1. Belehren und unterhalten
„Genießen Sie das Genussfreie!“ – scherzte Intendant und Regisseur Ulrich Peters vor einem gut gelaunten Publikum, dass zur Matinée im Foyer des Münsteraner Stadttheaters anlässlich der bevorstehenden Premiere von Brecht und Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny erschienen war, wo neben der Einführung in Werk und Inszenierung viel Musik von Brecht, Weill und Eisler dargeboten wurde. Was das Regieteam wie auch die anwesenden Sänger und Darsteller geradezu ansteckend verbreiten konnten, war die pure Freude am Theater und Lust am Spiel. Brecht-Theater ausgerechnet, das Freude in die Oper bringt? Liest man die bitterböse Kritik von Christoph Irrgeher, die er in der „Wiener Zeitung“ am 15.12. 2012 zur Aufführung an der Wiener Staatsoper zu genau dieser Brecht/Weill-Oper verfasste, dann müsste einem vor dieser Premiere Bange werden in der bösen Erwartung einer nachösterlichen „Marter“ von Brechtschem Lehrstück, was allen Spaß aus der Oper vertreibt:
„...Nur macht Engagement noch keine große Kunst. Im gegebenen Fall sogar eher plumpe. Wollte Brechts episches Theater nicht zu kritischem Denken anleiten? Das Dauer-Moralfinger-Schwingen in >Mahagonny< degradiert das Publikum zur Manipulationsmasse.“
Soll das Brecht-Theater auf der Opernbühne nun Spaß machen oder keinen Spaß machen? Brecht selbst hat darauf die Antwort gegeben in einer brieflichen Klarstellung:
„Ähnlich verhält es sich mit dem Gegensatz, in dem in meinen Ausführungen sich das belehrende Element mit dem unterhaltenden befinden soll. In Wirklichkeit habe ich nicht den geringsten Grund, von einer der beiden Diderotschen die Kunst beherrschenden Konstituanten Unterhaltung und Belehrung abzugehen.“
In den von Brecht erwähnten „Ausführungen“ hatte es bereits geheißen:
„Warum ist >Mahagonny< eine Oper? Die Grundhaltung ist die der Oper, nämlich kulinarisch. Nähert >Mahagonny< sich dem Gegenstand in genießerischer Haltung? Es nähert sich. Ist >Mahagonny< ein Erlebnis? Es ist ein Erlebnis. Denn: >Mahagonny< ist ein Spaß.“
Was also nun? Ist das nun „Dauer-Moralfinger-Schwingen“ oder großer „Spaß“ – oder gibt sich das Brecht-Theater vielleicht etwa masochistisch?
Brecht spielt an auf die französische Tradition des 17. und 18. Jhd., das „plaire et instruire“, eine Übersetzung des Horazschen „prodesse et delectare“:
Aut prodesse uolunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere uitae. („Die Dichter schreiben entweder um zu gefallen, oder um zu belehren, oder um beides gemeinsam zu tun.“)
Das instruierende, „belehrende“ Element kommt zudem aus der rhetorischen Tradition. Gemäß den „Aufgaben des Redners“(officia oratoris) unterscheidet die lateinische Rhetorik drei Arten, wie die Rede auf das Publikum wirken soll: durch das „Belehren“ (docere), das Erfreuen, also die Bereitung von „Vergnügen“ (delectare) sowie die „Rührung“, welche starke Affekte im angeredeten Publikum hervorruft (movere).
Wie Diderot und die französische, aufgeklärte Dichtung will Brecht mit Horaz nicht entweder belehren oder Vergnügen bereiten, sondern akzentuiert das „simul“, „um beides gemeinsam zu tun“.
Aber wie geht dies nun damit zusammen, dass Regisseure aus der Brecht-Schule, wie etwa Peter Konwitschny, offenbar gar keinen Spaß verstehen, wenn es um ein vergnügungssüchtiges Opernpublikum geht, das – mit Brecht – nichts will als genießen, die reine „Abendunterhaltung“ sucht und entsprechend die uneingeschränkte Erfüllung dieses Bedürfnisses in der „kulinarischen Oper“? Bernd Weikl „empört“ sich über den Kulturnotstand des sogenannten „Regietheaters“, die „Schocks“ gerade auch der Brechtschule:
http://www.epochtimes.de/feuil…zensbildung-a1317130.html
Er zitiert:
„Barbara Beyer im Vorwort zu „Warum Oper?“ Alexander Verlag Berlin. 2005. Spätestens seit 1968 habe man sich von der überalterten Ästhetik einer als bürgerliches Kulturgut verachteten Oper verabschiedet und das sogenannte Regietheater an deren Stelle gesetzt. Jetzt bedürfe es gezielter Provokationen und der bewussten Irritation von Denk-, Seh- und Hörgewohnheiten. (...)
„Albrecht Puhlmann im Vorwort: „... man muss bewusst so pointiert formulieren, um deutlich zu sehen, dass immer neue Schocks und ungeahnte Experimente zur weitgehenden Entfremdung eines genussorientierten und aufbaubedürftigen Publikums führen; ... (denn) wenn man die Oper als exterritoriales Gebiet betrachtet, wo man sich wohlfühlt und das wiedererkennt, was man schon vor Jahren gesehen hat, dann würde dies das Ende der Oper bedeuten.“
„Peter Konwitschny: „Ich habe etwas gegen diese Opernpathetik und mag es auch, diesem konservativen Publikum etwas ins Gesicht zu schleudern ...“ und weiter S. 36: „Wer die Bühne missbraucht, um dort für viel Geld schöne, perfekte Töne zu singen, ist asozial. Ich verstehe da keinen Spaß ..“ S. 39 Von Frau Beyer als Frage an Konwitschny: „Aber es gefällt einem doch nicht, was Sänger machen“.“
Die Schocks, das Provozierende und das Provozieren, spielt nun in der Opernästhetik Brechts in der Tat eine entscheidende Rolle. Brechts Theater will vor allem die „genießerische Haltung“ des genussorientierten Opernpublikums verändern. Dies geschieht in einem Kreisgang der Provokation: Den Künstler provoziert zunächst der Amoralismus der „kulinarischen Oper“ und seines hedonistisch eingestellten Publikums, das nicht anderes will als reine Unterhaltung. Diesem schrankenlosen Hedonismus begegnet die Kunst wiederum durch das „Belehren“, eine Zumutung von Moral auf der Theaterbühne, was dann wiederum das Publikum provoziert.
Beim Klassiker Friedrich Schiller war, so Weikl, die Theaterwelt noch in Ordnung, denn Schiller habe gemeint, nicht der Künstler belehre das Publikum, sondern umgekehrt das Publikum den Künstler, und zwar darüber, dass Lustprinzip, den Genuss, als das Höchste der Theaterkunst zu achten:
„... Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, dass das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht das Publikum herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die Künstler – hier Regiekonzepte (Einfügung von Weikl) - gefallen.“
„Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuss verschafft.“
Durch geschickte Auslassung hat Weikl jedoch den Sinn von Schiller glatt in sein Gegenteil verkehrt. Warum verfällt nach Schiller nämlich die Kunst (der Satz geht dem von Weikl zuerst zitierten unmittelbar voraus):
„Das Würdigste setzt er (der Dichter) sich zum Ziel, einem Ideale strebt er nach, die ausübende Kunst mag sich nach den Umständen bequemen.“
