Meine "Musik-Ansprache"

  • Hallo,


    ich schreib etwas anders über Musik, als es gewöhnlich in der Musik-Kritik geschieht. Ich möchte kurz erklären, wie ich das tue:


    Musik besteht aus folgenden Komponenten:


    1. Harmonik. Darunter versteht man - im weitesten Sinne - die Akkordfolge in der Musik. Die Akkorde können dabei sehr komplex sein und über dur und moll weit hinausreichen. Die Harmonik ist für mich die wichtigste Komponente in der Musik, da sie am stärksten die Emotion trägt. Der Fortgeschrittenste aller Harmoniker ist vor mir Anton Bruckner. Deswegen mochte ich diesen Komponisten auch schon mit 14 Jahre so sehr, durch seine achte Sinfonie kam ich zur Klassik.


    2. Melodik. Dabei handelt es sich eben um die Melodie in einem Stück, ich nenne diese Melodie normalerweise "Thema". Oft ist es eine Folge von Frage und Antwort. Es gibt aber auch "the unaswered question" von Charles Ives - eben nur eine Frage. Auch andere Komponisten wie etwa Bruckner weichen von diesem Frage- und Antwort-Schema ab.


    3. Rhythmik: Hier geht es ums Metrum der Musik, um die Takte (Viervierteltakt, Dreivierteltakt, Fünfvierteltakt usw.) und die Gewichtung der Noten in einem Takt (schwer bzw. leicht) sowie die Notenwerte (Ganze, Halbe, Viertel, Achtel uslw.) in einem Takt. Ein einfaches Beispiel: Die Folge einer Duole und einer Triole in einem Takt ist mir als "Bruckner-Rhythmus" bekannt. Dieses einfache rhythmische Stilmittel sorgt dafür, daß Bruckners Werke rhythmisch nicht starr wirken. Der Opfertanz aus Strawinskys "sacre du printemps" wirkt z.B. deswegen so spekatulär, weil es ständig Taktwechsel gibt.


    4. Kontrapunktik (Polyphonie): Dies ist mehrstimmige Musik. Einfacher Kontrapunkt: Zweistimmig, doppelter Kontrapunkt: Dreistimmig usw.


    5. Form: Harmonik, Melodik, Rhythmik und Kontrapunktik werden in der Musik oft nicht frei verwendet, sondern in eine Form gebracht. In der Klassik ist z.B. die Sonatenhauptsatzform bekannt, sie besteht aus Exposition (die Themen werden vorgestellt), Durchführung (Verarbeitung der Themen) und Reprise (Wiederholung der Exposition, manchmal verändert). Danch kommt noch eine Coda am Schluß. Es gibt aber auch Variationsformen, wo ein Thema verändert wird, dies sind Chaconne und Passacaglia. Aber auch andere Formen kommen vor, wo Themenkomplexe eigengesetzlich wiederholt werden, wie z.B. in Bruckner-Adagios.


    Zur Interpreation:


    Was ich bisher schrieb, steht in den Noten. Die Musiker müssen das jetzt auch noch spielen. Was gehört dazu?


    1. Phrasierung: Dies ist das "Zusammenbinden" von aufeinanderfolgenden Noten zu Phrasen. Man kann sich dies wie eine Art Satzbau vorstellen.


    2. Artikulation: Dies ist das Singen und/oder Sprechen innerhalb einer Phrase.


    Dies ist mir am wichtigsten, es gibt auch Dynamik (Abstand zwischen laut und leise), die Registrierung (bei Orgelkompositionen) und sicher noch mehr, wie Intonation (Reinheit der Tonhöhe), Legato, Staccato, Tenuto usw.


    Wenn ich dann schreibe, daß ich einen Komponisten oder ein Werk "groß" finde (ich mag den Begriff nicht, mir fällt aber auch nichts besseres ein) oder die Aufführung eines Werkes "inspiriert", handelt es sich um ein sogenanntes subjektes ästhetisches Urteil. Dies kann von Person zu Person recht unterschiedlich ausfallen. Verschiedene Hörer haben z.B. verschiedene Lieblingspianisten. Ich mag z.B. Paul Badura-Skoda sehr, ein Freund von mir mag ihn nicht. Das liegt wohl hauptsächlich an seiner Artikulation und Phrasierung.
    Leider habe ich nur Abitur-Wissen in Musik, aber ich hoffe, es reicht, um Musik und deren Interpretationen verständlich darzustellen. Gerne würde ich Harmonielehre studieren, das interessiert mich am meisten - aber ich bin eben Chemiker und bin das auch gerne.


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Das ist ein wirklich interessantes Thema, lieber AH, das hätte ich an Deiner Stelle nicht in den Tritsch-Tratsch-Bereich geradezu verbannt. Unter "Allgemeine Klassikthemen" wäre es sicherlich besser aufgehoben. Ich würde den Moderatoren anraten, diesen Thread dorthin zu verschieben...


    :hello:


    Ist somit geschehen- MOD 001 - Alfred

    .


    MUSIKWANDERER

  • "Doppelter Kontrapunkt" hat meines Wissens nichts mit der Anzahl der Stimmen zu tun (solange es mindestens 2 sind). Sondern es bedeutet, dass sich ein Thema/Subjekt und ein Gegenthema "gegenseitig begleiten" können. Thema 1 kann sowohl als "Unterstimme" zu Thema 2 dienen als auch umgekehrt. Dreifacher Kontrapunkt müsste entsprechend bedeuten, dass drei Stimmen miteinander vertauscht werden können, also es erklingen zB Tonfolgen A, B, C in Sopran, Tenor und Bass, dann A im Bass, C im Tenor, B im Bass usw. Diese Vertauschungen sind nicht selbstverständlich, d.h. in der Regels ist das bei Stücken mit entsprechend vielen eigenständigen Stimmen und Themen nicht möglich. Offensichtlich sind stärkere Einschränkungen in der Intervallstruktur und dem intervallischen Abstand der Themen notwendig, damit so etwas funktioniert.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Stimmenliebhabers Gedanken waren bei dieser Buchstabenkombination auch sofort die meinen :untertauch:


    Was nun die Musik angeht, so habe ich mir nie große Gedanken über Harmonik, Melodik, Rhythmik und wer-weiß-was-sonst-noch gemacht. Zumindest nicht beim ersten Hören. Manchmal steige ich dann, bei wachsendem Interesse an einem Musikstück, schon etwas tiefer ein, in der Regel anhand von erreichbarem Notenmaterial. Bei mir bleibt so etwas jedoch immer Stückwerk, denn ich habe kein Musikstudium absolviert. In mir kommt einfach nur das Staunen über die musikalischen Gedanken, die der Komponist niederschrieb, auf, Hochachtung für seine geistigen Fähigkeiten, die mir, trotz einiger autodidaktisch angelesenen Fähigkeiten, immer fremd bleiben werden.


    Aber ich kann ohne Musikstudium Musik genießen. Und ich frage mich auch, ob der normale Musikliebhaber sich einen Gefallen damit tut, wenn er in die doch so tiefe und geheimnisvolle Materie eintaucht? Muss man das? Für mich persönlich sind diese Fragen gelöst. Ich nehme aber gerne die Auffassungen anderer Forenmitglieder hier zur Kenntnis...


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

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  • Musik hat eine Komponente: Musik


    Analysen jedweder Art führen schwerlich zu der Erkenntnis, warum man manche Musik mag und manche nicht.

  • Es gibt nichts.
    Selbst wenn etwas existierte, könnten wir es nicht erkennen.
    Selbst wenn wir etwas erkennen könnten, könnten wir es nicht kommunizieren.


    (sinngemäß) Gorgias, 5. Jhd. v. Chr.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Solange tieferes theoretisches Eindringen nicht zur Verkopfung führt, die dem unmittelbaren Musik-Erlebnis entgegensteht, kann es den Genuß erhöhen. Wenn es jedoch das in den Bann ziehende Fascinans ersetzt, etwa indem man glaubt, die Komposition entzaubert zu haben, dem Komponisten auf die Schliche gekommen zu sein - dann hat man sich des Besten beraubt und kann sogar in die Gefahr der Arroganz des Überlegenheitsgefühls geraten. Ich kenne allerdings auch eine Minderheit professioneller Musikkenner, denen die Erkenntnis wichtig ist, daß gerade durch die schlüssigsten Werkanalysen das Faszinierende des Werkes eigentlich immer rätselhafter wird.


