Sir Neville Marriner in Wien — Gluck, Mozart, Beethoven (Konzerthaus, 27.04.2016)

  • Konzerthaus Wien, Großer Saal
    Mittwoch, 27. April 2016, 19.30 Uhr


    CHRISTOPH WILLIBALD VON GLUCK: Ouvertüre zu "Iphigenie in Aulis" (1774)
    WOLFGANG AMADEUS MOZART: Klavierkonzert Nr. 12 A-Dur KV 414/385p (1782)
    LUDWIG VAN BEETHOVEN: Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92 (1811/12)


    Paul Lewis, Klavier
    Wiener KammerOrchester
    SIR NEVILLE MARRINER, CH, CBE



    Dass dies ein ganz besonderer Konzertabend werden würde, war bereits vorauszusehen gewesen. Der Grund hierfür war ohne Frage der Dirigent Sir Neville Marriner, der vor wenigen Tagen seinen 92. Geburtstag hatte feiern dürfen. Gegen Marriner, die lebende Legende, musste auch ein so großartiger Pianist wie Paul Lewis ein wenig verblassen. Eröffnet wurde das Konzert mit der eher selten gespielten Ouvertüre zur Oper "Iphigenie in Aulis" von Gluck. Dies erwies sich gewissermaßen als Glücksfall für den Auftakt, zeigte sich anhand dieses Stückes, wie wirkungsmächtig und zukunftsträchtig dieser heute etwas vernachlässigte Komponist doch eigentlich war. Dem Wiener KammerOrchester (so die Eigenschreibweise) gelang ein mitreissender Auftakt. Der ewig jugendliche Sir Neville war zuvor flotten Schrittes zum Podium geeilt und wusste durch ein impulsives Dirigat, das trotzdem niemals Gefahr lief, den Dirigenten zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen, diese Ouvertüre mustergültig darzubieten. Als nächstes folgte das Klavierkonzert Nr. 12 von Mozart. Hier nahm sich Marriner naturgemäß noch mehr zurück und stellte bewusst den fast ein halbes Jahrhundert jüngeren Paul Lewis ins Zentrum. Auch dieser erreichte ein Mehr durch weniger und verbat sich jede unpassend erscheinende Selbstdarstellung. Für eine solche bot sich dieses recht frühe Mozart-Klavierkonzert freilich auch nicht wirklich an. Lewis traf durch einen sehr behutsamen, gefühlvollen Anschlag den Charakter dieses Werkes hervorragend. Seine Darbietung wurde vom Publikum sehr positiv aufgenommen. Es folgte eine kurze Zugabe, die ich leider nicht identifizieren konnte (evtl. Chopin?). Das Publikum war auch hiervon angetan. Mit viel Beifall wurde Paul Lewis in die Pause verabschiedet.


