Sollte es wirklich keinen eigenen Thread über Leonie Rysanek geben, der diesen Namen verdient? Ich habe keinen gefunden, obwohl sie im Forum oft und meist mit großer Bewunderung genannt wird. Ein Thread beschäftigt sich – schon im Titel - mit einer Ausstellung über die Sängerin in Wien, die 18. Mai 2008 geschlossen wurde. Darin finden sich allerdings einige sehr schöne persönliche und treffende Elogen. Freund Willi benutze heute diesen Ausstellungs-Thread, um ihres Todestages zu gedenken. Die Rysanek also. Ich halte sie für eine der bedeutendsten Opernsängerinnen der Nachkriegszeit. Am 14. November 1926 in Wien geboren, dort am 7. März 1998 auch gestorben. Ihr Grab befindet sich auf dem berühmten Wiener Zentralfriedhof. Im 22. Bezirk gibt es einen Leonie-Rysanek-Weg. Ihre Schwester Lotte stand als Sängerin im Schatten der berühmteren jüngeren Schwester. Wer sie selbst erlebt hat auf den Bühnen dieser Welt, schwört, dass sie nur dort zu ihrer eigentlichen Größe wuchs. Dabei sollen nicht alle Abende zu ihrem Ruhme beigetragen haben, je näher sich die Karriere ihrem Ende neigte. Aber dann gab es immer wieder diese Vorstellungen, bei denen sie mit ihrem flammenden Sopran alles in ihren Bann schlug, was Parkett und Ränge füllte. Selbst zufällige Opernbesucher, die noch nie zuvor von ihr gehört hatten, sollen durch sie für den Rest ihres Lebens mit Oper infiziert gewesen sein. Die Rysanek war durch Präsenz und Individualität die beste Werberin für diese Kunstform. In die Kulissen des so genannten Regietheaters hätte sie nicht gepasst. Sie war ihr eigenes Regietheater. Unorthodox, wie die Rakete, die an beiden Enden in Flammen steht.
Ihre Aufnahmen - in der Mehrzahl Mitschnitte - vermitteln davon zwar eine starke Vorstellung, das Bühnenerlebnis ersetzen sie nicht. Eines meiner liebsten Rysanek-Dokumente ist ihre Gutrune in der Götterdämmerung aus dem Münchener Prinzregententheater, die Hans Knapperstbusch 1955 dort aufführte.
Sie ist eine der wenigen dokumentierten Produktionen, die diese Partie vom Rande ins Zentrum rückt und ihr neben der Brünnhilde – gesungen von der aufstrebenden Birgit Nilsson – die Wichtigkeit gibt, die ihr bei genauer dramaturgischer Lesart tatsächlich zukommt. Noch immer werde ich den Eindruck nicht los, dass sich damals eine kommende Brünnhilde abgezeichnet hat. Tat es aber nicht. Brünnhilde hatte sich für die Rysanek offenbar bereits 1950 erledigt. Damals debütierte sie in der österreichischen Provinz als Walküren-Brünnhilde, ohne dass es eine Fortsetzung gab. Nur im amerikanischen Spielfilm „Frauen um Richard Wagner“ (im Original „Magic Fire“) versuchte sie sich 1954 nochmals mehr anekdotisch in dieser Rolle mit einem kleinen, von Erich Wolfgang Korngold musikalisch bearbeiteten Ausschnitt aus dem Götterdämmerungs-Schlussgesang. Es gehört zu den Stärken der Rysanek, dass sie ihre Fachgrenzen Richtung Hochdramatische nie überschritt, was ihr eine lange Karriere beschied. Mit der Elektra im Film von Götz Friedrich wollte sie lediglich ihrem Mentor Karl Böhm einen Gefallen tun. Das Ausdrucksspektrum dieser Partie vermochte sie nicht nachhaltig zu erweitern. Zu groß war die Konkurrenz. Eine der Rollen ihres Lebens dürfte die Kaiserin in der „Frau ohne Schatten“ von Strauss gewesen sein. Die Stereo-Schallplattenproduktion der Decca aus Wien mit Böhm am Pult, der diesem schwierigen Stück mit Hilfe der Rysanek zu weltweitem Durchbruch verhalf, ist bis heute kaum zu toppen. Als Kaiserin hat die Rysanek nach meiner Auffassung keine echte Nachfolgerin gefunden, die es mit ihr hätte aufnehmen können in der überzeugenden Gestaltung dieser zerrissenen Frau. Sie hat die Kaiserin fast zwanzig Jahre lang gesungen, nur überboten von der Sieglinde, die sie erstmals 1951 bei den Bayreuther Festspielen und letztmalig 1989 an der Wiener Staatsoper sang. Das dürfte Rekord sein. Ein Rekord, der zu Leonie Rysanek passt. Ihr Repertoire wurde mit den Jahren schmaler, was so auch bei anderen Sängerinnen ihres Kalibers zu beobachten ist. Es müssten also noch andere Rollen genannt werden - Leonore, Lady Macbeth, Marschallin, Ariadne, Chrysothemis, Klytämnestra, Senta, Kundry, Elisabeth, Ortrud, Elsa ... Ich finde nicht mehr alles gut. Der Schrei der Salome zum Beispiel, den sie ausstößt, wenn der Kopf des Jochanaan aus der Zisterne gereicht wird, ging mit als junges Ding durch und durch. Heute scheint er mir fast lächerlich. Das spricht nicht gegen die geliebte Sängerin. Sie war halt so.
Dieses Buch ist ein sehr schönes Abbild der langen Karriere von Leonie Rysanek. Es ist prachtvoll ausgestattet und geht weit hinaus über eine persönliche Biographie mit unzähligen Bildern. Es reflektiert fast ein halbes Jahrhundert internationale Operngeschichte. Einst war es sündhaft teuer, jetzt ist es sehr preiswert zum Beispiel bei Amazon zu haben. Aufnahmen waren bereits im Ausstellungs-Thread vorgestellt worden. Ein Glücksfall sind diese beiden Produktionen der schon erwähnten "Frau ohne Schatten" von 1955 - einmal Studio, einmal live. Lediglich der Färber ist unterschiedlich besetzt (Studio Paul Schoeffler, live Ludwig Weber). Insgesamt sind vierzehn Aufnahmen der Kaiserin nachweisbar. Ein Mitschnitt aus München ist noch um ein Jahr jünger als die Wiener Produktion.
Schließlich sollen auch DVD-Ausgabe und Filmmusik-CD nicht vergessen werden, in denen Leonie Rysanek mit einer kurzen Sequenz aus dem Schlussgesang der Brünnhilde zu hören ist.
Zwei Zeugnis ihrer seltenen Ausflüge aufs Konzertpodium sind das "Requiem" von Giuseppe Verdi und das "Te Deum" von Walter Braunfels: