Opernregie im Kreuzfeuer der Kritik: Verdi Otello Salzburg 2008 (Regie: Stephen Langridge)

  • Liebe Musikfreunde,


    nachdem in Threads über Opernregie, insbesondere über das Regietheater, der Wunsch geäußert wurde, die eigene Position jeweils anhand konkreter Beispiele zu erläutern, möchte ich diese Anregung aufgreifen und einen Vorschlag dazu machen.


    Hans hat dankenswerterweise ein paar Kriterien dafür erarbeitet, die ich hier gerne auflisten möchte:


    Es sollte nach Möglichkeit ein gängiges Repertoire-Stück sein, das sowohl moderne als auch traditionelle Inszenierungskonzepte zulässt. Nach der Ausstrahlung sollten die Taminos, die mitmachen wollen, jeder seine eigene Rezension schreiben, vielleicht in einem Umfang von 50 - max. 75 Zeilen. Sonst bitte keinerlei weitere Vorgaben. Was wir anstreben sollten,ist eine völlig freie, unbeeinflusste Meinungsäusserung, die ganz verschiedene Sichtweisen zulässt und eine möglichst große Meinungsvielfalt garantiert. Hilfreich wäre es, wenn diese Aufnahme käuflich erworben werden könnte. Ich kann z. B. nicht aus dem Fernsehen aufnehmen, obwohl alle Geräte dafür vorhanden sind.


    Somit ergibt sich schon bald die nächste Möglichkeit:


    Verdis OTELLO wird am nächsten Samstag im Fernsehen gezeigt:


    Samstag, 17. Januar
    Verdi: Otello
    Aus dem Großen Festspielhaus Salzburg, 2008
    3Sat 20:15 Uhr, 150 Min., Oper


    Ob die Oper im TV wiederholt oder in einer Mediathek zu sehen sein wird, weiß ich leider nicht.


    Diese Aufführung gibt es jedoch auch zu kaufen:



    Auch auf Videoplattformen wie "dailymotion" und youtube finden sich mehr oder weniger zusammenhängende Teile dieser Inszenierung.


    Laut eines amazon-Rezensenten, Hans-Georg Seidel, handelt es sich hier um


    "Eine Stephen Langridge Inszenierung, die dramatisch stützende, atmosphärische Räume zeichnet und für traditionelle Vorstellungen ein Bisschen gewöhnungsbedürftig sein könnte, ohne allerdings eine völlig abstrahierende Note zu haben. "


    Ich selbst kenne die Aufführung noch gar nicht und bin von daher sehr gespannt. Ich werde sie auf jeden Fall im Fernsehen anschauen und auch kommentieren.


    Von daher wären also die Bedingungen gegeben, über die TV-Ausstrahlung hinaus auf jeden Fall Zugriff auf die Inszenierung zu erlangen und, selbst wenn es zu einem späteren Zeitpunkt ist, in einen lebhaften Diskurs einzutreten.


    Ich hoffe sehr auf zahlreiche Beteiligung und rege Diskussionen!

  • Danke, lieber Don Gafeiros, für Deine Initiative. Dieser uns allen zugängliche "Otello" ist sicherlich eine mögliche Grundlage, um unsere "Konkret-Diskussion" zu beginnen. Wie gut, dass es diese DVD bereits zu kaufen gibt. Da ich ein Narr bin, der auch bei einem Faschingsverein aktiv ist, kann ich am 17. Januar diie Fernsehaufzeichnung nicht sehen, bestelle jedoch sofort selbstverständlich über den Link hier im Forum die Aufnahmen. Hoffen wir, dass zahlreiche Taminos die Chance zu einer geänderten Diskussionsform ergreifen.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Großartig, eine Sternstunde. Mustergültige Personenführung, ideal verkörperte Charaktere, wundervolle Stimmen. Auch in der Nahaufnahme mimisch ein Genuß. Otello und Desdemona, beide von faszinierend exotischer Ausstrahlung, perfekt ausbalanciert (und das will bei diesem Otello was heißen). Und was für ein Jago!


