Muss man religiös sein, um Sakralmusik zu lieben?

  • Folgender Ausspruch gab den Anstoß für diesen Thread:


    ich sch :!: :!: ße auf alles, was mit Religion zu tun hat, und höre jetzt [...]


    Ich bin zwar ein gänzlich unreligiöser Mensch, glaube an kein höheres Wesen und stehe auch der Kirche als Institution sehr kritisch gegenüber. Trotzdem liebe ich viele, viele Werke, die dem christlichen Glauben ihre Entstehung verdanken und einen unmittelbar religiösen Gehalt haben, ganz besonders. Das gilt für Architektur und bildende Kunst, aber auch für die Musik. Viele Messen und insbesondere Requiems gehören zu den ergreifendsten Musikstücken, die ich kenne. Ob das ein Widerspruch ist, habe ich mich oft gefragt. Kann man geistliche Musik überhaupt in all ihren Dimensionen erfassen, wenn man nicht religiös ist? Kann man die in einem Requiem in Töne gesetzten Gefühle der Angst vor der ewigen Verdammnis und des Trostes durch die Verheißung von Erlösung und ewigem Leben nachempfinden, wenn man selbst nicht daran glaubt? Ich denke schon, auch wenn bei mir eine Distanz zu dem dort Gesungenen immer vorhanden ist. Ebenso wie ich Stunden der Verzückung vor einer Bellini-Madonna verbringen kann oder vor der Erhabenheit einer gotischen Kathedrale auf die Knie sinken möchte, auch wenn ich in dem Bild nur eine Frau mit Kind sehe und nicht die Muttergottes, und in der Kathedrale ein Stück überwältigende Architektur und nicht ein Gotteshaus.


    Mich würde interessieren, ob es hier noch andere Ungläubige gibt, die dennoch geistliche Musik lieben. Und wie sehen dies die Gläubigen unter uns?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Mich würde interessieren, ob es hier noch andere Ungläubige gibt, die dennoch geistliche Musik lieben.


    Allerdings! Mir geht es ganz ähnlich wie dir! Ich bin nun nicht bei jeder Messe aus dem Häuschen, aber ein Leben ohne "Matthäus-Passion", "Messiah", "Schöpfung", Mozart-Requiem, "Ein deutsches Requiem" und "Vier ernste Gesänge" von Brahms sowie - ja - Mahlers "Auferstehungs-Sinfonie" kann und will ich mir gar nicht vorstellen. :rolleyes:


    Daran liegt's also nicht, dass ich Beethovens "Missa solemnis" nicht sonderlich mag. ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Bertarido, man kann doch dieses Zitat, dass Dich zu dem Thema, das gewiss hoch interessant ist, angeregt hat, nicht erst nehmen. Und das ist für mein Empfinden noch milde ausgedrückt.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Dieses Thema hatten wir schon, fast mit dem gleichen Titel, mit Tausenden von Einträgen (na ja, fast) und ohne Ergebnis.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Dieses Thema hatten wir schon, fast mit dem gleichen Titel, mit Tausenden von Einträgen (na ja, fast) und ohne Ergebnis.


    Hast Du einen Link oder den Titel, mit dem ich es finden kann?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • Mit dem Link bin ich technisch überfordert.
    Das Thema heißt: "Muss man gläubig sein, um geistliche Musik wahrhaft interpretieren zu können?" Er wurde 2011 von Milletre gestartet und umfasst 114 Beiträge. Über die Suchfunktion ist er leicht zu finden.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Mit dem Link bin ich technisch überfordert.
    Das Thema heißt: "Muss man gläubig sein, um geistliche Musik wahrhaft interpretieren zu können?" Er wurde 2011 von Milletre gestartet und umfasst 114 Beiträge. Über die Suchfunktion ist er leicht zu finden.


    Danke :hello:


    Hier ist der Link: http://www.tamino-klassikforum…age=Thread&threadID=13437


    Da ging es zwar um die Interpreten, nicht die Hörer, aber natürlich gibt es Überschneidungen. Ich werde also mal die 114 Beiträge lesen :rolleyes:

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • So lange es Atheisten gibt, die Klosterlikör lieben, wird es wohl auch Ungläubige geben, die gerne sakrale Musik hören.

  • Und wenn es irgendwann keinen Klosterlikör mehr geben wird, dann auch noch! ;)


    Es wird mit Sicherheit auch dann noch Klosterlikör geben, selbst wenn es keine Klöster mehr gibt. Im Marxismus heißt das: Vorrang für die Basis vor dem Überbau!

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Mich würde interessieren, ob es hier noch andere Ungläubige gibt, die dennoch geistliche Musik lieben.


    Die Frage ist zwar leicht mit einem Ja zu beantworten, doch könnte man sie ja auf die Weder-Noch-Hörer ausweiten, denn ich denke, da gibt es einige davon und zu denen gehörte einmal auch ich.
    Parsifal in den 80iger Jahren in Stockholm. Nach dem ersten Akt hatte ich genug von der morbiden Büßermentalität und ging hinaus in die warme Aprilsonne.
    Welche Befreiung!
    Danach hörte ich einige Zeit nur Schubert-Lieder.
    Aber Wagner ist Wagner und der Parsifal ist ein unübertroffenes Meisterwerk und heute einer meiner Favoriten.
    Wie immer Meister Nietzsche auch über ihn geurteilt haben mag, mich rührt es heute nicht mehr, obwohl ich Nietzsche eigentlich Recht gebe.


    Schizofren, nicht wahr?


  • Lieber Hami, den "Parsifal" würde ich nicht unbedingt als geistliche Musik bezeichnen, ich hatte da eher an Vertonungen liturgischer Texte gedacht. Mir ging es beim "Parsifal" übrigens genau umgekehrt wie Dir: er gehörte am Anfang zu meinen Favoriten nicht nur unter den Wagner-Opern, später setzte dann eine Abkühlung ein, und heute höre ich das Werk zwar immer noch regelmäßig und gerne, aber doch mit kritischer Distanz.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • und heute höre ich das Werk zwar immer noch regelmäßig und gerne, aber doch mit kritischer Distanz.

    Ich muss gestehen, dass ich Werke, zu denen ich eine "kritische Distanz" habe, nicht regelmäßig und gerne höre (höchstens ab und an, also eher selten, und dann meistens wegen irgendwelcher Sänger oder live).

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich muss gestehen, dass ich Werke, zu denen ich eine "kritische Distanz" habe, nicht regelmäßig und gerne höre (höchstens ab und an, also eher selten, und dann meistens wegen irgendwelcher Sänger oder live).


    Nun, das geht mir anders. Gerade der "Parsifal" ist ein Beispiel für ein Werk, das mich immer noch durch seine musikalische Seite verführen kann, mit dessen "Botschaft" ich allerdings Probleme habe. Beim Hören paaren sich da Genuss und Widerwillen.

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  • Lieber Bertarido, man kann doch dieses Zitat, dass Dich zu dem Thema, das gewiss hoch interessant ist, angeregt hat, nicht erst nehmen. Und das ist für mein Empfinden noch milde ausgedrückt.


    Gruß Rheingold

    Dieses Post bezog sich auf meine Äußerung, dass ich meine Stoffwechselendprodukte auf alles verteile, was mit Religion zu tun hat.


    Nun, vielleicht war meine Aussage etwas überzogen, und vielleicht war ich auch schlecht gelaunt, als ich sie schrieb, aber im Prinzip trifft sie den Kern der Sache. Zumindest ignoriere ich als fanatischer Atheist alles, was mit Religion zu tun hat, und ich sehe religiöse Aktivitäten aller Art äußerst kritisch.
    Wenn ich alleine daran denke, welche Verbrechen im Namen eines 'Gottes', welchen auch immer, verübt wurden und werden, lässt das meine Zornesader schwellen.
    Wenn jemand zu mir sagt, er finde Kraft im Glauben, dann akzeptiere ich das; resprektieren wäre hier aber das falsche Wort, ich bemitleide ihn eher, wenn jemand so etwas nötig hat. Wenn ich manchmal die Titel von Bach-Kantaten lese ('großer Gott wir loben dich' ist da noch das Harmloseste), das finde ich einfach nur widerlich.
    Ich glaube zwar auch an ein Leben danach, aber das hat nichts mit Religion zu tun. Und ich gehe auch ohne Glauben fröhlich durchs Leben und höre auch gerne Mahlers Zweite, auch wenn ich mit ihrer Botschaft nichts anfangen kann - es ist eben schöne Musik.


    r.

