Zugegeben - das ist reißerischer Titel, der wohl nicht nur Holger die Haare zu Berge stehen lässt. Aber von Alfred lernen heißt siegen lernen. Angespielt wird natürlich auf Occams Rasiermesser, nach dem eine Theorie so einfach wie möglich zu sein hat. Hochstaplerisch (preposterous) ist der Titel natürlich auch noch, aber er ist geeignet für eine einfache Überlegung. Der alternative Titel wäre gewesen "Prüfsteine in der klassischen Musik"! Das will doch keiner lesen.
Wie bei mir fast immer, ist es ein "weiches" Thema, d.h. der jeweilige Schreiber kann es mitgestalten, es gibt keine scharfen Grenzen.
Also: es gibt in der klassischen Musik ein Phänomen (jedenfalls bei mir), wonach ein kleiner Patzer, eine kleine Unregelmäßigkeit mir großen Verdruss bringt. Dieser Patzer, dieser Fehler kann bereits in der Komposition (Oper, Sinfonie, Kammermusik) liegen oder aber beim Interpreten. Als Gegenteil zum Patzer ist natürlich auch das optimal Gelungene sehr willkommen. Als Beispiel für eine Trübung in der Komposition nenne ich mal die 9. Sinfonie von Dvorak, deren Schluss ich für sehr misslungen halte, das gleiche gilt für Dessaus Verhör des Lukullus, die für mich in einem undefinierten Lärm endet. Das Rasiermesser sagt dann "Weg damit", nur ist das bei Kompositionen nicht so einfach.
Leicht ist das Rasiermesser anzuwenden bei missglückten Interpretationen. Da ist "Weg damit" gut umzusetzen, wie unser Thema "Frisch entsorgt" ja beweist.
Nun das erste Beispiel, damit alles ganz klar wird. Helmut Hofmann in seinen Analysen der Mahlerschen Lieder hat mir theoretisch klar gemacht, was ich praktisch immer schon wusste, nämlich dass Mahler die meisten Lieder, auch die in den Sinfonien, aus des Knaben Wunderhorn entnahm. Er wollte eben keine künstlerischen Gedichte vertonen, sondern die Stimmung einfacher Menschen einfangen. Das bedeutet für den letzten Satz der 4. Sinfonie, das himmlische Leben, zwingend, keine Opernsängerin mit großer Stimme einzusetzen, sondern einen lyrische Sopran mit heller, mädchenhafter Stimme. Ich habe bei jpc nachgesehen; es gibt eine riesige Liste mit Mahlers 4. und bei einigen Sängerinnen kann ich mir schon denken, wie opernhaft das klingt. Mein Grundsatz war immer (jetzt kommt endlich das Rasiermesser): von jeder Mahler 4. höre ich zunächst den 4. Satz. Und entspricht der Sopran nicht diesen hier entwickelten Vorstellungen, lösche ich die Aufnahme, wenn sie aus dem Radio kommt oder kaufe die CD nicht.
Und jetzt fragt man sich vielleicht: ja, gibt es das denn. Ja, natürlich. Ohne CD-Cover nenne ich nur Helen Donath und Lucia Popp. Ich denke, ihr kennt noch mehr davon. Meine Lieblingsaufnahme stelle ich aber im Bild vor:
Das Layout gefällt mir hier gar nicht, denn die Sängerin Ruth Ziesak hätte mehr herausgestellt werden können, auch weil sie anschließend 5 Mahler-Lieder hinreißend singt. Da hätte ich gerne das Rasiermesser... lassen wir das lieber!