    Bei aller Überhitzung ist das Drama (auch bei Shakespeare) nie ganz frei vom kühl-kalkulierten und vorgeführten Ablauf einer psychologischen Maschninerie (daran erinnerten auch in Salzburg die porträthaften Zuschauer höfischer Prävenienz). Otello sprengt eigentlich alle Begriffe menschlicher Eifersucht, so wie Jago sich dem Bösen in Menschengestalt annähert. Die Inszenierung beließ das Monströse in räumlichen Andeutungen (Risse und Brüche der Kulissen). Mit diesen Sängern wäre vielleicht noch Schonungsloseres möglich gewesen. Aber die gezeigte, eher dezente Umsetzung kam auf ihre Weise einem theatralischen Ideal sehr nahe.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eine wunderbare Aufführung, die man sich mit Genuss ansehen und anhören konnte. Ich hatte sie vor Jahren schon einmal gesehen.
    Carlos Alvarez war ein idealer Jago, der diesen intriganten Bösewicht großartig verkörpert hat. Auch alle andern Sänger großartig, auch der junge Stephen Costello als Casio.


    :hello:


    jolanthe

  • Einstweilen schon einmal mein erster Eindruck: ich schließe mich farinelli und Jolanthe an, es war großartig.


    Die szenische Umsetzung von Stephen Langridge war m. E. sehr gelungen; sie blieb meiner Einschätzung nach relativ nah an den Vorgaben des Librettos, ohne eine rein historisch-naturalistische Umsetzung anzustreben. Es gab einige Elemente, die symbolische Brechungen der Szenerie darstellten, jedoch ohne den zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten Gewalt anzutun. Durch kunstvolle Andeutung ließ sich die Handlung durchaus räumlich und zeitlich im Sinne des Librettos festlegen, ein Umstand, der mir, wie vielen Freunden eher traditionell geprägter Inszenierungen, nicht unwesentlich erscheint.
    Dass hier dennoch eine spannende, fesselnde Deutung möglich war, ohne sich übermäßig von dem zu entfernen, was Arrigo Boito verfasst hat, ist ein großes Verdienst dieser Opernaufführung.


    Ich pflichte farinelli bei: Personenführung und Charakterisierung waren sehr gut durchdacht und hervorragend umgesetzt.


    Alexandrs Antonenko singt mit solider Tiefe, ohne übertrieben baritonal zu klingen, und verfügt gleichzeitig über eine strahlende Höhe. Seine Durchschlagskraft und metallischer Glanz sind für diese Partie hervorragend geeignet. Er hat eine sehr virile, düstere, harte Ausstrahlung, die zwischendurch immer wieder in sich zusammenbricht, um dann immer wieder aufs Neue aufgerichtet zu werden. Er stellt glaubhaft einen Menschen dar, der sich als Außenseiter seinen Weg zur Macht, zur gesellschaftlichen Anerkennung, zum Herzen seiner Geliebten bahnen muss, und der in permanenter Sorge lebt, all dies wieder verlieren zu können. Antonenko verkörpert seine Rolle bezwingend mit bohrender Intensität.


    Ein Glücksfall ist Marina Poplovskaja als Desdemona: nicht nur, dass sie herzzerreißend singt, ihre Stimme hat ein sehr liebliches, exquisites Timbre, und trägt auch mühelos in leisesten Piano und Pianissimo-Passagen; ihre engelhafte Ausstrahlung, ihr heller Teint bzw. ihr helles Haar, das weiße Gewand, lässt zusammen mit ihrer musikalischen Darbietung ein Bild der Unschuld und Reinheit entstehen, das in keinem Moment aufgesetzt oder unglaubhaft wirkt.
    Eine ganz tolle Szene fand ich zum Beispiel, wie sie sich schlafen legt, nur noch eine Kerze brennt, sie in ihrem weißen Nachthemd zusammengekauert da liegt und dann der Schwenk in die Extreme Totale kommt: klein, fragil und verletzlich wird sie von der Größe des riesigen, schwarzen Raumes geschluckt, der sie umgibt. Kurz darauf erscheint Otello und löscht die Kerze - wenige Momente, bevor er ihr Lebenslicht auslöscht. So gab es noch eine ganze Reihe starker, eindrucksvoller Szenen.


    Jago, hier glanzvoll dargestellt und gesungen von Carlos Alvárez, war ein Musterbeispiel an Dämonie und raffinierter Verstellungskunst, sehr souverän und facettenreich gesungen.


    Ricardo Muti und die Wiener Philharmoniker befeuern die Handlung durch einen kraftvollen, temperamentvoll dirigierten Orchesterpart.


    Insgesamt für mich eine tolle Aufführung, die mich in den Bann gezogen hat. Diese Inszenierung hat meiner Meinung nach den Spagat zwischen traditioneller und innovativer Lesart gut gemeistert: es wurden keine unnötigen Brüche vollzogen, die dem Geist der Entstehungszeit bzw. dem Libretto allzu sehr zuwiderliefen, andererseits wurde hier auch weitaus mehr geboten als hölzernes Rampensingen vor antiquierter, überladener Kulisse. Hier hatte ich den Eindruck, dass die Inszenierung komplex und gut durchdacht war, und daher auch gut auf übertriebene, provozierende Schock- und Verfremdungseffekte verzichten konnte. Die Geschichte wurde für mein Empfinden authentisch, glaubhaft und atmosphärisch dicht umgesetzt, ohne dass dem Geist des Librettos Gewalt angetan worden wäre.


    Wenn sich in dieser Art und Weise Musik und Regie zusammenfügen, ist die Oper nach wie vor eine eminent wirkungsmächtige Gattung -- und diese Aufführung habe ich gerne gesehen -- dafür wäre ich dann auch gerne ins Theater gegangen.

  • Diese Inszenierung des "Otello" ordne ich nicht in das ein, was ich unter "Verunstaltungstheater" verstehe. Die Regie hält sich durchaus an das Libretto, das Bühnenbild, wenn auch etwas abstrahiert (ich erwarte durchaus keine pompösen Aufbauten) lässt den Ort der Originalhandlung erahnen, die verschiedenen Szenerien werden durch die Videowand im Hintergrund deutlich gemacht. Einige szenische Einfälle (das Schwert, der Riss im Boden, das zerbrechende Glaspodest) verstärken den optischen Eindruck. Die Kostüme sind so gestaltet, dass man sich durchaus in die vorgegebene Zeit versetzt fühlen kann. Außer wenigen Kleinigkeiten (etwa die Misshandlung des Gefangenen oder das Zerquetschen von Beuteln mit roter Flüssigkeit in den Händen von Otello und Jago, auf die man gerne hätte verzichten können), die durch die Bildführung, die oft zu nahe heranging, verstärkt wurden, gab es für mich kaum etwas auszusetzen. Andererseits ließ diese aber auch die oft hervorragende Darstellung der Gefühle der Protagonisten stärker zur Geltung kommen, wobei natürlich auch der triefende Schweiß stärker sichtbar wurde.
    Die einzelnen Sänger möchte ich hier nicht mit denen aus anderen Inszenierungen vergleichen. Gesangliche Qualitäten zu beurteilen, fühle ich mich nicht kompetent genug. Ich würde die Besetzung insgesamt zwar nicht als hervorragend aber doch angemessen gut bezeichnen. Insbesondere hat mir Carlos Alvarez als Jago gefallen, wenngleich ich auch hier schon dämonischere Darstellungen gesehen habe.
    Insgesamt kann ich mich in der Beurteilung meinen Vorgängern in diesem Thema weitgehend anschließen . Mir hat diese Aufzeichnung gezeigt, dass man mit modernen Mitteln auch angemessene Inszenierungen gestalten kann, ohne die Handlung des Originals zu entstellen und die Figuren in irgendwelche selbstherrlich erdachten Personen unbedingt in der langweiligen Straßenkleidung unserer Zeit an der Rampe singen zu lassen. So darf modernes Theater sein.
    In Salzburg gibt es - anders als zur Zeit in Bayreuth - ab und zu auch einmal sehenswerte Inszenierungen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Die Sieger dieses Salzburger Otellos waren Ricardo Muti und die traumhaft präzise zusammenspielenden Wiener Philharmoniker und der Wiener Staatsopernchor. Von der musikalischen Seite wurde alles geboten, was der Otello verlangt: Verve, Attacke, herrliche Kantilenen zum Beispiel beim Liebesduett und feine Ausdeutung und Ausformung der zart lyrischen Passagen, außerdem durchweg ein harmonisch austarierter Orchesterklang. Diese Dominanz des Orchesters führte zu einer Überbetonung des symphonischen Charakters, so dass die Aufführung oft mehr den Eindruck eines szenischen Oratoriums als einer dramatischen italienischen Oper machte. So wichtig das Orchester auch sein mag, in der italienischen Oper sind es die Stimmen, die den Figuren Leben einhauchen. So sehr sich der Tenor Alexander Antonenko in der Titelrolle auch bemühte, lyrisch fein nuanciert mit leichter Höhe zu singen, die Dramatik, ja Raserei des gedemütigten Helden konnte er kaum erlebbar machen. Maria Poplavskaja ist eine zauberhafte Erscheinung mit einem tragenden lyrischen Sopran, mit dem sie besonders die Opferrolle der Desdemona mit herrlichen Piani glaubhaft gestaltet. Der einzige, der Dramatik ins Spiel bringt, ist Carlos Alvarez, ein geradezu teuflischer Intrigant. Sein Credo wird durch die schneidende Intenstität des Vortrags zu einem Höhepunkt der Aufführung. Dass dieser Otello trotz der überragenden Leistung von Muti, den falbelhaft spielenden Wiener Philhamonikern und den stimmlich guten Leistungen der Sänger nicht an große Realisierungen des Werkes heranreicht, liegt am Regisseur Stephan Langridge. Er lässt seine Sänger allein, stimulierende Personenregie und gezielte Personenführung sind wenig erkennbar. Vieles wirkt zu statuarisch, zu wenig bewegt und lebendig. Auch die Hinterhofdekoration mit einer Schräge in der Mitte, ist, weil weitgehnd offen akustisch schwierig und für temperamentvolles Spiel wenig geeignet. Insgesamt wird eine konzertante Sinfonie mit Stimmen geboten. Kaum ausreichend für eine der dramatischsten Verdi Opern. Allerdings wird das Werk weitgehend werkgetreu umgesetzt. Der Spagat zwischen traditioneller Inszenierung und neuer Deutung durch den Versuch, Seelenbilder der Protagonisten psychologisch auszuleuchten, ist bedingt gelungen. Es ist eine Aufführung, die durchaus befriedigt, musikalisch sogar voll überzeugt. Für einen "normalen Theaterabend" hätte dies genügt, für die Salzburger Festspiele war es zu wenig.