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

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  • Mich würde interessieren, ob es hier noch andere Ungläubige gibt, die dennoch geistliche Musik lieben.


    Ich kann das auch für mich vorbehaltlos bejahen. Das gilt für im engeren Sinne geistliche Musik wie Messen, Requiems oder dergleichen ebenso wie für andere religiös motivierte Werke wie schon erwähnten Parsifal oder auch Mahlers Auferstehungssinfonie. Letztere live zu hören war für mich sogar der Auslöser, mich überhaupt ernsthaft mit klassischer Musik zu beschäftigen.


    Zumindest kann ich das so für Werke behaupten, die einem gewissermaßen passiven Glauben Ausdruck verleihen oder deren Entstehung durch denselben motiviert wurde. Das sähe sicher anders aus, wenn Kunst, so ästhetisch ansprechend sie auch sei, dazu ge- / mißbraucht würde, irgendwelche aggressive religiöse Propaganda zu verbreiten. Das aber ist zumindest von meiner Seite nur ein theoretischer Einwurf, zu dem mir jetzt zum Glück kein praktisches Beispiel einfallen würde.


  • Zumindest kann ich das so für Werke behaupten, die einem gewissermaßen passiven Glauben Ausdruck verleihen oder deren Entstehung durch denselben motiviert wurde. Das sähe sicher anders aus, wenn Kunst, so ästhetisch ansprechend sie auch sei, dazu ge- / mißbraucht würde, irgendwelche aggressive religiöse Propaganda zu verbreiten. Das aber ist zumindest von meiner Seite nur ein theoretischer Einwurf, zu dem mir jetzt zum Glück kein praktisches Beispiel einfallen würde.


    Es kommt darauf an, was man unter "aggressiver religiöser Propaganda" versteht. Natürlich betrifft das normalerweise hauptsächlich die Texte, aber sowohl Reformation als auch Gegenreformation haben Musik durchaus gezielt zur "Propaganda" eingesetzt. D.h. jemand, der so dezidiert antireligiös eingestellt ist, wie Rolo, würde einen großen Teil dieser Musik (was Bach-Kantaten u.a. einschließt) nachvollziehbarerweise vermeiden wollen.
    (Einige der aggressivsten Luther-Choräle wie die Zeilen "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur' des Papst und Türken Mord" wurden inzwischen in "und steure deiner Feinde Mord" geändert, meines Wissens aber z.B. von Bach noch original vertont.)


    Andererseits muss man anscheinend nicht einmal religiös sein, um beeindruckende religiöse Musik zu *komponieren*, wie Verdis Requiem (und die 4 pezzi sacri) oder Janaceks Glagolitische Messe, die wohl eher als panslawisches Statement gedacht war, sich aber durchaus des Gestus geistlicher Musik, auch abgesehen vom Text, bedient.


    Historisch sind die mehr als 1000 Jahre Koevolution von Christentum und abendländischer Musik kaum zu negieren., bzw würde das zu einem sehr schiefen Bild der abendländischen Musikgeschichte führen. In keiner anderen Religion hat Musik diese herausragende Bedeutung (auch wenn das vom Judentum (Psalmen) geerbt wurde) und keine andere Religion hat so herausragende Musik hervorgebracht.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Einige der aggressivsten Luther-Choräle wie die Zeilen "Erhalt uns, Herr, bei einem Wort und steur' des Papst und Türken Mord" wurden inzwischen in "und steure deiner Feinde Mord" geändert, meines Wissens aber z.B. von Bach noch original vertont..


    Man kann Bach zwar zugutehalten, nicht seine eigenen Worte vertont zu haben, und vermutlich wird der Text aus unserer heutigen Sicht auch anders wahrgenommen als damals, aber das hat schon durchaus eine Qualität, wo ich Probleme hätte, mich vorbehaltlos an der schönen Musik zu erfreuen.


    Ein selbstkonstruiertes Beispiel kam mir zwischenzeitlich noch in den Sinn: hätte Wagner über seine Einordnung des "Judenthums" nicht nur Text sondern auch Musiktheater geschrieben, hätte vermutlich nicht nur ich heute erhebliche Schwierigkeiten, die zugehörige Komposition Wagners zu genießen, so meisterhaft sie sicher auch gewesen wäre.





    Und nein, ich möchte hier bitte keine (neue) Diskussion über das Wesen des Wagner'schen Antisemitismus lostreten, sondern habe das Beispiel nur aufgrund seiner erhofften Prägnanz angebracht. :!:

  • Zumindest ignoriere ich als fanatischer Atheist alles, was mit Religion zu tun hat, und ich sehe religiöse Aktivitäten aller Art äußerst kritisch.
    Wenn ich alleine daran denke, welche Verbrechen im Namen eines 'Gottes', welchen auch immer, verübt wurden und werden, lässt das meine Zornesader schwellen.
    Wenn jemand zu mir sagt, er finde Kraft im Glauben, dann akzeptiere ich das; resprektieren wäre hier aber das falsche Wort, ich bemitleide ihn eher, wenn jemand so etwas nötig hat. Wenn ich manchmal die Titel von Bach-Kantaten lese ('großer Gott wir loben dich' ist da noch das Harmloseste), das finde ich einfach nur widerlich.
    Ich glaube zwar auch an ein Leben danach, aber das hat nichts mit Religion zu tun. Und ich gehe auch ohne Glauben fröhlich durchs Leben und höre auch gerne Mahlers Zweite, auch wenn ich mit ihrer Botschaft nichts anfangen kann - es ist eben schöne Musik.


    Lieber Rolo, ich war nicht über Deinen Beitrag gestolpert, weil Du dort Deine Einstellung zur Religion deutlich machst (die ich grosso modo teile), sondern weil sie eine Reaktion darauf war, dass ein anderes Forenmitglied sakrale Musik gehört hat. Und da habe ich mich gefragt, ob Du es wirklich prinzipiell ablehnst, z.B. Messe-Vertonungen zu hören, in denen ja nicht nur, wie in Mahlers Zweiter, der Glaube an die Auferstehung ausgedrückt wird, sondern die immerhin auch das katholische Glaubensbekenntnis enthalten. Ist Dir das dann auch so zuwider, dass Du selbst musikalische Meisterwerke wie Mozarts c-moll Messe nicht hören magst? Wie ist es mit den großen Requiems von Mozart, Berlioz, Verdi, Fauré oder Brahms' Deutschem Requiem, alles Meilensteine der Musikgeschichte? Was ist mir den unzähligen Werken, die ihre Existenz dem Glauben ihrer Komponisten verdanken oder die im Auftrag von Kirchenfürsten komponiert wurden? Johannes hat zu Recht auf die enge Verzahnung von Christentum und Musik über viele Jahrhunderte hingewiesen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Warum muß man denn "religiös" mit "kirchenreligiös" und "dogmatisch" gleichsetzen? Ein gregorianischer Gesang, ein religiöses Klavierstück des späten Liszt oder auch Mahlers 2. kann ich doch verstehen, weil ich die "Weltanschauung", bzw. Einstellung zur Welt nacherleben kann, die dort ausgedrückt wird. Nach Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion kann auch die Kunst religiöse Gefühle ausdrucken, als "Anschauung des Universums". "Gott" kommt in Schleiermachers Schrift gar nicht vor, weswegen er sie auch anonym veröffentlichte (was seiner Zeit weit voraus war, denn der Buddhismus ist eine Religion ohne Gott). Bei Mahler 2. ist es die Angst des Menschen vor der Bestrafung, dem "jüngsten Gericht", die ihm genommen wird. Die menschlichen Sehnsüchte, die da ausgedrückt werden, die kann doch jeder nachvollziehen? Wer träumt nicht von einer besseren Welt und wen geht das Rätsel des Todes nichts an?


