Dieser Thread versteht sich als Fortführung der beiden bereits vorhandenen Threads zum Themenkomplex „Mahler-Lieder“:
„Mahler-Lieder – Vol. 1. - Allgemeines und Interpreten“ (Mahler-Lieder - Vol 1. - Allgemeines und Interpreten) und
„Mahler-Lieder – Vol. 2. - Vertonte Texte - Herkunft und Inhalt“. (Mahler-Lieder - Vol 2. - Vertonte Texte - Herkunft und Inhalt)
Sie sind ausweislich ihres Titels auf grundsätzliche und allgemeine Aspekte von Mahlers Liedkomposition ausgerichtet. Hier soll nun versucht werden, das gleichsam zu konkretisieren, unter Beweis zu stellen und möglicherweise auch zu korrigieren, was dort in allgemeiner Weise zur spezifischen Eigenart des Mahler-Liedes ausgeführt wurde. Dazu soll auf seine Lieder in Gestalt einer liedanalytischen Betrachtung derselben eingegangen werden.
Beabsichtigt ist, dies in einer Einlassung auf das gesamte liedkompositorische Werk zu unternehmen. Nur die in den sinfonischen Kontext in besonderer Weise integrierten Kompositionen auf „Wunderhorn“-Texte „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“ (Dritte Symphonie) und „Das himmlische Leben“ (Vierte Symphonie) sollen unberücksichtigt bleiben. Auch nicht in die Betrachtung einbezogen werden soll – zumindest aus jetziger Perspektive - das „Lied von der Erde“. Es handelt sich dabei weniger um einen „Orchesterliedzyklus“, wie der Obertitel ursprünglich lautete, als vielmehr um eine „Symphonie in sechs Sätzen für großes Orchester, Tenor- und Alt-(Bariton) Solo“, als was das Werk ja auch publiziert wurde. Ohnehin existiert ein eigener Thread dazu hier im Forum.
Hinter dem Vorhaben, in diesem Thread auf alle von Mahler in Gestalt von zyklischen und nicht-zyklischen Gruppierungen und gattungsspezifisch als solche deklarierten und publizierten Lieder in Gestalt von Einzelbetrachtungen einzugehen, also keine Aufsplitterung in mehrere werkbezogene Threads vorzunehmen, steht die Absicht, der Entwicklung der Liedsprache Mahlers zu folgen, die Formen und Gestalten aufzuzeigen, die sie in deren Verlauf angenommen hat, dabei der Frage nach den ursächlichen Faktoren, der liedkompositorischen Intention also, nachzugehen und auf diese Weise gleichsam ein Gesamtbild des Liedkomponisten Mahler zu entwerfen. Daraus ergibt sich die innere Gliederung des Threads: Sie soll und muss sich, weil anders das Vorhaben gar nicht eingelöst werden kann, am Prinzip der Chronologie orientieren. Es wird also gleichsam fünf „Kapitel“ geben: „Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit“, „Lieder eines fahrenden Gesellen“, „Lieder, Humoresken und Balladen aus >Des Knaben Wunderhorn<“, „Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert“ und „Kindertotenlieder“.
Konkrete und detaillierte Aussagen zu Mahlers Liedsprache, ihre spezifischen konstitutiven Merkmale, ihre klangliche Eigenart und ihre Entwicklung, insbesondere den Umgang mit dem lyrischen Text betreffend, sollen in den einzelnen Kapiteln erfolgen. Hier nur einige grundsätzliche Anmerkungen zum Thema „Gustav Mahler als Liedkomponist“.
Gustav Mahler war im Kern und im Wesen seines kompositorischen Schaffens Melodiker. Seine Musik, nicht nur das Lied, sondern auch die Symphonie, bezieht ihre Struktur und ihre Aussage aus der Melodie, so dass man in der Mahlerforschung die These vertreten findet, dass Mahlers gesamtes Werk letzten Endes im Lied wurzele.
Arnold Schönberg, einer seiner hellsichtigen, seine Bedeutung als Komponist früh erfassender Bewunderer, hat diesen Sachverhalt in die Worte gefasst:
„Es ist unglaublich, wie lange diese Melodien werden können, obwohl sich dabei ja gewisse Akkorde wiederholen müssen. Und trotzdem entsteht keine Monotonie. Im Gegenteil, je länger das Thema dauert, desto größeren Schwung hat es am Ende; die Kraft, die seine Entwicklung treibt, nimmt mit gleichmäßiger Beschleunigung zu. So heiß das Thema in statu nascendi schon war, schon nach einiger Zeit hat es sich nicht müde, sondern noch heißer gelaufen, und wo es bei einem Anderen längst versiegt und versunken wäre, erhebt es sich erst in höchster Glut.“ („Stil und Gedanke“, S.15)
Mahlers kompositorische Verwurzelung in der Melodie schlägt sich in einem Spezifikum nieder, mit dem er, liedhistorisch betrachtet, zu einem singulären Ereignis wird: Es gibt keinen anderen Liedkomponisten, bei dem die Gattungen „Lied“ und „Symphonie“ in einem derart intensiven und komplexen Verhältnis des dialektischen Austauschs und der wechselseitigen Inspiration stehen. Selbst ein Franz Schubert, seinerseits ein genuiner Melodiker und darin Mahler zutiefst verwandt, reicht, was die Integration des Liedes in Instrumentalmusik betrifft, bei weitem nicht an ihn heran. Diese Wechselwirkung zwischen Lied und Sinfonie ist dabei ein hochgradig komplexer Sachverhalt. Vordergründig begegnet sie als Wiederkehr des Liedes im sinfonischen Werk in Gestalt von integral eingearbeiteten Zitaten melodischer Passagen oder Figuren und der Aufnahme vollständiger Lieder in einzelne Sätze.
In der Tiefendimension, was die Struktur der Liedsprache anbelangt, manifestiert sich diese Wechselwirkung als ein von vornherein konzeptionell orchestraler liedkompositorischer Ansatz selbst dort, wo es um die Gattung „Klavierlied“ geht. In seinem grundlegenden kompositorischen Denken und Handeln bewegte sich Mahler auf eine tatsächlich singuläre Weise im gattungsmäßigen Neben- und Ineinander von Lied und Sinfonie. In zwei Fällen dokumentiert sich dies auf sehr aufschlussreiche Weise. An die Vertonung des „Wunderhorn“-Gedichts „Der Tamboursg´sell“ ging er zunächst mit dem Konzept einer Sinfonie, merkte dann aber, dass die Musik, die daraus hervorging, eher liedmäßig war. Auf der anderen Seite schwebte ihm beim „Lied von der Erde“ ein Zyklus von Orchesterliedern vor. Den ganzen Sommer des Jahres 1908 über arbeitete er unter dieser gattungsmäßig-konzeptionellen Vorgabe daran, sah sich dabei aber immer mehr, wie Alma Mahler berichtet, „zur seiner Urform – zur Symphonie“ hingezogen. Bemerkenswert ist auch: Hinsichtlich der kompositorischen Grundhaltung Mahlers lässt sich eine auffällige Korrespondenz zwischen der narrativ, episch und dramatisch ausgerichteten Liedkomposition der „Wunderhorn“-Zeit und dem zeitgleichen sinfonischen Werk ebenso feststellen wie eine zwischen der lyrisch-artifiziellen „Rückert-Zeit“ und der zeitlich zugehörigen Sinfonik.
Und schließlich gibt es noch einen weiteren Sachverhalt, der Mahlers individuelle Stellung und seinen Rang in der Geschichte des Liedes bedingt. Auch er weist eine gleichsam symptomatische Oberfläche und eine zugehörige Tiefendimension auf. Die „Oberfläche“ stellt seine ganz und gar ungewöhnliche Wahl des Textes als Grundlage und inspirierender Faktor der Liedkomposition dar. Alle seine kompositorischen Zeitgenossen weisen diesbezüglich ein literaturhistorisch breites Spektrum auf, von der klassischen und romantischen bis zur Gegenwartslyrik. Nicht so Gustav Mahler. Seine Textwahl steht in einem auf den ersten Blick wunderlichen Widerspruch nicht nur zu seiner persönlich hochgradigen literarischen Bildung, sondern überdies auch noch zu seinem Anspruch, musikalisch-kompositorische Modernität zu verkörpern. Sieht man einmal von Griffen zu Richard Leander und Tirso de Molina in den „Liedern aus der Jugendzeit“ ab, so nährt sich seine Liedkomposition aus nur zwei Quellen: Den Gedichten aus „Des Knaben Wunderhorn“ und denen Friedrich Rückerts.
Auf die hinsichtlich des Griffs nach dem „Wunderhorn“ und nach Rückert jeweils relevanten Inhalte und lyrisch-sprachlichen Faktoren wird bei der Betrachtung der einzelnen Liedgruppen eingegangen. Hier nur ein Blick auf die zugrunde liegende personale Motivation. Wie bei kaum einem anderen Liedkomponisten sind Mahlers Lieder Selbstbekenntnisse, - und die Wahl des jeweiligen Textes zutiefst personal motiviert. Für die Motive seiner Liedkomposition gilt das, was für sein ganzes Leben als Mensch, Musiker und Komponist gilt: Komponieren, Musizieren und Dirigieren brachten ihn in seinem Selbstverständnis in Berührung mit dem, was er „das Höhere in uns“ nannte. Seine Aufgabe als Künstler sah er darin, existenziell relevante Aussagen über den Menschen und zu machen, und über die natürliche und die gesellschaftliche Welt, in der menschliches Leben sich entfaltet. In einer Studie über ihn (erschienen 1976) hat Karl König ihn deshalb mit guten Gründen einen „geistbesessenen Rufer“ genannt.
Für seinen Griff zum lyrischen Text als Grundlage von Liedkomposition hatte das zur Folge: Nicht der artifizielle Aspekt, die lyrische Aussage in ihrer sprachlichen Gestalt und ihrer Metaphorik, war der maßgeblich motivierende Faktor dabei, es war vielmehr der Grad an unmittelbarer, direkter, also nicht artifiziell vermittelter Aussage über Mensch, Leben und Welt, so wie er sich darin mit seinen eigenen existenziellen Erfahrungen und der daraus hervorgehenden Weltsicht wiederfinden konnte. Daher sein Griff zur Lyrik des „Wunderhorns“. Und von diesem Aspekt der unmittelbaren personalen Betroffenheit durch die lyrische Aussage her wird auch erklärlich, dass er wie kaum ein anderer Liedkomponist in den lyrischen Text eingegriffen hat, - bis hin zu Montagen und eigenen Einfügungen. Für ihn war maßgeblich, dass ein Gedicht „beinahe mehr Natur und Leben … als Kunst“ darstellte. Wunderlicherweise übertrug dieses Urteil, das er über die Wunderhorn-Gedichte fällte, auch auf die Lyrik von Friedrich Rückert, die ja nun in ihrem exzessiv artifiziellen Charakter das absolute Gegenteil zur Wunderhorn-Lyrik darstellt. Darauf wird bei der Besprechung der Rückert-Lieder noch einzugehen sein.
Eine persönliche Anmerkung noch:
Im Unterschied zu einigen anderen Mitgliedern dieses Forums bin ich kein wirklicher Mahler-Kenner. Was ich hier vorlege, ist als das zu nehmen, was es wesenhaft ist: Die Ernte einer Schritt für Schritt erfolgenden Expedition in bislang nur gleichsam aus der Perspektive des Überflugs bekanntes liedmusikalisches Land. Sie war, weil dieses Land ja sehr weit und überaus reich an Formen und Gestalten ist, überaus beglückend und bereichernd. Sie war aber auch begleitet von Erfahrungen des Scheiterns und des Nicht-bewältigen-Könnens der Anforderungen, die sich da stellten.
Aus diesem Grund wäre es höchst wünschenswert, wenn die Präsentation ihrer Resultate eine Begleitung, einen Kommentar, eine Ergänzung und eine Korrektur durch eben jene Mahler-Experten des Forums erführe.