Die Kunst „verfällt“, wenn sie ihr Höchstes, das moralisches Interesse nämlich, verliert, einem „Ideal“ nachzustreben und sich statt dessen nur nach „den Umständen“ bequemt, d.h. Theater rein nach aufführungspraktischen Erwägungen fabriziert. Und es ist auch klar, warum bei Schiller nun das Publikum eine solche Kunst an ihre eigentliche „idealische“ Aufgabe, die sie vergessen hat, erinnern kann. Denn Schiller hat nicht wie das Brechtsche Theater das spätmoderne, selbstzufriedene Opernpublikum im Blick, das nichts als „Abendunterhaltung“ will, sondern ein aufgeklärtes Bürgertum mit emanzipatorischem Interesse, das auf der Bühne gerade „belehrt“ werden will, nach der „moralischen Weltregierung“ sucht, die es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dem sich auflösenden Feudalismus, nicht findet. So heißt es bei Schiller, der Zuschauer
„... will, wenn er von ernsthafterer Natur ist, die moralische Weltregierung, die er im wirklichen Leben vermißt, auf der Schaubühne finden.“
Auch das Problem der „Provokation“, dass sich die Kunst im Widerspruch mit der Haltung und den Bedürfnissen des Zuschauers befindet, taucht bei Schiller auf. Denn nicht nur die Kunst und der Künstler, sondern auch das Publikum kann nach Schiller das „Idealische“, die Moral, vergessen, wenn es nämlich einzig und allein das Vergnügen in der Unterhaltung sucht. Weikl hat auch hier sinnentstellend das Entscheidende gekürzt. Vollständig lautet die Passage:
„Der Unternehmer will bestehen, der Schauspieler will sich zeigen, der Zuschauer will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er und ist unzufrieden, wenn man ihm da eine Anstrengung zumutet, wo er ein Spiel und eine Erholung erwartet.
Aber, indem man das Theater ernsthafter behandelt, will man das Vergnügen des Zuschauers nicht aufheben, sondern veredeln.“
Der moralische Anspruch des Theaters ist „anstrengend“, wenn der hedonistisch eingestellte Zuschauer, der nichts anderes als unterhalten werden will, eben nur nach dem reinen Genuss als dem Höchsten strebt – mit Kant gesprochen auf der Schaubühne nicht die „moralische Weltregierung“, sondern lediglich „eudämonistisch“ eine Vergnügungsanstalt sucht. Hier bekommt das Theater dann die Aufgabe „das Vergnügen des Zuschauers nicht aufzuheben, sondern (zu) veredeln“ – „Veredelung“, da spielt Schiller auf sein humanistisches Programm einer „ästhetischen Erziehung“ durch die Kunst an. Schon bei Schiller findet sich also die Intention, welche auch das Brecht-Theater beseelt, das Genießen nicht abzuschaffen, den Genuss vielmehr durch die „Belehrung“, d.h. die Vermittlung von moralischem Sinn, von einem unvernünftigen zu einem vernünftigen zu machen.
Nur wenn man den Schluss der entsprechenden Schiller-Passage nicht einfach wegkürzt, wird deutlich, was Schiller eigentlich im Sinn hat:
„Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.“
Schiller endet hier keineswegs, wie Weikls Auslassung suggeriert, mit dem Genuss als höchstem Ziel, vielmehr mit seinem Gedanken eines ästhetischen Spiels, in dem sich alle Gemütskräfte vereinen, Vernunft und Sinnlichkeit, Moral und ästhetischer Genuss, statt gegeneinander zu spielen, harmonisch zusammenwirken. Auch bei Schiller also geht es letztlich um das Horazsche „prodesse et delectare“, darum, im freien „Spiel“ „beides gemeinsam zu tun“, zu vergnügen und zu belehren.
Es ist nun auch klar, warum aus der Schillerschen „Veredelung“ des Unterhaltungsbedürfnisses des Zuschauers bei Brecht eine Provokation wird: Das aufgeklärte emanzipierte Bürgertum will sich von der Kunst erziehen lassen, das hedonistische spätbürgerliche Opernpublikum dagegen, was nur das „Kulinarische“ einer „Abendunterhaltung“ sucht, erfährt genau diesen Erziehungsanspruch von Kunst als Zumutung, als „Manipulation“ (Irrgeher), weil es in seiner Selbstzufriedenheit um jeden Preis bei seiner Haltung reinen, durch keine anstrengende Moralisierung gestörten entspannten Genießens bleiben will. Wiederum mit Schiller wird aber deutlich, warum eine solche Provokation eben keine „Verhöhnung“ des Publikums ist. Das Sinnbild des hedonistischen Genießers im Theater ist bei Brecht der Zigarrenraucher, der damit letztlich sich selber unwürdig macht. Die Provokation, der Schock, „verhöhnt“ ihn deshalb gerade nicht, er gibt dem Genießer vielmehr seine Würde zurück, indem er den Genuss „veredelt“ mit der Zumutung eines moralisch-erzieherischen Anspruchs. Denn die Würde des Menschen ist – wiederum mit Schiller – nichts anderes als seine erhabene moralische Gesinnung. Entweder der Zuschauer bringt sie durch ästhetische Erziehung immer schon selbst mit ins Theater oder er wird durch Provokation im Theater dahin gebracht.
Doch wie geht die „Belehrung“ auf dem Theater vor sich? Verbreitet ist offenbar die Vorstellung, dass Brecht so etwas wie der „Moraltrompeter von Säckingen“ ist, als den Friedrich Nietzsche einst den Moralisten Schiller karikierte. Ist es also wirklich so, dass der Autor Brecht im >Mahagonny< als imaginärer Übervater mit einem übergroßen Megaphon über die Bühne läuft und ständig und überall lauthals aufdringlich seine Lehre verkündet?
Bei Cicero (De oratore) enthält das „Belehren“ (docere) ein Doppeltes, einerseits das „Dokumentieren“ von gerichtsrelevanten Fakten als auch das „Argumentieren“. In Brechts Konzeption einer „epischen Oper“ dominiert offenbar das „Dokumentieren“. Es geht um eine „Sittenschilderung“ nach Brecht, von „subjektiven Moralisten“ auf der Bühne, die sich selbst beschreiben. Also nicht der Autor Brecht belehrt im >Mahagonny< das Publikum, sondern das Stück belehrt, indem die Figuren auf der Bühne sich so beschreiben, wie sie sind: provozierend amoralisch. Brecht selbst bringt zur Erläuterung das Beispiel des Vielfrasses, der sich zu Tode frisst. Hier wird nicht „argumentiert“, eine moralische Lehre ausposaunt, sondern zur Reflexion angeregt. Dem Zuschauer, der nach Genuss sucht, wird wider Willen ein schlechtes Gewissen gemacht: Draußen vor dem Theater verhungern Menschen und hier frisst sich ein Genussmensch zu Tode.
Die „Belehrung“ bei Brecht, sie ist also alles andere als die Indoktrination eines Parteiprogramms, vielmehr sokratische Mäeutik: Lehren als Anleitung zum Selbstlernen. Ein „Gewissen“ zu bekommen kann kein Lehrer dem Schüler gleichsam „eintrichtern“. Ulrich Peters schloss seine Einführung mit seiner Deutung des Stücks: Das Ende bleibt für ihn offen. Es wird wie Peters es mit Brecht sieht gerade keine Erkenntnis „gegeben“ und das Stück auch so inszeniert: Es bleibt voll und ganz dem Zuschauer überlassen, eine Einsicht zu realisieren. Was das Stück lediglich zu uns sagt und sagen will, ist dieses: Wir müssen mit helfen eine neue Welt zu schaffen, die anders und besser ist als die, welche wir auf der Bühne gesehen haben.
Genau das ist die Lebendigkeit und das nach wie vor Sehenswürdige des Brechtschen Theaters.
Premiere ist am 9.4. Die anderen Termine sind der Webseite zu entnehmen.
http://www.theater-muenster.co…dt-mahagonny-2.html/m=187
Schöne Grüße
Holger