    Herzlichst
    Operus


    Liebe Freunde,


    Ihr habt in den vorstehenden Beiträgen diesen Otello weit besser beurteilt als ich ihn empfunden habe. Genau diese verschiedenen Blickwinkel, diese Gegensätzlichkeiten in den Meinungen brauchen wir, wenn unsere Diskussion über Inszenierungen und Regiestile etwas außer Austausch zementierter Meinungen bringen soll. Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis und hoffe auf ein weiter so!


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Operus,


    aufgrund deines Beitrags habe ich einmal in den Kritiken im Internet recherchiert und folgende Kritik gefunden, die die Inszenierung ähnlich wie du einschätzt:
    http://diepresse.com/home/kult…esst-Riccardo-Muti-das-zu
    Dass es von Otello auch eine Pariser Fassung gibt, auf die Muti und Langridge zurückgegriffen haben, war mir neu. Dass Verdi für eine Aufführung dort eine Balletteinlage hinzu komponieern musste, scheint ja nach der damaligen französischen Auffassung von der Oper verständlich, unbekannt war mir jedoch, dass er dafür das Große Ensemble beim Empfang Lodovicos gekürzt hat.


    Lieber Don Gaiferos,


    leider ist es wieder so, dass sich bei konkreten Themen die großen Theoretiker nicht beteiligen. Das Ergebnis des Versuchs ist recht dürftig. Ich hatte diesmal etwas mehr erwartet.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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  • Riccardo Muti ist immer noch der führende Verd-Interpret der Gegenwart.
    Der Otello von 2008 beweist es jedem, der ein Ohr für Verdi hat.
    Die Sänger waren im Vergleich mit heutigen Verdi-Interpreten hervorragend.
    Die Desdemona mit sehr schöner Stimme, die auch ein hervorragendes Piano
    zu bieten hatte. Der Otello war ein echter Otello-Interpret mit dunklem Timbre
    und mit dramatischem Ausdruck. Der Jago war auch optimal besetzt.
    Die übrigen Solisten ließen ebenfalls keine Wünsche übrig.
    Chor und Orchester, wunderbar.
    Die Inszenierung hat mich nicht gestört.


    (Dies ist meine subjektive Meinung)


    :hello: Herbert

    Tutto nel mondo è burla.

  • Liebe Freunde, verehrter Operus,


    ich finde dein Gesamturteil, gelinde gesagt, überspitzt. Ich habe seinerzeit, hier in Köln unter Bytschkow, in der Philharmonie eine konzertante Aufführung des Otello erlebt, übrigens in der dritten Reihe (man hörte ganz ausgezeichnet). J. Botha als Titelheld sang m.E. genau so statisch, wie du es hier für Antonenko formulierst, ohne das letzte Quentchen dramatischer Selbstpreisgabe. Da hatten wir es in Salzburg entschieden besser.


    Ich möchte dennoch ein wenig Kritik anbringen (Jammern auf allerdings sehr hohem Niveau): Mutis Otello hat mich nicht erschüttert. Das liegt zum einen am Stück selber. So großartig Boitos Libretto ist - die Entwicklung der Figuren ist kaum faßbar. Daher war Desdemona die dramaturgisch glaubwürdigste Figur, aber auch sie bot, sehr böse gesagt, nur ein idealtypisches Abziehbild, keine greifbar nuancierte Individualtät und psychologische Konkretion. Ihre Unschuld und Reinheit war in jedem Augenblick so unbezweifelbar, daß man Otello in seiner Verblendung stets bedauerte, aber sich nicht von seinem Wahn anstecken ließ. Es fehlte das Wanken des Bodens, der Verlust jedweder Verläßlichkeit, der Verrat jeder menschlichen Beziehung.


    Wenn Otello (und das gilt sogar für Shakespeares Stück) bloß eine Marionette in Jagos Fängen bleibt, läuft das Drama ins Leere. Die Ambivalenz des Titelhelden ist vielschichtig umsetzbar, etwa durch einen Altersunterschied zu der jungen Gattin, was schon von selbst ein psychologisches Gefälle in die Liebesbeziehung bringt. Ein junger, hitziger Otello wie in Salzburg sollte auch als Liebhaber überzeugend sein. Das große Liebesduett war von der Regie, und damit von den Sängern, verschenkt. Ich möchte "Venere splende" in seinem Hintersinn nicht im Astronomiebuch nachschlagen müssen, sondern ich will das Zittern des Begehrens in Otellos Stimme hören. Wenn sich die Ehegatten wie zwei Edelleute artig gegenüberstehen und ansingen, ist mir das zuwenig. Otello als einen hochdisziplinierten, distanzierten Staatsmann zu zeichnen, der sozusagen auch seine Eifersucht im Zaum hält, ist eine mögliche, aber nicht sehr ergiebige Lösung. Auch die Lichtregie war langweilig, wenn man an die rauschhaften Implikationen von "Già nella notte densa" oder das Täuschungsmanöver mit dem Taschentuch denkt.


    Man kann, und zumal mit so guten Sängern, weiter gehen und fragen, ob Otello etwa per se ein nur oberflächlich akkreditierter, um seine Reputation ringender Außenseiter ist. Irgendwo entsteht ein Riß in der Fassade, und alles beginnt zu bröckeln. Das gab es in Salzburg, wie gesagt, nur als Raummetapher in der Kulisse. Ist Desdemona vielleicht auch bloß Teil dieser Fassade, muß Otello sie erst umbringen, um sie wahrhaft lieben zu können? Bei Shakespeare beginnt das Stück mit dem Raub der jungen blonden Patriziertochter, deren schwärmerische Jugend nicht verhehlt, daß der reifere Feldherr aus dem Maurenland nicht nur unbesehen, sondern zumal wegen seiner exotischen Virilität zum Liebhaber gewählt wurde, über alle gesellschaftlichen Schanken hinweg (der Text ist da sehr drastisch).


    Aber eine psychologische Durchdringung der Charaktere war nicht das Anliegen der Salzburger Aufführung - eher eine idealtypisch objektivierte Veranschaulichung der Intrige, diesseits aller inneren Verwicklungen. Eine Art Musteraufführung, ein klingender Opernführer. Das ist gar keine kleine Aufgabe.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Danke, lieber Farinelli, für Deine analytisch, tiefgründige Betrachtung, die zum Nachdenken anregt.


    Herzlichst
    Operus

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  • Das große Liebesduett war von der Regie, und damit von den Sängern, verschenkt. Ich möchte "Venere splende" in seinem Hintersinn nicht im Astronomiebuch nachschlagen müssen, sondern ich will das Zittern des Begehrens in Otellos Stimme hören.

    Das war es auch, das mich an dieser Aufführung am meisten gestört hat, aber nicht vom Gesang her.
    Dieser entrückte, oder eher teilnahmslose Blick in die Ferne schien mir den Regisseur zu suchen, damit dieser im zeigen soll, wo er sich hin zu stellen hat.
    Und was hatte das Taumeln zu bedeuten? Die Vorausnahme des späteren Versagens?
    Davon weiß aber doch nur der Zuschauer, oder sind da höhere Mächte im Spiel? Die ganze Szene machte auf mich einen etwas unbeholfenen, rustikalen Eindruck.
    Der Sinn, dem Zuschauer das schweißgebadete Gesicht eines Liebhabers in Nahaufnahme vor Augen zu führen, ist mir auch nicht verständlich.
    Nun gehört ja Langridge nicht zu meinen Regisseurfavoriten,
    doch muss ich anerkennen, dass er im Vergleich zum Stockholmer Lohengrin schon kräftig zurück gerudert hat.
    Ein Gesinnungswandel, oder war ihm die Brandung zu heftig?

  • Wenn Otello (und das gilt sogar für Shakespeares Stück) bloß eine Marionette in Jagos Fängen bleibt, läuft das Drama ins Leere.


    Dieser Gedanke gefällt mir auch sehr gut, denn er berührt den Kern des Stückes. Ich möchte noch weiter gehen. Für mich ist Jago ein Teil Otellos, er sitz in ihm drin. Nicht wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Es gibt auch nicht diese zwanghafte Verwandlung. Sie sind von Anfang an eins. Bei Shakespeare wie bei Verdi/Boito. Otello muss das einzige Wesen, das ihn vertraut, das ihn so nimmt wie er ist, töten. Das ist die allerletzte, entsetzliche Konsequenz. Obwohl es mir selbst zum Halse heraushängt, immer wieder auf die Altvorderen verweisen zu müssen, ich tue es trotzdem. Es gibt als akustische sehr verdächtigen Livemitschnitt das Duette zwischen Otello (Max Lorenz) und Jago (Mathieu Ahlersmeyer) von 1942 aus der Wiener Staatsoper unter Karl Böhm.* Dieses Duett offenbar das, was ich deutlich machen wollte, ganz exemplarisch. Beide werden unmerklich wirklich zu einer Figur, auch in ihrer Verzweiflung, die auch bei Jago ist.


    Die Salzburger Inszenierung tut niemandem weh. Sie ist hübsch anzusehen und in Teilen auch ebenso anzuhören, wobei ich die Zufriedenheit mit Muti nicht teile. Ich fand ihn über weite Strecken etwas uninspiriert und müde. Es ging nicht so richtig los. Von Drama und Abgrund keine Spur. Otello als schöner junger Mann, mehr sonnenstudiogebräunt statt Mohr (Irgendwie kam mir immer Nino de Angelo in den Sinn ;) ). Das stimmt einfach nicht, wenngleich es heutzutage politisch absolut korrekt ist. Die Geschichte wird natürlich nur plausibel, weil Otello ein Mohr ist und offenbar auch ein Moslem. Das ist es. Das ist auch die atemberaubende Aktualität des Stoffes.


    * Das ist die Preiser-CD mit dem Duett:

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat

    Zitat von Reingold: Otello als schöner junger Mann, mehr sonnenstudiogebräunt statt Mohr

    Dieser Mohr war sicher ein Albino, gestört hat es mich aber nicht. Vielleicht hatten sie auch nicht mehr genug Schminke.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)