    Der eigentliche Höhepunkt folgte im zweiten Teil: Beethovens Siebente, ein so häufig dargebotenes Werk, dass man es bereits in- und auswändig zu kennen scheint. Sir Neville Marriner belehrte das Wiener Publikum eines Besseren. Mit einer schier unglaublichen Vitalität begann er bereits den Kopfsatz und forderte dem Wiener KammerOrchester besonders im Vivace einiges ab. Ein auf Sicherheit bedachtes Dahinplätschern war dies jedenfalls ganz und gar nicht. Die Blechbläser, speziell die Hörner, spielten regelrecht ums Überleben, da Marriner nicht gewillt schien, ihnen eine Verschnaufpause zu gönnen. Die Feurigkeit, die bereits im 1. Satz erzielt wurde, habe ich so ganz selten gehört. Quasi attaca ging es in den langsamen Satz, der hier gar nicht so langsam, eher schreitend vonstatten ging, was Beethovens Grundidee wohl nahekam. Die wunderbare Akustik des Wiener Konzerthauses trug dazu bei, dass Dynamiksprünge zwischen leise und laut sehr unmittelbar spürbar wurden. Im fetzigen Scherzo, das Marriner ebenfalls ohne auch nur den Anflug eines Päuschens anschließen ließ, wurde durch exzellente Akzentuierung eine Wirkung erzielt, die einen zunehmend und unweigerlich in seinen Bann zog. Wieder attaca schloss sich der berühmte Finalsatz an, der nicht nur zum absoluten Highlight dieses Konzertes, sondern zu einer der intensivsten Live-Erfahrungen meines bisherigen Lebens werden sollte. Sir Neville schlug ein geradezu unbarmherziges Tempo an, das einen selbst aus der Geborgenheit des Konzertsessels mitriss. Stellenweise war mir, als hörte ich diesen Satz zum ersten Male. Spätestens jetzt wurde klar, was für ein genialer Dirigent da gerade auf dem Podium stand. Marriner legte sich dermaßen energisch ins Zeug, dass man als Zuhörer stellenweise Angst haben musste. So etwas habe ich tatsächlich noch nie erlebt und werde es auch so schnell nicht vergessen. Ultrapräzise die Schlagtechnik des Maestro, die mir noch beim Zuhören unglaublich vorkam. Die Orchestermusiker wurden durch den Elan dieses Mannes sichtlich zu Höchstleistungen angespornt, Orchester und Dirigent verschmolzen idealtypisch zu einer Einheit. In der Coda legte Marriner noch einen Zahn zu und steigerte die Spannung ins Unermessliche. Einen Augenblick war es mir fast so, als kippte er vornüber ins Orchester, so geradezu akrobatisch agierte er da. Die letzten Sekunden waren so aufgeladen, dass man es nicht in Worte fassen kann. Absoluter Wahnsinn.


    Kaum war der Schlusstakt verklungen, brandete ein Beifallsturm auf, den ich live so auch noch nicht erlebt habe. Applaus noch und nöcher, Bravo-Rufe aus allen Richtungen. Der Beifall wollte nicht abnehmen. Dreimal kam Sir Neville Marriner zurück zum Podium. Offenbar hatte der 92-Jährige erst jetzt seine Belastungsgrenze erreicht, hatte er doch das komplette Konzert stehend dirigiert. Beim dritten Abgang nahm er den Konzertmeister mit, dem Publikum andeutend, dass es nun doch genug sei. Überhaupt nahm er den Applaus lieber im Kollektiv mit dem Orchester entgegen und bewies auch hier typisch britisches Understatement. Ein wirklich großartiges Live-Erlebnis, das leider Gottes nicht aufgezeichnet wurde (ich machte eine Anfrage diesbezüglich). Im Oktober wird, so Gott will, ein Wiedersehen mit der englischen Dirigentenlegende möglich, da Marriner im Goldenen Musikvereinssaal u. a. die "Hebriden"-Ouvertüre von Mendelssohn und Mozarts 39. Symphonie Es-Dur mit "seiner" Academy of St Martin in the Fields dirigieren wird. Dann hoffentlich auch mit nachfolgender Rundfunkübertragung.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • "Die Presse" veröffentlichte jetzt auch eine sehr positive Rezension zu diesem Konzert.


    "Ein perfekter Mozart und ein Beethoven ganz ohne Dampfwalze mit dem unverwüstlichen Sir Neville Marriner, dem poetischen Solisten Paul Lewis und dem famosen Wiener Kammerorchester."


    "Wer die Augen schloss, hätte diese vor Frische sprühende, so leichtfüßig und elastisch daherkommende 7. Beethoven (ganz ohne Dampfwalzen-Anmutung im vierten Satz) wohl eher einem Jungdirigenten zugeschrieben."


    Über Paul Lewis: "Mit einem ungemein weichen Anschlag streichelt er die Töne förmlich aus den Tasten heraus, ohne dabei allerdings an Substanz zu verlieren."


    Die Zugabe war übrigens Schuberts Allegretto in c-Moll.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Heute erreichte mich per email ein Leserbrief, der zum entsprechenden Abend folgendes anmerken wollte:


    Wir sehen hier, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können, und fernerm daß wir auch aussergalb des Forums gelesen werden, Schade nur daß sich einige doch eher aufs Mitlesen beschränken, statt mitzumachen, was der Klassikszene als Ganzes sicher dienlich wäre....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !