BACH, Carl Philipp Emanuel: DIE ISRAELITEN IN DER WÜSTE

  • Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788):


    DIE ISRAELITEN IN DER WÜSTE
    Geistliches Singgedicht (Oratorium) in zwei Teilen - Text von Daniel Schiebeler


    Uraufführung (wahrscheinlich) am 1. November 1769 in der Hamburger Lazareth-Kirche



    DIE BESETZUNG


    Erste Israelitin (Sopran)
    Zweite Israelitin (Sopran)
    Aaron (Tenor)
    Moses (Bass)
    Vierstimmiger gemischter Chor
    Orchester



    INHALTSANGABE


    Erster Teil


    Das Oratorium hat keine eigenständige Einleitung, sondern beginnt nach einem 14-taktigen Adagio- Vorspiel sofort mit dem Klagegesang der Israeliten:


    Die Zunge klebt am dürren Gaum, wir athmen kaum. Rings um uns her ist Grab.
    Gott, du erhörst des Jammers Klage nicht, du kehrst dein Antlitz von uns ab.

    Bach macht die Angst der sich von Gott verlassen fühlenden Menschen mit sordinierten Streichern und Flötenspiel beängstigend erfahrbar. Das Verdursten und durch den trockenen „Gaum“ kaum reden könnend, wird durch den stockenden chorischen Vortrag, von den Bässen lastend begleitet, treffend ausgedrückt.


    Die allgemeine Resignation nutzt die erste Israelitin für eine Anklage gegen den Gott Abrahams: Wo ist er, der geschworen hat, sein auserwähltes Volk nicht zu verlassen? Es hungert und dürstet, doch Jahwe hat offenbar Lust an seinem Untergang. Vielleicht wäre aber der Tod eine Befreiung:


    Die ihr niemals, niemals wieder seufzt und weint, erblichne Brüder,
    schlummernd in des Todes Armen. Ach, wie seyd ihr so beglückt!


    Diese Anklage beunruhigt Aaron, Moses' Bruder; er muss die destruktive Stimmungslage im Keime ersticken und fordert das Volk deshalb eindringlich auf, alles Klagen einzustellen und zum Herrn in kindlichem Vertrauen aufzuschauen. Gott wird, wie bisher, seine schützende Hand über sie halten - selbst der Untergang von Sonne und Erde wird an der Liebe des Herrn zu allen Sterblichen nichts ändern. Die Musik, die Bach Aaron mitgibt, bleibt im Moll-Bereich - Zuversicht klingt anders.


    Die zweite Israelitin ist von Aarons Rede nicht überzeugt worden; sie drückt sich noch drastischer aus, als die erste: Warum sind sie nicht in Ägypten geblieben, warum Moses gefolgt? Es war eine erkennbar ins Verderben führende Entscheidung, und sollte durch Rückkehr in das Pharaonenreich korrigiert werden! Der Kenner der Geschichte fragt sich, ob diese Frau die Drangsal vergessen hat? Aaron versucht warnend, die nostalgisch wirkende Forderung abzubiegen:


    Für euch fleht Moses stets um neue Huld den Ew'gen an,
    o zwingt ihn nicht zum Zorn durch eure Ungeduld.
    Er naht sich uns. Das Murren eurer Zungen ist bis zu ihm gedrungen.

    Aaron hat also Moses kommen sehen - Bach bildet den Auftritt des Israelitischen Anführers mit einer 13-taktigen Symphonie mit drei Trompeten, zwei Hörnern und Pauke neben den Streichern ab, als trete ein König auf die Szene. Aber Moses ist kein König, er ist ein hin und her gerissener Mensch, zwischen dem Zorn über den Ungehorsam seiner Landsleute einerseits und dem Mitleid über deren lang andauerndes Elend andererseits schwankend. Die Musik blendet jedoch diese Zerrissenheit aus - schildert nur den starken Anführer Israels. Doch der hat, wie wir wissen, im Volk auch nicht mehr den Rückhalt früherer Zeiten. Die aktuelle Situation zwingt ihn aber jetzt, zu handeln: Warum das Geschrei, ruft er dem Volk zu, warum reizt ihr Jahwes Rache?


    Die Antwort, die er vom Volk bekommt, entsetzt Moses:


    Du bist der Ursprung unserer Noth, hast uns geführet in den Tod;
    Gott schlummert, und wir hoffen nicht, daß er zur Hülf erwache.

    So offene Worte hätten seine Landsleute bis vor kurzem nicht geäußert. Moses ärgert sich gewaltig, und erinnert die Murrenden an die Fürsorge, die Gott ihnen bisher angedeihen ließ: Hat er sie nicht trockenen Fußes durch das Meer geführt und die Truppen des Pharao danach in den Fluten ertränkt? Hat er nicht den Hunger durch das Brot des Himmels gestillt? Sinkt also demutsvoll vor Gott auf die Knie und ehrt ihn, der euch das Leben gab und es bisher auch erhielt. Betet ihn an!


    Die beiden Israelitinnen äußern sich, sozusagen stellvertretend für die Masse, mit erneuten Klagen, machen deutlich, dass Moses' Warnungen in das eine Ohr hinein, aus dem anderen heraus gingen: Der Gott Abrahams wollte bisher und will offensichtlich auch zukünftig nicht helfen. Moses wendet sich in einem Accompagnato (das Bach in diesem Oratorium an drei exponierten Stellen verwendet) an Gott, dem Volk zu verzeihen und zugedachte Strafen nur an ihm zu vollziehen. In das Rezitativ wirft der Chor der Israeliten vier Klagegesänge ein. Moses aber stimmt einen Bittgesang an, der zu den schönsten Eingebungen Bachs in diesem Oratorium gehört, eine Arie, die als Musterbeispiel für den „empfindsamen Stil“ anzusehen ist:


    Gott, sieh dein Volck im Staube liegen!
    O Vater der Erbarmung, merke, merk' auf mein demuthvolles Flehn,
    Du, der mein Hoffen nicht betriegen, mein Bitten nicht verwerfen kann!
    Lass diesen Felsen, Gott der Stärke, die Lindrung unserer Qual uns geben!
    Herr, lass die Kinder Jakobs leben, Dich zu verehren, zu erhöhn:
    Blick, Ewger, uns in Gnaden an.

    Der Solo-Bass und das Solo-Fagott führen in diesem vollkommen ruhig dahinfließenden Stück (mit sich ständig wiederholenden Vorhalten in den Streichern) einen anrührenden Dialog, dessen Musik ganz dem Ausdruck des Textes dient.


    Der Umschwung kommt mit Moses' Schlag gegen eine Felswand, aus der plötzlich Wasser austritt, das dem dürstenden Volk endlich Erlösung bringt. Bach schildert im folgenden Chorsatz mit den Sechzehntelläufen in den Geigen das aus dem Felsen hervorschießende Wasser recht drastisch:


    O Wunder! Gott hat uns erhört! Und frische Silberströhme quillen
    aus diesem Felsen, sie zu stillen, die Pein, die unsre Brust verzehrt.

    Das volle Orchester, also auch Trompeten, Hörner und die Pauke, bringt mit diesem von Triumph über die existentielle Not geprägten Chorsatz den ersten Teil zu einem würdigen Abschluss.



    ZWEITER TEIL


    Nach dem handlungsreichen ersten Teil ist dieser zweite mehr der Betrachtung und Reflexion des bisherigen Geschehens gewidmet. Er beginnt ohne instrumentale Einleitung, sondern mit einem Rezitativ, in dem Moses seinen Landsleuten den Spiegel vorhält: Sie hätten zwar den Zorn Gottes trotz Empörung, trotz aller Klagerufe, verdient, aber Jahwe verzeiht in seiner großen Güte dem Volk Israel. Deshalb sollten sie sich unbedingt als dankbare Kinder des Gottes der Gnade erweisen! Die erste und zweite Israelitin zeigen sich in ihren Solosätzen - wieder in Stellvertretung des Volkes - als gewandelte und dankbare Kinder Gottes und geben ihrer Zuversicht auf eine positive Zukunft Ausdruck. Dazwischen hat Bach für Moses abermals ein Accompagnato-Rezitativ gesetzt, das einen seherischen Ausblick auf eine spätere Zukunft, eine christliche Zeit gewährt: [...]


    Doch einst, vor meinen Blicken, seh' ich die Zukunft aufgehellt.
    Einst wird für Adams sünd'ge Welt ein anderer zum Richter flehen.
    Gott wird ein gnädig Ohr auf seine Bitten lenken,
    und die, für die er fleht, mit ewger Wonne tränken,
    die sich voll Zuversicht ihm nah'n, in ein vollkomm'neres Canaan.

    Moses ist überzeugt, dass jener Retter der Held ist, der mit der Schlange kämpft und ihr den Kopf zertreten wird. Und er, eines „Weibes Saame“, dessen Name „Heil und Segen“ lautet, wird Frieden bringen!


    Dieser prophetische Blick wird in einem lyrischen Chorsatz („Verheißner Gottes“) konkretisiert mit der an Gott gerichteten Bitte, den „anderen“, den Retter, bald erscheinen zu lassen, damit durch ihn Adams Schuld getilgt wird. Darauf folgt der einzige Choral in diesem Oratorium


    Was der alten Väter Schaar höchster Wunsch und Sehnen war,
    und was sie geprophezeit, ist erfüllt nach Herrlichkeit.

    Es ist ein Vers aus dem Adventslied „Gott sei Dank durch alle Welt“ (von Heinrich Held, eine frei ins Deutsche übertragene Version des ambrosianischen Hymnus „Veni redemptor gentium“, den schon Martin Luther 1524 mit „Nun komm der Heiden Heiland“ ins Deutsche übertragen hatte).


    An dieser Stelle, vor dem Schlussgesang, bekommt der Solo-Tenor („Aarons Stimme“) noch ein Accompagnato-Rezitativ, in dem der Gedanke an den Retter Christus nochmals aufgenommen wird, jetzt aber ausdrücklich in die Gegenwartsform gesetzt:


    O Heil der Welt, du bist erschienen, und neu erschaffen hast du sie.
    Dir sangen, als du kamst, die mit himmlisch hoher Melodie.
    Du predigtest der höchsten Weisheit Lehren, und hießest deine Jünger gehen in alle Welt,
    die Völker zu bekehren und deinen Namen zu erhöhn. Es ist geschehn:
    Die Wahrheit deiner Lehren und deines Ruhms erklang vom Aufgang bis zum Niedergang;
    Und täglich muss dein Reich sich mehren.


    Der festlich komponierte Schlusschor, vom vollen Orchester begleitet, ist ein Bittgesang:


    Lass dein Wort, das uns erschallt, mit entzückender Gewalt tief in unsre Herzen dringen;
    lass es gute Früchte bringen, die dein Vaterherz erfreun.
    Lass uns dir, allmächtge Güthe, unsre Brust zum Tempel weihn.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Carl Philipp Emanuel Bach hat gleich am Anfang seiner Tätigkeit als Hamburger Musikdirektor, in dieser Position Nachfolger seines Paten Georg Philipp Telemann, das hier vorgestellte Oratorium „Die Israeliten in der Wüste“ als musikalische Visitenkarte komponiert. Die Uraufführung am 1. November 1769 in der Hamburger Lazareth-Kirche fiel mit der Einweihung dieses Gotteshauses zusammen. Ob das Werk explizit für diese Kircheneinweihung geschaffen wurde oder ob es nur ein zufälliges Zusammentreffen war, dass den Tag der Einweihung dann aber bereicherte, ist nicht überliefert.


    Überliefert aber ist in Bachs Handschrift die Abrechnung (aufbewahrt in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek) der Uraufführung. Daraus geht hervor, dass er einen kleinen Chor, der auch die Solisten stellte, sowie zwischen 22 und 24 Instrumentalisten zur Verfügung hatte. Damit wurden in den Hamburger Hauptkirchen die Aufführungen bestritten, so auch „Die Israeliten in der Wüste“. Charles Burney, der bekannte englische Musikreisende, empfand nach einer Aufführung in der Katharinen-Kirche, dass diese Besetzung „für die große Kirche“ viel „zu schwach“ gewesen sei. Er bedachte dabei offensichtlich nicht, dass Bach nur auf diese Besetzungsstärke zurückgreifen konnte, die aber ein kammermusikalisches Musizieren ermöglichte.


    Johann Friedrich Reichardt, Komponistenkollege, Musikschriftsteller und -kritiker, der das Werk in Bachs Wohnung nur mit einer Klavierbegleitung gehört hat, schrieb darüber:
    ...es herrscht ein solcher fliessender, angenehmer und natürlicher Gesang darinnen, wie ihn Kayser und Graun nur jemals gehabt haben. Ich erstaunte selbst darüber, wie sich dieser grosse Mann so sehr von seiner gewöhnlichen Höhe – die ihm so natürlich ist, wie dem Adler der Flug nahe bei der Sonne – hatte herablassen und einen leichten und armen Erdensöhnen so fasslichen Gesang singen können.
    Und wie passend, wie ganz erschöpft jeder Ausdruck war, wie stark, wie gewaltig das Geschrey des verzweifelten Volkes, wie originell der Ausdruck seines Spottes und Hohnes gegen Gott und ihren Führer, wie majestätisch die Sprache Mosis gegen das Volk, und wie flehentlich, wie tief in den Staub gebeugt demüthig, sein Gebet zu Gott, wie hinreissend fröhlich die Freude des erretteten Volkes, wie lieblich und angenehm überhaupt die ganze letzte Scene gegen die ersten grauenvollen erbärmlichen Scenen absticht, das kann ich Dir gar nicht ausdrücken, dazu giebt es gar keine anderen Zeichen, als Bachs eigene Thöne.
    (Johann Friedrich Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend. Zweyter Theil, Frankfurt und Breslau 1776).



    © Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2015
    unter Hinzuziehung des Textes in der Partitur [in Verlegung Authoris] von 1769 aus dem Besitz der Harvard University Library

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  • Links die Aufnahme des Labels d(eutsche) h(armonia) m(undi) mit Anja Petersen, Sarah Maria Sun, Daniel Johannsen und Johannes Weisser; weiter der Chorus Musicus Köln, und Das Neue Orchester; die Leitung hat Christoph Spering.


    Bei cpo, dem Hauslabel des Tamino-Werbepartners jpc, erschien die nebenstehende Einspielung mit Gudrun Sidonie Otto, Nele Gramß, Hermann Oswald und Michael Schopper. Wolfgang Brunner, Gründer und Leiter der Salzburger Hofmusik steht am Pult.


    Der Musikverlag Carus hat diese Aufnahme veröffentlicht: Frieder Bernius ist der Dirigent, bei ihm sind Joanne Lunn, Judith Gauthier, Samuel Boden und Tobias Berndt als Solisten eingesetzt; es singt der Kammerchor Stuttgart, es spielt das Barockorchester Stuttgart.

    :hello:

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