Da ich schon seit einigen Monaten auf Kopfhörer angewiesen bin, begann ich mich für die Möglichkeiten einer natürlich klingenden Stereo-Wiedergabe zu interessieren. Hier kann man nachlesen, dass normale Kopfhörer "im Prinzip kaum funktionieren“. Warum ist das so? Stereo-Aufnahmen sind für das Hören mit zwei Lautsprechern im Raum vorgesehen. Dort dringt an das linke Ohr nicht nur der Schall aus dem linken Lautsprecher, sondern auch der aus dem rechten - etwas zeitversetzt und im höheren Frequenzbereich durch den Kopf gedämpft. Gleiches gilt für den Schall aus dem rechten Lautsprecher. Das Gehirn erzeugt aus diesen Informationen ein Klangbild, das die Instrumente vorne platziert und eine dreidimensionale Lokalisation erlaubt. Dazu kommen noch für den Abhörraum charakteristische Reflexionen. All das fällt beim Kopfhörer weg: an das linke Ohr dringt nur der Schall aus der linken Hörmuschel, an das rechte Ohr nur der Schall aus der rechten. Die gewünschte Lokalisation der Schallquellen ist nicht mehr möglich, die Instrumente scheinen im Kopf zu sitzen, das Klangbild ist unnatürlich. Ausnahmen sind die wenigen Kunstkopf-Aufnahmen, die speziell für das Hören mit Kopfhörern angefertigt wurden.
Was kann man dagegen tun? Die naheliegende Antwort lautet: die Hörsituation über zwei Lautsprecher im Kopfhörer simulieren. Der Terminus technicus ist HRTF = Head-related transfer functions. Dem linken Kanal werden bestimmte Anteile aus dem rechten beigemischt und umgekehrt. Manche Kopfhörerverstärker haben eine solche Crossfeed-Schaltung eingebaut, zum Beispiel die von Meier Audio, wo man auch verschiedene Stärken dieses Effektes einstellen kann. Wenn man wie ich die Musik vom Computer hört, findet man unzählige Crossfeed-Plugins für die gängigen Audio-Player; bei vielen kann man nicht nur die Stärke des Crossfeeds einstellen, sondern auch die Zeitverzögerung und die bedämpften Frequenzbereiche. Ich habe eine größere Zahl dieser in der Regel als Freeware angebotenen Plugins ausprobiert, darunter auch eine Implementation des Meier Audio-Algorithmus, und war mit keinem zufrieden. Stellt man den Crossfeed so stark ein, dass die Klangquellen wirklich nach vorne wandern – man hat beim Hören das Gefühl, der Klang werde nach vorne zusammengefaltet - ,dann verändert sich das Klangbild deutlich, es wird topfiger, enger, die Höhen sind weniger brilliant. Und stellt man den Effekt klein, dann ist zwar die Veränderung des Klangbilds minimal, aber auch die Verbesserung der Lokalisation kaum spürbar.
Mein nächster Schritt war, mich im professionellen Studio-Bereich umzuschauen. Dort werden Effekt-Plugins aller Arten angeboten, die sich in gängige Produktions-Software wie Cubase integrieren lassen. Der am meisten verbreitete Standard dieser Plugins ist VST (Virtual Studio Technology), der zum Glück auch mit Abspielsoftware wie Foobar2000 und Jriver kompatibel ist. Typische Anwendungen von professionellen Studio-Plugins sind das Erstellen von Surround-Mixings, 3-D-Effekte, für die die Klangquellen im Raum herumwandern müssen, oder auch nur das Monitoring solcher Abmischungen mit Kopfhörern, wozu genau das erreicht werden muss, was mich auch als schlichten Hörer interessiert: die natürliche Wiedergabe von Stereo- oder Surround-Quellen mit dem Kopfhörer. Freeware gibt es in dem Bereich naturgemäß wenig, die meisten Plugins kosten mehrere Hundert Euro. Zum Glück wird fast immer eine Testversion angeboten, so dass man nicht die Katze im Sack kaufen muss. Hier bin ich nun tatsächlich fündig geworden. Mein derzeitiger Favorit ist das einige Jahre alte JB VST Plugin Bundle, das nicht mehr gewartet und aktualisiert, dafür aber inzwischen umsonst angeboten wird. Darunter befindet sich ein Plugin namens Isone Pro Surround, welches nach ersten Tests wirklich gut funktioniert. Es bietet umfangreiche Einstellmöglichkeiten, und wenn man es einmal kalibriert hat, erzeugt es einen natürlichen Stereo-Klang über Kopfhörer ohne inakzeptable Verfälschungen des Klangbildes. Seine ganze Stärke spielt es aus, wenn man es mit 5.1-Quellen füttert: es entsteht ein Raumklang, der nicht ganz so gut ist wie bei einem 5.1-Lautsprecher-Setup, aber schon recht nahe herankommt. Ich habe es mit den Surround-Aufnahmen aus dem Hause Tacet getestet, die zum Beispiel die Instrumente eines Streichquartetts auf die vier Lautsprecher FR, FL, SR, SL verteilen, so dass man inmitten der Musiker sitzt. Selbst das funktioniert über Kopfhörer erstaunlich gut.
Ich habe noch einige weitere Plugins gefunden, die ich in der nächsten Zeit testen werde, leider kosten die alle etwas. Aber für eine wirklich überzeugende Lösung wäre ich auch bereit, einen angemessenen Betrag auszugeben.
Was man noch wissen sollte: da hier jeweils beiden Kanälen etwas dazugemischt wird, treten bei hoch ausgesteuerten Aufnahmen, die an 0 dB heranreichen, Übersteuerungen auf (das typische Clipping). Man muss also entweder die Lautstärke vor der DA-Wandlung um einige dB reduzieren (die meisten Profi-Plugins enthalten einen Regler für den Output-Pegel) oder einen Limiter nachschalten, der die Übersteuerungen abfängt.