Das klingt nicht wie auf der Stuhlkante musiziert ........

  • Einmal mehr habe ich mir eine Aussage eines Forenmitglieds "gegrapscht" und als Titel eines Threads mißbraucht. Es scheint eine besondere Vorliebe der Forianer zu sein, Aufnahme, die "auf der Stuhlkante" musiziert wurde, zu hören.
    Bei mir lösen solche Aussagen einen Anfall von Skepsis aus. Warum bitte "auf der Stuhlkante"? Es erinnert mich an die Phrase "Wir danken für Ihre spannende Bewerbung". An Bewerbungen ist überhaupt nichts spannendes.
    So wie mich der Terminus "auf der Stuhlkante musiziert" irgendwie irritiert, weil er Assoziationen von Spannung und Tempo bei mir auslöst, genau das, was ich vermeiden möchte. Sicher es gibt "feurige" Werke (eher aber Stellen), aber auch majestätisch erhabene oder kontemplativ entspannte, süssliche, von Liebreiz durchzogene, aber der "sportive" Geist, der manch einer heutigen Interpretation anhaftet, tötet mir den Geist ..... vor allem dann, wenn er IMO nicht angebracht ist.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • So wie mich der Terminus "auf der Stuhlkante musiziert" irgendwie irritiert, weil er Assoziationen von Spannung und Tempo bei mir auslöst, genau das, was ich vermeiden möchte. Sicher es gibt "feurige" Werke (eher aber Stellen), aber auch majestätisch erhabene oder kontemplativ entspannte, süssliche, von Liebreiz durchzogene, aber der "sportive" Geist, der manch einer heutigen Interpretation anhaftet, tötet mir den Geist.....vor allem dann, wenn er IMO nicht angebracht ist.


    Siehst Du, lieber Alfred, bei mir ist es genau umgekehrt: ich liebe Feuer und Spannung, und deswegen mag ich auch genau solche Interpretationen, die "auf der Stuhlkante musiziert" sind oder mich beim Hören "vom Stuhl reißen". Natürlich gibt es z.B. in Symphonien und Konzerten auch Stellen, die erhaben und majestätisch sind und auch so musiziert werden sollen, aber doch nicht nur. Leibreiz ist auch schön, bei "süßlich" bekomme ich hingegen Ausschlag. :hello:

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • In der anspruchsvollen Chormusik (Kammerchöre, Vokalensembles usw.) pflegen gute Dirigenten die Sitte, ihre Choristen zu einem gespannten, aber nicht verspannten Sitz auf der Stuhlkante zu ermuntern. Jemand, der weit nach hinten lehnt oder gar die Beine kreuzt (die Sofahaltung), kann in dieser Haltung nicht richtig singen, weil er seinen Körper schließt, statt ihn zu öffnen. Bei guten Instrumentalisten sieht man das auch. In diesem Fall hat die "Stuhlkante" eine nur positive Bedeutung. Beim Singen im Konzert ändern sich dann die Regeln: verpönt ist das anhaltende Starren in die Partitur oder das Absuchen der Kirche nach Bekannten, die einen bewundern könnten. Da ist die Stuhlkante der wechselnde Kontakt zu Dirigent und Noten.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Dieser Satz könnte von mir sein. Ich meine, auch die Körpersprache ist nicht nur optisch interessant, sondern auch musikalisch für das Ergebnis mit ausschlaggebend. Sicher ist es richtig, bei ruhigen langsamen Sätzen sich auch als erster Geiger zurückzulehnen und die Musik auszuspielen. Nimmt sie aber Fahrt an und der Dirigent forciert das Tempo, meistens verbunden mit einem crescendo, dann sieht man die Musiker bei renommierten Orchestern, ich sehe das häufig bei den Berliner Philharmonikern, eben auf der berühmten Kante sitzen, weil die Musik und z.B. der voll durchgezogene Bogen das erfordert. Die Wirkung ist größer, wenn der Körper mit der Musik mitgeht. Verfügt der Dirigent dazu über das entsprechende Temperament, so werden sich die Orchestermitglieder nicht zurückhalten. Bleiben die Musiker auch beim feurigen Finale an der Lehne festgeklebt, das passt irgendwie nicht. Das Ganze kann dann ja auch gut sein, sehr gut aber meistens nicht. Das gilt selbst für die berühmte aber selten gespielte Kleine Nachtmusik.
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Bei uns Choristen, und da wird mir der Dottore zustimmen, ist das Bild von der Stuhlkante vor allen Dingen in der Probe gebräuchlich. Ich sitze immer so, weil der Körper dann geöffnet ist, zum Singen bereit. Wenn wir einen Chorsatz dann einstudiert haben, singen wir ihn zum Festigen noch einmal, nicht, ohne dass unser Chorleiter uns kurz aufgefordert hat: "Herren im Stehen, Damen Stuhlkante". Auch das hat seine wohlverstandene Bewandnis.
    In diesem Sinne, fröhliches Singen, Musizieren oder was auch immer!


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Ich meine, auch die Körpersprache ist nicht nur optisch interessant, sondern auch musikalisch für das Ergebnis mit ausschlaggebend. Sicher ist es richtig, bei ruhigen langsamen Sätzen sich auch als erster Geiger zurückzulehnen und die Musik auszuspielen. Nimmt sie aber Fahrt an und der Dirigent forciert das Tempo, meistens verbunden mit einem crescendo, dann sieht man die Musiker bei renommierten Orchestern, ich sehe das häufig bei den Berliner Philharmonikern, eben auf der berühmten Kante sitzen, weil die Musik und z.B. der voll durchgezogene Bogen das erfordert. Die Wirkung ist größer, wenn der Körper mit der Musik mitgeht.


    Nicht zwingend. Es gibt tatsächlich Musiker, die mit fadem Aug und zurückgelehnt die virtuosesten Sachen absolvieren. Ist natürlich für's Auge des Publikums nicht ansprechend.

  • Ich benutzte diesen Ausdruck kürzlich, als es um Rattles Sibelius ging und ich ihm bescheinigte, dass seine Interpretationen für mich nicht ganz vorne stünden. Geprägt habe ich die Wortwahl natürlich nicht.


    Ich meine, das zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Kriegsaufnahmen von Wilhelm Furtwängler gelesen zu haben. Und wenn man sich die wenigen erhaltenen Videoaufnahmen ansieht, dann wirkt das Berliner Philharmonische Orchester tatsächlich auch optisch angespannt und höchst engagiert. Da wurde ja zuweilen regelrecht ums eigene Leben gespielt, mitunter sogar bei Bombardierungen aus der Luft. Natürlich brauchen wir diesen als Nebeneffekt auch spannnungssteigernden Faktor heute nicht mehr. Um Gottes Willen!


    Im weiteren Sinne bedeutet "auf der Stuhlkante musizieren" für mich einfach engagiertes Spiel des Orchesters. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit der Jagd nach Geschwindigkeitsrekorden zu tun. Manche Dirigenten verstanden es, die Spannung gerade bei langsamen Tempi bis ins Unermessliche zu steigern.


    Zudem assoziiere ich damit ein Orchesterspiel, das nicht "zu Tode" eingeprobt wurde und somit noch einen Hauch von Spontaneität mitschwingt. Musik entsteht im Augenblick, da pflichte ich Furtwängler, Knappertsbusch und Celibidache bedingungslos bei. Und das muss man eben auch hören können.


    Also lieber ein paar Unsauberkeiten als eine statische Aufführung, in der nichts gewagt wird, in der alles wie in einer perfekten Studioaufnahme klingt, der die Lebendigkeit der Live-Aufführung fehlt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Im weiteren Sinne bedeutet "auf der Stuhlkante musizieren" für mich einfach engagiertes Spiel des Orchesters. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit der Jagd nach Geschwindigkeitsrekorden zu tun.


    Mit diesem Zitat von Josef ist es doch auf den Punkt gebracht.
    :thumbsup: Mir ist auch jede "Stuhlkantenaufnahme" lieber als zum Beispiel langweiliges emotionsloses "vom Blatt Spiel" !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Es gibt tatsächlich Musiker, die mit fadem Aug und zurückgelehnt die virtuosesten Sachen absolvieren


    Ja- die "alte Garde" der Wiener Philharmoniker vergangener Tage. Ich habe es stets sehr genossen, wenn sie ihren Instrumenten die herrlichsten Klänge entlockten, mit verkniffenen und verbitterten Gesichtern, gezeichnet von Frust und Desinteresse....
    Objektivierend ist dazu zu sagen, daß Musikern der "alten Schule", vorzigsweise Dirigenten und Pianisten, eingebläut wurde, es sei nicht vornehm und nicht elegant, sich über Gebühr zu bewegen. Eine aristokratisch, majestätische Haltung sei angebracht....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tatsächlich erwische ich mich bisweilen selbst als Zuhörer (häufiger in Konzerten, weniger in der Oper) dabei, wie ich den Vortrag gebannt nur noch auf der Stuhlkante sitzend verfolge - und dies nicht, um besser sehen zu können. Eventuell handelt es sich also um ein "natürliches" (physiologisches) Verhalten, welches einen dazu treibt, bei großer - positiver oder auch negativer - Anspannung bzw. Konzentration an die berühmte Stuhlkante heranzurücken, um quasi gleich aufspringen zu können. Da es sich nun bei Musikern auch "nur" um Menschen handelt, läßt sich dieses Phänomen vermutlich einfach übertragen ;)

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Die Formulierung des "Auf der Stuhlkante spielen" ist, man mag es mir verzeihen, doch auch etwas zur musikalischen Feuilleton-Phrase verkommen. Die kammermusikalische Variante dazu ist übrigens, dass "das Kolophonium nur so durch den Saal spritzt". Siehe zum Beispiel hier. Naja - ist halt schwer, über Musik zu sprechen, die ja doch auch immer etwas Un-Sagbares enthält - auch und gerade im Begeisternden.


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."