Der Gabrieli-Faktor - Pracht, Prunk, Protz in der Musik

  • Dies ist eigentlich kein theoretischer thread, was nicht heißt, dass man hier keine klugen Gedanken äußern darf. Auf den ersten Blick verstehe ich unter Pracht eine Qualität eines Gebäudes, Bildes oder Musikstückes, das aus sich selber wirkt. Prunk könnte es werden, wenn der Empfänger es dazu benutzt, sich in besserem Licht darzustellen. Protz heißt wohl, mit falschen Mitteln zu glänzen.
    Ich gehe etwas einfacher vor: Pracht ist in der Musik ein Stück, das ich als Pracht sofort erkenne. Der Schluss von Beethovens 9., von Mahlers 2. oder von Brucknerschen Sinfonien kann man sicher nicht als prachtvoll bezeichnen, was deutlich macht, dass Pracht kein Qualitätsurteil sein kann.
    Der Anlass dieses Themas ist ein zwiefältiger. Einmal habe ich mal wieder meinen lebenslangen Klassiker gehört, von dem ich nie genug bekommen kann: die Marienvesper von Monteverdi, besonders die Nr. 8, "Nisi Dominus" in der adäquaten Interpretation von Ralf Otto. Der zweite Anlass waren die beiden Schütz-CDs von Philipp Herreweghe, einmal die für mich enttäuschenden Musikalischen Exequien.



    Ich habe dieses Stück oft gesungen. Schütz hat bei Gabrieli (Andrea oder Giovanni habe ich gerade nicht parat) gelernt, der diesen prachtvollen mehrchörigen Stil für San Marco erfunden hat. Schon in den ersten Stücken der Exequien muss eine große Fülle herrschen, erst Recht im Teil II (Herr, wenn ich nur dich habe). Die Gabrielis, Schütz und Monteverdi arbeiten gerne mit Doppelchören, die sie dann zu einer gewaltigen Einheit zusammenführen.
    Bei Schützens Schwanengesang (Opus ultimum) ist das Herreweghe großartig gelungen: Schütz aus San Marco in Venedig.



    Auch in der alten Polyphonie gab es solche prachtvollen Stücke, ich nenne hier nur Brumels "Missa et terremoto" oder die Missa "Mille regretz" von Morales. Aber der Durchbruch kam erst mit Gabrieli und Monteverdi. In dieser Zeit entstand auch eine Pracht der vielfachen Chöre, die in San Marco durch viele Emporen möglich war. Hier ist zu nennen die Missa "Ecco sì beato giorno", zu 40 Stimmen, im Agnus Dei sogar zu 60!


    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Hier noch weitere Beispiele. Was Striggio konnte, konnte Tallis auch. So entstand seine berühmte Motette "Spem in alium".


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    Interessant ist, dass dieser Komponist sowohl die intimere Musik ("Lamentationes Jeremiae") "drauf hatte", wie auch die großbesetzte Motette.
    1610 ging Monteverdi den gleichen Weg. Er veröffentlichte zusammen die "Missa in illo tempore" (prima prattica) und die Marienvesper (seconda prattica, siehe dazu mein und Joh. Roehls Thema "Monteverdis prima prattica"). Auf der CD von Maasaki Suzuki sind beide Stücke zu hören.


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    In der alten Musik sind fast immer die Doxologien, das ist der Schluss nach jedem Psalm, besonders prachtvoll: "Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen." Das Amen ist dann meist besonders prachtvoll, so etwa im "Deutschen Magnificat" von Schütz.


    Weitere Beispiele, jetzt ohne Plattentipps: Weihnachtsoratorium Nr. 1, Jauchzet, frohlocket.
    Händel, Hallelujah und Amen aus dem "Messias".


    Ich hoffe auf weitere Beispiele aus späteren Zeiten und vielleicht aus Opern, von denen mir zwei Beispiele einfallen.
    Das eine ist aus "Herzog Blaubarts Burg" von Bartok: die Tür Nr. 5.
    Das andere ist aus Pfitzners "Palestrina": der Auftritt der alten Meister und der Schluss des 1.Aktes, der die Stadt Rom beschreibt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Hallo,
    mit Beispielen halte ich mich noch zurück, vielmehr interessiert mich die Verbindung von Pracht und geistlicher/sakraler Musik.


    Was hat z. B. die Genesis (gleichwohl die mod. Naturwissenschat) mit Pracht zu tun? Ist diese prachtvolle Musik nicht der untaugliche Versuch, das von Menschen nicht zu ergründende, nicht fass- und beschreibbare des Schöpfers, besser der Schöpfung, verständlich zu machen? Steht dahinter nicht der nachvollziehbare Versuch des Klerus (des Zeitgeistes), der Kirche (später den Kirchen) etwas von dieser unermesslichen Kraft/Herrschaft auf sie ausströmen, sie mitbekommen zu lassen? Wenn ich allen "kirchlichen Plunder" weglasse und mich auf die für mich gültige Kernaussage der Bibel konzentriere, dann steht diese Musik in krassem Gegensatz dazu.


    Die gebrachten Beispiele kann ich als Ausdruck des damaligen Zeitgeistes (?) verstehen (?) und diese Musik als emotional auf mich wirkend hören. Ich habe vergleichbare Musik im Regensburger Dom gehört, war emotional dabei und hatte zugleich das ambivalente Gefühl, "eingefangen/umgarnt" zu werden. Ich höre und genieße diese Musik, kann diesen Genuss auch nur dann voll erfassen, wenn ich den Text zu Musik addiere, weiß aber (hinterher?), dass es zu einem Bibelverständnis hinderlich ist (sein kann). Ich übe z. Zt. mit viel musikalischer Begeisterung das Requiem von Mozart, weiß auch, dass ich zu einer brauchbaren Leistung im Chor eine gute Textinterpretation haben muss, die ich - nur für mich - nicht brauche.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Gabrieli im Titel dieses Threads - das verlangt danach, dass seine prachtvolle Musik erwähnt wird. Diese SACD hat es in sich. Für San Rocco in Venedig hat Giovanni Gabrieli diese Musik komponiert, im Mehrkanalverfahren wurde sie dort aufgenommen. Jedes Mal, wenn ich diese Aufnahme höre und die im Raum aufgestellten Chöre mit ihrem Klang mein Zimmer füllen, bekomme ich Hühnerhaut. Paul McCreesh und das Gabrieli Consort & Players sorgen für authentische Aufführungspraxis.



    Wenn seine Musik mit Blechbläsern aufgeführt wird, gestehe ich, bin ich hin und weg. Diese Scheibe mit Aufnahmen aus den Jahren 1959 und 1969 kann mit ihrer Pracht und ihrem Prunk süchtig machen. Neben Gabrieli ist auch Frescobaldi vertreten.


    The Boston Brass Ensemble, The Cleveland Brass Ensemble, The Philadelphia Brass, Power Briggs, Burgin



    Ein Beispiel aus einer anderen Epoche:
    In Peter Tschaikowskys 6. Sinfonie "Pathetique" ist es der dritte Satz Allegro molto vivace, der mit seiner gewaltigen Steigerung ein Amalgam von Pracht und Prunk und Protz ausdrückt. Ein Zuhörer, der im Konzert diese Musik zum e r s t e n Mal erlebt, wird von dieser Musik überwältigt. Jeder, der im Konzert diese Sinfonie gehört hat, wird am Schluss des dritten Satzes wohl schon spontanen Applaus erlebt haben. Auf YouTube habe ich ein Beispiel gefunden. Ich habe oft darüber nachgedacht, was dieser in der Musikgeschichte einmalige Satz, dem ein vom Komponisten nicht offenbartes Programm zugrunde liegt, bedeuten könnte. Drückt er Erfolg, den Weg zum Ruhm aus?
    Der Titel verweist auf die pathetischen Gefühle. Im letzten Satz verschwindet die Musik im Nichts.


    Detroit Symphony Orchestra, Leonard Slatkin



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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928





  • Hallo,
    ich habe diese Aufnahme noch als CBS-LP - dort heißt es: "Erstmals aufgenommen in Venedigs berühmtem Markusdom" (1968/70). Besonders markant die "Stimm"verteilung auf 3 Chöre, 2 gem. Chöre (Gregg Smith Singers und Texas Knabenchor) und den groß besetzten Edward Tarr Bläserchor.


