15.10.2015 (Musikhalle Hamburg) Hengelbrock und Gerhaher Robert Schumanns "Faust"-Szenen

  • Nach zwei Opernbesuchen (Don Carlos, Le nozze di Figaro) sollte gestern Abend das klassische Konzert wieder zu seinem Recht kommen:


    _____________________________________________________________________________________________


    Robert Schumann (1847 - 1853)
    Szenen aus Goethes "Faust" WoO 3


    Camilla Tilling (Gretchen, Una Poenitentium)
    Christina Landshamer (u.a. Sorge, Magna Paccatrix)
    Sophie Harmsen (u.a. Marthe, Mangel)
    Lothar Odinius (u.a. Ariel, Pater Ecstaticus)
    Christian Gerhaher (Faust, Pater Seraphicus, Doctor Marianus)
    Yorck Felix Speer (u.a. Pater profundus)
    Albert Dohmen (u.a. Mephistopheles)


    NDR-Sinfonieorchester und -Chor, sowie der RIAS Kammerchor unter der musikalischen Leitung von Thomas Hengelbrock
    _____________________________________________________________________________________________



    Ich bin nicht sicher, ob es Brahms war, der gesagt haben soll, Schumanns Faust-Szenen seien langweilig. Und auf den ersten Blick mag man dem zustimmen, denn schließlich handelt es sich "nur" um einige wenige Szenen dieses durch die europäische Kulturgeschichte mäandernden Stoffes, die nicht einmal zu den dramatischen Höhepunkten der Goethe'schen Dichtung gehören. Vielmehr handelt es sich her um Fragmente, denen ein wirklicher Handlungsverlauf nur zu entnehmen ist, wenn man den Faust zumindest inhaltlich einigermaßen kennt. Schlimmer noch, mehr als die Hälfte des gut zweistündigen Werkes bestreitet Schumann aus dem zweiten, auch für die meisten unter uns nur sehr schwer zugänglichen Teil des Faust. Andererseits komponiert Schumann hier mit einer geradezu überbordenden Musikalität, er erzeugt mit groß besetztem Orchester durch seine Instrumentierung (die ihm ja gerne vorgeworfen wird) die herrlichsten, aber auch die feinsten Farben und Bilder (passen hierzu vielleicht auch der aktuelle Thread Goethes Werke in der klassischen Musik). Passend dazu bezeichnete Thomas Hengelbrock in seiner Einführung die 3te Abteilung "Fausts Verklärung" als eine Bildbeschreibung.


    Entsprechend musizierte das gut aufgelegte Orchester, welches dieses Werk zuvor noch nie aufgeführt hat: Es entstand ein warmer, voller Klang, der die alles zu laute übelnehmende Muikhalle erfüllte. Allein die Bläser hatten bei leisen Einsätze bisweilen ihre Probleme. Interessant war es zu beobachten, wie die Violinen (spielend übrigens in deutscher Orchesteraufstellung) in diesem Stück praktisch vom Beginn an bis zum Ende zu spielen hatten. Großen Applaus gab es wieder einmal für die beiden Chöre, aus deren Reihen insbesondere einige solistische und kleinchorige Teile besetzt wurden. Für die großen Partien jedoch hatte sich Thomas Hengelbrock eine namenhafte Solistenriege zusammengestellt. Allen voran natürlich der Bariton Christian Gerhaher, ohne den zur Zeit eine Aufführung dieses Werkes kaum denkbar erscheint. Und wer ihn in seiner Rolle als Faust oder als Doctor Marianus mit der Zeile "Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben." gehört hat, weiß auch warum das so ist. Gerhaher präsentierte sich in seiner gesanglichen Darstellung auf eine Art und Weise glaubhaft, die mich alles andere um mich herum vergessen machte. Bewundernswert wechselte er zwischen feinem, liedhaften Gesang und herausfahrender, kraftvoller Baritonstimme. M.E. ein Sänger, der die Fußstampfen eines Fischer-Dieskau nicht nur betreten sondern mit eigenen Spuren schon wieder verlassen hat!
    An diesem Abend nicht weniger beeindruckend gestaltete Alfred Dohmen den Mephistopheles. Zur Rolle passend(?) mit einem schwarzen Mantel bekleidet sang er äußerst textverständlich und so böse, dass es schon fast "schwarz" klang. Im Gegensatz dazu hatte Lothar Odinius eine eher heller timbrierte, aber klangschöne Tenorstimme zu bieten, mit der er besonders in der Ariel-Szene der 2ten Abteilung beeindruckte. Last but not least wären Camilla Tilling als dramatisch ambitioniertes Gretchen und Christina Landshamer mit ihrer jugendlichen Stimme hervorzuheben.


    Es sei noch der Hinweis erlaubt, dass die heutige, zweite Aufführung für das NDR-Fernsehen aufgezeichnet und am 27.12.2015 um 09:20 Uhr gesendet werden soll.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Danke für den bereichernden Bericht von diesem selten aufgeführten Werk.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Auch ich danke für den Bericht, lieber Michael!


    Schlimmer noch, mehr als die Hälfte des gut zweistündigen Werkes bestreitet Schumann aus dem zweiten, auch für die meisten unter uns nur sehr schwer zugänglichen Teil des Faust.


    Ich glaube, ich bin einer der wenigen, die besonders Faust II interessant finden. Für mich sogar das Opus magnum Goethes. Im Grunde ja auch eine Art Vermächtnis des greisen Dichterfürsten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões