstellungen im Repertoirebetrieb suche ich mir nach den Besetzungen aus.

  • Heilbronn scheint in Sachen Kultur eine Ausnahmestellung einzunehmen. Theater, 2 hervorragend besuchte Orchester mit festen Abonnementreihen. Was erstaunlich ist, die Einführungsvorträge vor den Aufführungen sind immer rappelvoll. Beim Heilbronner Sinfonie Orchester ist der große Saal mit 2000 Plätzen immer gut zur Hälfte besetzt. Also höchstes Interesse an der Materie. Am Ende des Konzerts und in der Pause wird allerdings abgespannt und dementsprechend kommuniziert. Da ist dann oft das Kleid oder ein vollendetes Dekolleté der Solistin wichtiger als ihre Leistung. Ich bin ganz offen, auch ich sitze jetzt lieber im nahegelegenen Brauhaus, als jetzt noch fachzusimpeln.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Mit Verlaub, lieber operus, heißt Oper heute (zumindest ist Deutschland) auch: Ambitionierte Produktionen an kleinen Häusern in Ensemble-Besetzung von teilweise hervorragender Qualität.


    Ja, lieber Michael, ambitionierte Aufführungen an kleineren Häusern und die steigende Anerkennung ihrer Produktionen besonders auch in der Meinung prägenden "Opernwelt" nähren die Hoffnung, dass Sänger wenigstes über den Zyklus der Auführungsperiode eines Stücken zusammenbleiben und geschlossenere Leistungen abliefern, als ein ständig neu zusammengestelltes Ensemble. Kleinere Bühnen sind auch nach wie vor die beste Kaderschmiede für gut ausgebildeten Sängernachwuchs.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • . . . heißt Oper heute (zumindest ist Deutschland) auch: Ambitionierte Produktionen an kleinen Häusern in Ensemble-Besetzung von teilweise hervorragender Qualität.


    Das möchte ich auch unterstützen. Und nicht nur heutzutage. Meine Erinnerungen an die Stadttheater sind durchweg positiv. Sicher gehe ich recht in der Annahme, das einige von uns ihre erste Opererfahrungen an Stadttheatern gemacht haben, Erfahrungen, die nun schon - je nach Alter - lange halten. Ich bin dafür sehr dankbar. Sie müssen ja etwas wichtiges zuwege gebracht haben, das diesen Grundstock legte.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Uns stehen also große Aufgaben bevor: die Lehrpläne der Schulen ausmisten, um Platz für Kultur zu schaffen? Ich höre schon das laute Geschrei derer, denen dabei etwas weggenommen wird...


    Wer ist "uns", lieber Sixtus? Was ist Kultur? Du scheinst von einem Bildungsauftrag auszugehen, der sich stark überlebt hat. Was unterscheidet denn die Lehrpläne von "früher" zu heute? Was sollte denn wer wie "ausmisten"? Was wurde 1960 oder 1980 gelehrt, was nun zu vermissen ist? Haben wir denn unsere Leidenschaft für Musik und unser diesbezügliches Wissen in der Schule gelernt? Hat uns ein Lehrer beigebracht, wo die Unterschiede zwischen Brahms und Reger liegen, warum Sibelius so lange Zeit verkannt gewesen ist oder warum der Caruso ganz objektiv besser singt als Hans Hopf? Im Einzelfall wird es solche Beispiele geben. Wenn ich an meinen eigenen Musikuntgerricht zurück denke, hätte der ehr abschreckend wirken müssen, wäre ich nicht viel früher angesteckt gewesen. Der Weg der Begeisterung für Kunst und Kultur führt nach meiner Überzeugung nicht durch Lehrpläne. Hingerissensein lässt sich nicht so einfach mal lernen in der dritten Stunde. ;) Ich denke gern über solche Sachen und Gründe nach. Der Gedanke an die Schule hielft mir dabei leider nicht weiter.


    Die Schüler von heute müssen Dinge lernen für ihr Leben und ihren Job, die ich nicht mehr lernen möchte. Die wollen aber auch nicht unsere Stoffe lernen. Darauf wette ich!


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ein wichtiges Thema, und ein vermutlich endloses dazu. Viele ist gesagt worden, an eine Bemerkung möchte ich gern anknüpfen.


    Zitat Rheingold1876

    Zitat

    Haben wir denn unsere Leidenschaft für Musik und unser diesbezügliches Wissen in der Schule gelernt? Hat uns ein Lehrer beigebracht, wo die Unterschiede zwischen Brahms und Reger liegen, warum der Caruso besser singt als Hans Hopf? Im Einzelfall wird es solche Beispiele geben.


    Das ist, lieber Rheingold, sicher eine wichtige Frage, die ich für mich definitiv verneinen kann. Mein Musikunterricht der Schule war gut, aber er hatte die Aufgabe, verschiedene Musikkulturen anzusehen, von Klassik bis zum Techno. In diesem Sinne war er ein guter Unterricht. ehr kann und sollte die Schule keineswegs leisten (müssen), denn das würde eine allzu große Verengung darstellen. Rheingold hat zu recht gefragt "Was ist Kultur?". Auch wenn wir gern hätten, dass der Klassik mehr Platz eingeräumt wird, muss man anerkennen, dass sich dies im Sinne des Bildungsauftrages nicht realisieren lässt. Es zu verlangen, stellte eine weitere Forderung an die Schule, die sie nicht erfüllen kann. Schule ist sicher die wichtigste Bildungsinstitution, aber nicht die einzige. Und das ist auch gut so. Und erzwingen lässt sich ohnehin nichts. Wer sagt uns denn, dass es erfolgreich wäre, Klassik einen höheren Stellenwert einzuräumen. es kann doch nur darum gehen, Angebote zu schaffen, Hemmungen abzubauen (ich erinnere mich an einen "lebhaften" thread zur Kleidung in Oper und Konzert) und ein wenig darauf zu vertrauen, dass sich die Klassik durchsetzt. Diesbezüglich sollten wir positiv gestimmt sein, die Musikrichtung wird ja nicht ohne Grund mit diesem Begriff belegt, der etwas zeitloses impliziert. Vielleicht hilft hier ein wenig Grundgelassenheit und Aktionismus gegen einen gefühlten "Untergang" führt am Ende im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu demselben?
    Ich weiß es nicht, will den Gedanken aber dennoch einmal zur Diskussion stellen.
    Beste Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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