    Eine Klangpracht sondergleichen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Hallo,
    mit Beispielen halte ich mich noch zurück, vielmehr interessiert mich die Verbindung von Pracht und geistlicher/sakraler Musik.


    Was hat z. B. die Genesis (gleichwohl die mod. Naturwissenschat) mit Pracht zu tun? Ist diese prachtvolle Musik nicht der untaugliche Versuch, das von Menschen nicht zu ergründende, nicht fass- und beschreibbare des Schöpfers, besser der Schöpfung, verständlich zu machen? Steht dahinter nicht der nachvollziehbare Versuch des Klerus (des Zeitgeistes), der Kirche (später den Kirchen) etwas von dieser unermesslichen Kraft/Herrschaft auf sie ausströmen, sie mitbekommen zu lassen? Wenn ich allen "kirchlichen Plunder" weglasse und mich auf die für mich gültige Kernaussage der Bibel konzentriere, dann steht diese Musik in krassem Gegensatz dazu.


    Psalm 150 steht auch in der Bibel...
    Ohne Zweifel hat geistliche Musik eine ganze Reihe von Zielen oder Aspekten (und viele von ihnen finden sich in den unterschiedlichen Psalmen): meditative Besinnung, Trost, Verkündigung, aber eben auch Lob und Jubelgesang. (Und in eschatologischer Perspektive bleibt nur das letzte übrig, sollte daher nicht geringer geschätzt werden.)


    Wie prachtvoll das ausfallen soll, war in vielen Kirchen immer wieder hart umstritten; einige puritanische Fraktionen erlauben nur unbegleiteten Gemeindegesang (und sind nicht die Gesänge der russisch-orthodoxen Kirche durchweg a capella?). Der katholische "Mainstream", sowie die lutherischen Protestanten und die Anglikaner haben aber Instrumente in der Kirchenmusik zugelassen und auch prachtvoller Musik oft eine wichtige Rolle eingeräumt.


    Und natürlich wurde das bei Krönungen u.ä. Zeremonien auch mit der Prachtentfaltung weltlicher Herrscher verknüpft.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Ich gehe etwas einfacher vor: Pracht ist in der Musik ein Stück, das ich als Pracht sofort erkenne. Der Schluss von Beethovens 9., von Mahlers 2. oder von Brucknerschen Sinfonien kann man sicher nicht als prachtvoll bezeichnen,


    Warum nicht? Ich vermute mal, dass ein "naiver" Hörer eher die Coda einer Bruckner-Sinfonie oder das Ende von Mahlers 2. oder den Anfang von Mahlers 8. als prachtvoll anerkennt als irgendeine Passage aus den "Musikalischen Exequien" (einem besinnlichen Beerdigungsstück).
    Daher kann "man" diese Stücke/Passagen ganz sicher als "prachtvoll" bezeichnen. Warum soll gerade venezianische Mehrchörigkeit DAS Muster für musikalische Prachtentfaltung sein und nicht "Gründerzeit-Pomp" wie Bruckner, Mahler, Strauss?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Danke für die bisherigen Antworten. Dass die venezianische Mehrchörigkeit hier als Muster auftaucht, hat einfache Gründe, die in meiner Biographie liegen und in meiner gegenwärtigen Beschäftigung mit dieser Musik. Jedes Beispiel darüber hinaus ist mir sehr willkommen. Dass ich Gabrieli nicht erwähnt habe, obwohl er im Titel vorkommt, hat den Grund, dass ich im Augenblick keine CD von ihm habe. Die beiden von moderato erwähnten CDs werde ich mir sofort besorgen. Ausschnitte aus der CD mit den amerikanischen vereinigten Blechbläser kenne ich von früher, das ist "echt der Hammer", wenn ich das mal salopp sagen darf.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Prachtvoll kommt die Musik durchaus auch vor Gabrieli einher. Typischerweise ist dieses Beispiel wie später oft in einem Magnificat angesiedelt, diesmal in einem "Magnificat primi toni" von Tomás Luís de Victoria. Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Raffinesse in der Rhythmik schon die alten Spanier arbeiteten.


    Maßgebliche Aufnahme wie so oft: Jordi Savall mit seiner Gruppe "Hesperion XX", heute "Hesperion XXI".


    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)