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Wenn ich manchmal die Titel von Bach-Kantaten lese ('großer Gott wir loben dich' ist da noch das Harmloseste), das finde ich einfach nur widerlich.


    Wer man so austeilt, muss man sich dann auch gefallen lassen, wenn sich die Hinweise verdichten, dass Bach eine solche Kantate niemals komponierte....
    Eine Bachkantate dieses Namens gibt es also nicht.
    Alternativ gäbe es ja noch die weltlichen Kantaten des Meisters für diejenigen, die geistliche Texte furchtbar finden.


    Was das Mitleid mit denen angeht, die Kraft in ihrem christlichen Glauben finden, und deren Glauben gerade noch zu akzeptieren aber nicht zu tolerieren sei, möchte ich der Vollständigkeit halber nicht verhehlen, dass ich es aus meiner nordisch-katholischen Sicht genau anders herum empfinden könnte. Einen "fanatischen Atheisten", der dann nicht mehr mit Freude BWV 95 hören kann, weil er den Text "ekelhaft" findet, kann ich alleine schon deswegen fast bemitleiden, weil ihm eines der herrlichsten Werke der Musikgeschichte entgeht, gerade dann, wenn es von Herreweghe interpretiert wird.
    Im Jahr 2016 werde ich übrigens wohl die evangelische Kirche verlassen und aus innerer Überzeugung zur Nordisch-Katholischen Kirche konvertieren. Im Gegensatz zum Kollegen Betman, der seinen Atheismus im Ansatz durchaus drastisch begründete, möchte ich mich hier aber nicht über meine Gründe zu diesem Schritt und zur allgemeinen Annahme des christlichen Glaubens durchaus themenfremd äußern, denn ich finde schon, dass die Forenregeln, dass hier nicht über Religion, Weltanschauung oder Politik argumentativ geschrieben werden soll, sehr weise abgefasst wurden. Sie sollten nicht nur für Christen, sondern eben auch für Atheisten gelten, will ich meinen.


    Man muss m.E. aber nicht gläubig sein, um diese Musik erleben zu können. Doch es schadet auch nicht gerade....


    Bei Bachs Texten ist es so, dass er manchmal auch eher schwache Dichtungen so gut vertonen konnte, dass sie einem wie große Werke erscheinen. Am besten finde ich bei ihm jedoch die Vertonungen biblischer Texte und natürlich der uralten und bewährten Liturgie, die ja in der h-moll-Messe vertont wurden.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Da ich diese Diskussion hier schon eine Weile verfolge, will ich denn doch mal was dazu sagen.
    Bisher hatte ich mich nicht eingeschaltet, da ich den Gedankenaustausch nicht stören wollte.
    Aber jetzt möchte ich doch mal zumindest kurz einwerfen, dass mir die Pointe der Fragestellung überhaupt nicht einleuchtet.


    Natürlich kann man sakrale Musik lieben auch wenn man sich selbst nicht als religiös versteht.
    Man kann solche Musik schön finden, erbaulich, stimmungs-,würde- und weihevoll, erhebend, besinnlich, eindringlich und überwältigend. Vielleicht erfasst einen beim Hören sogar eine Ahnung des Numinosen! Möglicherweise wird man sogar religiösen Empfindungen ergriffen - selbst wenn man das so nicht eingestehen möchte.


    Eine ganz andere Frage wäre, ob man sakrale Musik verstehen kann, wenn man keine - ich sag mal - religiöse Ader hat. Es gibt ja Vernunftmenschen, die sich selber als religiös "unmusikalisch" bezeichnen und wohl auch sehen. Da wäre dann mal zu diskutieren, ob sie zum Kern sakraler und religiöser Musik vordringen können. Das führt dann auf das Feld der Hermeneutik!


    Und damit ist man auf einem ganz anderen Feld, als Bertarido bei der Eröffnung dieses Threads beackern wollte. Ein - wie Fontane sagen würde - weites Feld!


    ..... dazu noch ein kurzer Hinweis: mein Versuch, mal eine Diskussion über das Verhältnis von Musik und Religion anzustoßen, war zwar nicht direkt ein Rohrkrepierer, hat aber keine breitere und schon gar keine tiefer bohrende Diskussion in Gang setzen können!
    Musik und Religion



    Schönen Abend noch - vielleicht mit Josqin Desprez!
    Und beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ein kluger, tief in das Zentrum der Fragestellung dieses Threads vordringender Kommentar, den Caruso41, wie ich finde, da eben gerade eingestellt hat.
    Mit dem Gegenüberstellen von "lieben" und "verstehen" hat er den Kern des Problems angesprochen und bewusst gemacht, dass es dabei um ein wesenhaft hermeneutisches geht.
    Ich bin ja nur ein Leser hier. Aber dieses Lesen bereitet mir Freude, - eben in diesem Augenblick.
    Nachdenken über Musik kann, über die Begegnung mit ihr hinausführend, beglückend sein.

  • Es ist sehr bezeichnend für das Forum, dass dieses Thema hier überwiegend mit Musik des 19. Jahrhunderts betrieben wird, nur Caruso kommt am Schluss auf Josquin. Ich bin ja evangelischer Theologe, der allerdings zum Glauben und erst recht zur Kirche quer steht, weshalb ich auch trotz aller notwendiger Examina kein Pfarrer geworden bin. Ich habe in den letzten 10 Jahren die katholische Kirchenmusik entdeckt, allerdings nicht die hier erwähnte. Haydn, Schubert und Mozart sind für mich als Messkompositeure nur 2. Wahl, die wahre katholische Kirchenmusik ist die der Polyphonie und Renaissance. Ich bin nun der letzte, der sich inhaltlich begeistert für die katholische Marienverehrung. Ja, ich halte das für eine außerordentlich heidnische Zutat, wie man ja den Katholizismus sehr gut als eine synkretistische Religion bezeichnen kann. Aber die Marienmotetten von Josquin, Victoria, Guerrero, Monteverdi (seine Marienvesper halte ich für bedeutender als Bachs h-Moll-Messe und die Missa solemnis von Beethoven) oder Arvo Pärt liebe ich über alles und kann gar nicht genug davon bekommen, weil diese Musik ja über sich selbst auch hinausweist. Das haben ja viele Beiträge hier verdeutlicht.
    Hermann Hesse hat übrigens in seinen Briefen sehr viel nachgedacht über die protestantische Kunst und die katholische, die ihm vor allem in Form der Musik und der Kathedralen durchaus lieb und teuer war.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Zwei Sachen, die ich nicht verstehe:


    Ich glaube zwar auch an ein Leben danach, aber das hat nichts mit Religion zu tun.


    Wer träumt nicht von einer besseren Welt und wen geht das Rätsel des Todes nichts an?


    Warum sollte es ein Leben danach geben, wenn uns sowohl Anschauung als auch Naturwissenschaft etwas anderes sagen? Und warum sollte der Tod ein Rätsel sein?


    Aber zur eigentlichen Fragestellung dieser Diskussion. Der erfrischend-launige Ausspruch von Hami1799: »So lange es Atheisten gibt, die Klosterlikör lieben, wird es wohl auch Ungläubige geben, die gerne sakrale Musik hören« verweist für mich darauf, dass Sakralmusik letztlich ›nur‹ an menschliche Befindlichkeiten appelliert, die tiefer liegen als ›religiöse Gefühle‹ (was immer das sein mag). Oder anders gesagt: Das, was ein religiöser Mensch durch den Glauben empfinden mag, ist eigentlich nichts anderes als ein Ausdruck von unterschiedlichsten Gefühlen und Sehnsüchten, die durch die jeweilige Religion kanalisiert werden und die, wenn der einzelne Mensch zufällig einen anderen Glauben hätte, ebenfalls vorhanden wären. Das gilt in gleicher Weise für das Hören wie für das Erschaffen sakraler Werke. Und von daher ist es ja ganz ›natürlich‹, wenn man auch als nicht religiöser Mensch Sakralmusik lieben kann – es wäre wohl nicht ›normal‹, wenn es anders wäre. Wenn nun jemand »einen großen Teil dieser Musik (was Bach-Kantaten u.a. einschließt) nachvollziehbarerweise vermeiden« möchte, weil er durch bestimmte Texte oder so etwas wie die »morbide Büßermentalität« des Parsifal abgestoßen wird, so hat das nichts mit der tieferen emotionalen Schicht der Werke zu tun, sondern das liegt nur an der ebenfalls ›normalen‹ Überformung durch Kultur, Weltanschauung usw. (von daher ist es ja auch nicht verwunderlich, wie bruchlos Bach Kompositionen für den weltlichen und geistlichen Bereich gleichermaßen einsetzen konnte). Darin sehe ich dann auch den Unterschied zwischen »lieben« und »verstehen«, den Caruso41 angesprochen hat.

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  • Eine ganz andere Frage wäre, ob man sakrale Musik verstehen kann, wenn man keine - ich sag mal - religiöse Ader hat.

    Ich möchte diese Frage ganz klar bejahen - bzw. behaupten, dass man auch als Atheist eine "religiöse Ader" haben kann, also für bestimmt Dinge aus dem Bereich der Religion sehr empfänglich sein kann, ohne deshalb gleich an Gott zu glauben. Auch ein Atheist kann von der "Matthäus-Passion" tief beeindruckt sein. Ich glaube den vier Evangelisten kein Wort, aber ich glaube Bach jeden Ton! Er erzielt hier eine höhere, zutiefst menschliche Wahrheit, die die Frage, ob das denn auch alles so stimme, für mich völlig in den Hintergrund drängt.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich möchte diese Frage ganz klar bejahen - bzw. behaupten, dass man auch als Atheist eine "religiöse Ader" haben kann, also für bestimmt Dinge aus dem Bereich der Religion sehr empfänglich sein kann, ohne deshalb gleich an Gott zu glauben. Auch ein Atheist kann von der "Matthäus-Passion" tief beeindruckt sein. Ich glaube den vier Evangelisten kein Wort, aber ich glaube Bach jeden Ton! Er erzielt hier eine höhere, zutiefst menschliche Wahrheit, die die Frage, ob das denn auch alles so stimme, für mich völlig in den Hintergrund drängt.

    Das kann ich nur unterstreichen. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Ich war im Herbst erstmals seit Jahrzehnten bei einem Gottesdienst, weil ich ein Buch gesetzt hatte, das zu einem Jubiläum der Dentleiner Kirche erschienen ist. Und obwohl selbst tief-nichtgläubig und durch manche Rituale des Gottesdienstes eher abgeschreckt, entstand durch die Musik und den ganzen Ablauf dabei doch eine emotionale Beteiligung, eine Art Geborgenheit in der Gemeinschaft.

  • Eine ganz andere Frage wäre, ob man sakrale Musik verstehen kann, wenn man keine - ich sag mal - religiöse Ader hat. Es gibt ja Vernunftmenschen, die sich selber als religiös "unmusikalisch" bezeichnen und wohl auch sehen. Da wäre dann mal zu diskutieren, ob sie zum Kern sakraler und religiöser Musik vordringen können. Das führt dann auf das Feld der Hermeneutik!


    Und damit ist man auf einem ganz anderen Feld, als Bertarido bei der Eröffnung dieses Threads beackern wollte. Ein - wie Fontane sagen würde - weites Feld!


    Lieber Caruso, ein interessanter Punkt, den Du da ansprichst. Natürlich lade ich Dich und alle anderen herzlich dazu ein, auch dieses mich sehr interessierende weite Feld hier weiter zu beackern. Wobei die Frage, ob man Musik, die man liebt, wirklich versteht, ja weit über die geistliche Musik hinausweist.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • "...ein interessanter Punkt,"...
    nein, lieber Bertarido, es ist - nimm´s mir bitte nicht übel, wenn ich Dich in dieser Formulierung korrigiere - der KERN-Punkt dieses Threads. Deshalb ist es ja auch kein "weites Feld", was Caruso da - erfreulicherweise - hier angesprochen hat.
    Du hast die zentrale Frage, die sich im Falle "geistlicher Musik" stellt, aber eigentlich darüber hinaus weist und insofern in gleichsam exemplarischer Weise hier reflektiert und diskutiert werden kann, ja eben gerade noch einmal formuliert:
    Kann man Musik "lieben", ohne sie in ihrer Aussage, in ihrem semantischen Gehalt und ihrer Faktur, die diese gleichsam transportiert, zu "verstehen"?
    Ist ein "Lieben" ohne "Verstehen" wirklich möglich?
    Ist dieses "Lieben" ohne ein "Verstehen" vielleicht nur ein letztendlich vordergründiges, auf den schieren klanglichen Reiz sich richtendes und sich an ihm festmachendes?
    Und im Falle geistlicher Musik ganz konkret:
    Ist ein "Verstehen" möglich, ohne dass man die hinter ihr stehenden und ihre Genese bedingenden religiösen Inhalte personal teilt und selbst vertritt?
    Um auf die letzte Frage mit einem einzigen Wort einzugehen: Nein, das denke ich nicht! Für das "Verstehen" von geistlicher Musik ist ein Wissen um die religiöse Substanz erforderlich, die ihr zugrunde liegt, nicht aber eine personale Identifikation mit derselben, - im Sinne eines "Religiös-Seins", um Deine Formulierung zu benutzen.
    Das wäre meine Antwort auf die zentrale Frage dieses Deines Threads.
    Aber die Fragen, die Caruso aufgeworfen hat, würden, so denke ich mal ganz ungeniert, schon eine ausführliche Reflexion und einen diesbezüglichen Diskurs verdienen. Das wäre sehr wohl im Ansetzen am Gegenstand dieses Threads möglich. Und es wäre eine hochinteressante Sache, - im Rahmen eines von seiner Fragestellung her hochinteressanten Threads.

  • Warum sollte es ein Leben danach geben, wenn uns sowohl Anschauung als auch Naturwissenschaft etwas anderes sagen? Und warum sollte der Tod ein Rätsel sein?

    Natürlich ist der Tod für die Naturwissenschaft kein Rätsel - weil es den Tod naturwissenschaftlich gar nicht gibt, genau so wenig wie die Geburt. Nietzsche dichtete (und Mahler vertonte es in der 3. Symphonie):


    O Mensch! Gib acht!
    Was spricht die tiefe Mitternacht?
    "Ich schlief, ich schlief -,
    Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
    Die Welt ist tief,
    Und tiefer als der Tag gedacht.
    Tief ist ihr Weh -,
    Lust - tiefer noch als Herzeleid:
    Weh spricht: Vergeh!
    Doch alle Lust will Ewigkeit -,
    - will tiefe, tiefe Ewigkeit!"

    Gegen die Lust, die "Ewigkeit" will, ist alle noch so vernünftige wissenschaftliche Rationalität machtlos. Die Lust und ihr metaphysisches Bedürfnis nach "Dauer" kümmert sich einfach nicht darum - so auch in der Kunst und Musik, wenn sie den Augenblick verewigen will. Die Frage an uns ist dann: Verleugnet man (vermeintlich "aufgeklärt") dieses metaphysische Bedürfnis oder nimmt man das Absurde an, dass Vernünftigkeit und widervernünftiges Begehren beide unauslöschlich zu unserer menschlichen Natur gehören? Ich glaube, wer Sinn für das Absurde hat, dem ist als metaphysischer Mensch die religiöse Dimension auch von Musik nicht unzugänglich. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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