    Während mir das reine musikwissenschaftliche Tifteln, Wissen und, kaum vermeidbar, Besserwissen zwar legitim, wenngleich hinsichtlich des Musik-Erlebnisses eher dubios erscheint (auch aus eigener Anschauung...), sieht die Sache ganz anders aus, wenn man sich statt dessen oder doch darüber hinaus aktiv mit seinem Musikinstrument [sofern man das Glück hatte, eines studiert zu haben, zumindest bis zu dazu notwendigem Grad] um das Werk bemüht. Das intime Verhältnis zum Werk, das man durch eigenes Spiel gewinnt, führt dann auch zu einer anderen Sprache über Musik - häufig zu einer, die manche klugen Analytiker sichtbar oder unsichtbar belächeln.


    Jede dieser Sprachebenen mag seine Rechtfertigung haben, und auf jeder derselben gibt es Plattheiten und Tiefes. Persönlich habe ich es längst aufgegeben, "musikalische Wahrheit" im Diskurs entdecken zu wollen. Ich freue mich über unglaublich Vieles, was das Forum an Informationen und Aspekten hervorbringt. Am meisten freue ich mich aber, wenn ich - an Werkwahl und Sprachstil erkennbar - hier Geistesgeschwister musikalischen Erlebens finde. In meinem Fall sind das nicht die, die mich unwillkürlich an die Musikwissenschaftlichen Seminare erinnern. Und doch würde ohne diese Entscheidendes fehlen.

  • Es gibt nichts.
    Selbst wenn etwas existierte, könnten wir es nicht erkennen.
    Selbst wenn wir etwas erkennen könnten, könnten wir es nicht kommunizieren.


    (sinngemäß) Gorgias, 5. Jhd. v. Chr.



    Programm der frühen Nihilisten?

  • Hallo Lagenwechsel,


    Deinen Beitrag Nr. 8 finde ich sehr ausgeglichen (was man im Forum m. E. eher seltener findet); ich kann mich in Deinem Beitrag gut wiederfinden, was mich freut (und ich an anderer Stelle ähnlich gepostet habe).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Analysen jedweder Art führen schwerlich zu der Erkenntnis, warum man manche Musik mag und manche nicht.


    Habe ich auch mal gedacht. Als ich noch so jung war wie Du.
    Mittlerweile glaube ich, dass mit vermehrtem Wissen, wozu auch die Analyse hilft, auch vermehrter Genuss folgt, vor allem, wenn man nach wiederholtem Hören etwas abgestumpft ist und neue Einfallswinkel braucht.
    Wenn ich Analyse sage, bin ich eigentlich schon über das Ziel hinaus geschossen. Es muss ja nicht mit dem Seziermesser an die Werke gegangen sein, einfache Hinweise eines Musikers haben mir schon oft genügt und manche Freude bereitet.

  • Zit. m-muelller: „Analysen jedweder Art führen schwerlich zu der Erkenntnis, warum man manche Musik mag und manche nicht.“


    Meine Erfahrung ist eine ganz andere, geradezu gegenteilige.
    Natürlich ist das „Mögen“ oder „Nicht-Mögen“ einer Musik ein primär emotional fundiertes Verhältnis zu dieser. Aber es ist ein ganz besonderes, als Bereicherung erfahrenes Erlebnis, wenn man durch ganz bewusste und von analytischem Blick geleitete Hinwendung zur Musik erkennt, was es ist an ihr, das einen dazu gebracht hat, sie zu „mögen“.


    Wohlgemerkt: Diese Erkenntnis ist keine die Haltung des „Mögens“ bedingende. Es ist, wenn so will, ein „Begleiteffekt“, der als Intensivierung und Vertiefung – und insofern tatsächlich Bereicherung - der Begegnung und Beschäftigung mit Musik erfahren werden kann.

  • Zit. Lagenwechsel: „Persönlich habe ich es längst aufgegeben, "musikalische Wahrheit" im Diskurs entdecken zu wollen. Ich freue mich über unglaublich Vieles, was das Forum an Informationen und Aspekten hervorbringt. Am meisten freue ich mich aber, wenn ich - an Werkwahl und Sprachstil erkennbar - hier Geistesgeschwister musikalischen Erlebens finde.“

    Auch wenn zweiterbass sich in einer solchen Haltung, die zentrale Fragestellung dieses Thread betreffend, wiederfindet (und darob erfreut ist, was ihm gegönnt sei): - sie scheint mir diskussionswürdig, weil sie mit Sinn und Zweck eines solchen Forums wie diesem zu tun hat. Und nicht nur „zu tun hat“, sondern dieses, in eben dieser Sinnhaftigkeit, im Grunde infrage stellt.


