Vor zwei Jahren habe ich ein Thema erstellt, das "Das blinde Amseljunge im Nest oder der Pawlowsche Hund in der Musik" hieß. Ich habe dieses Thema noch mal durchgesehen und festgestellt, dass wir immer weiter am Thema vorbeigeredet haben, weil es nur noch um den vierten Satz der Neunten ging.
Mein Ansatz damals war dieser: welche Stücke lösen bei euch, wenn der erste Ton erklingt, automatisch starke Gefühle aus, entweder positiv elektrisiert oder negativ? Diesen Ansatz möchte ich nicht wieder aufgreifen, sondern ihn anders wenden. Ich habe damals den Begriff des "Triggers" verwendet, diesen Begriff könnte man hier auch anwenden. Ein Trigger ist ein Schlüsselreiz, der bestimmte Gefühle oder Handlungen auslöst. Beispiele bitte im alten Amsel-Thema nachsehen. Hier ist der von Konrad Lorenz geprägte Begriff der "Prägung" wichtig. Graugänse etwa werden als kleine Küken auf ihre Mutter geprägt, oder, wenn sie Pech haben, auf Konrad Lorenz, der die Mutter dann ersetzt.
Mit Prägung hier in der Musik meine ich folgendes: es gibt viele Musikstücke, die wirken immer, egal, von welchen Interpreten sie aufgeführt werden. Es gibt aber auch einige Musikstücke, die wirken nur, wenn ein bestimmter Interpret das vorträgt. meist ist es der, bei dem man es zuerst gehört hat, aber nicht immer.
Ich bin auf diese Frage durch ein konkretes Beispiel gekommen. In unserem Männerensemble proben wir gerade die berühmte Motette in zwei Teilen "Ne irascaris, Domine" von William Byrd. Wir singen das Stück in dieser Besetzung: Alt, hoher Tenor (wo ich singe), Tenor, Bass 1, Bass 2. Zu den Noten hat uns unser Chorleiter eine YouTube-Aufnahme von "Stile antico", einem Kammerchor, dazugeben. Daraufhin habe ich fast alle Aufnahmen dieses Werk auf YouTube gehört, viele schlechte, wenige gute (darunter die King´s Singers), nur eine perfekte: Stile antico (ein Londoner Ensemble von 12 Sängern ohne Dirigenten). Diese Aufnahme höre ich jetzt seit Wochen 2x am Tag, natürlich auch, um die Stimme zu lernen. Ich muss klar sagen, dass ich auf diese Aufnahme absolut geprägt bin, bis eine bessere kommt.
Das andere Beispiel ist dieses: Schumanns 4. gehörte zu meinen liebsten Sinfonien, aber nur in der Furtwängler-Aufnahme, weil so großartig kein Dirigent die Einleitung zu ersten Satz hinbekommt.
Wann immer ich die Vierte höre, vergleiche ich automatisch, ich kann gar nicht anders.
Das zeigt auch, das es hier nicht um objektive oder gar musikwissenschaftliche Vergleiche geht, sondern um subjektive Einstellungen. Es geht also darum, festzustellen, welcher Konrad Lorenz bei uns musikalischen Graugänsen zu ständig ist.