    Sie ist ja nicht eine singuläre Haltung, man kann ihr in diesem Thread – und im Forum ganz allgemein – immer wieder begegnen. Aber ist sie deshalb sachlich berechtigt, - jenseits ihres ganz persönlichen Charakters, ihrer subjektiven Bedingtheit, also?


    Ich denke nicht!
    Selbstverständlich ist der „Diskurs über Musik“ eine der wesentlichen Quellen der Erkenntnis über sie. Und ein solcher Ort, an dem er sich ereignen kann, ist dieses Tamino-Forum. Es geht dabei ja doch gar nicht um „musikalische Wahrheit“. Es geht um Erkenntnisse und Einsichten in das Wesen von Musik anhand dieser oder jener ihrer konkreten Gestaltwerdungen und Erscheinungsformen.
    Ein Dialog darüber kann demjenigen, der sich mit einem bestimmten musikalischen Werk nicht nur eindimensional-rezeptiv beschäftigt, sondern sich auch reflexiv auf es einlässt, weil er ganz einfach verstehen will, was er da hört, - und Verstehen kann Freude machen! -, …diesem Menschen kann ein Diskurs über dieses Werk Dimensionen seiner Klanglichkeit, seiner Faktur und der dahinterstehenden kompositorischen Intentionen erschließen, die er selbst nicht zu erfassen in der Lage war, aus welchen Gründen auch immer.


    Es ist ja doch ein ganz einfacher Sachverhalt. Vier Ohren hören, was Musik anbelangt, mehr als zwei, - und sechs oder acht noch mehr. Klassische Musik ist ein strukturell und klanglich hochkomplexes Gebilde, da entgeht einem schon einmal dieses oder jenes künstlerisch relevante Merkmal. Und ein solches Forum ist ja doch der Ort, wo man auf Menschen treffen kann, die über geschultere Ohren verfügen, als man sie selbst mitbringt. Welche Chance also, davon in eben einem solchen diskursiven Prozess davon profitieren zu können.
    Um mal ein wenig konkreter zu werden:
    Wenn mir einer hier entgegenkäme und behauptete, Hugo Wolf vertrete „bereits keinen Liedtypus mehr, sondern einen szenischen Typus“ und damit sei die „Trennung vom eigentlichen Lied überhaupt vollzogen“, dann würde ich auf der Stelle höchst hellhörig und würde mich mit sozusagen geöffneten Ohren an die Lieder heranmachen, die ich zu kennen glaube, - und liebe.

  • Meine Erfahrung ist eine ganz andere, geradezu gegenteilige.


    ...Aber es ist ein ganz besonderes, als Bereicherung erfahrenes Erlebnis, wenn man durch ganz bewusste und von analytischem Blick geleitete Hinwendung zur Musik erkennt, was es ist an ihr, das einen dazu gebracht hat, sie zu „mögen“.


    Wohlgemerkt: Diese Erkenntnis ist keine die Haltung des „Mögens“ bedingende. Es ist, wenn so will, ein „Begleiteffekt“, der als Intensivierung und Vertiefung – und insofern tatsächlich Bereicherung - der Begegnung und Beschäftigung mit Musik erfahren werden kann.


    So gegenteilig ist sie nicht.


    Ich finde Analysen bereichernd für Musik, die ich vorher schon mochte. Der Unterschied in unseren Ansichten liegt wohl in Deinem letzten Absatz. Bei mir ist es notwendig, daß ich Musik mag. Mit anderer Musik beschäftige ich mich nicht, Du aber anscheinend doch. Und wenn Du dann durch die Analyse zur Erkenntnis gelangst, die eigentlich nicht gemochte Musik doch zu mögen, werde ich Dir nicht widersprechen wollen.


    Mein Modell: Mögen->Aufgeschlossenheit für Analyse->Verstehen von Feinheiten->noch stärker mögen.
    Dein Modell?

  • Auch wenn zweiterbass sich in einer solchen Haltung, die zentrale Fragestellung dieses Thread betreffend, wiederfindet (und darob erfreut ist, was ihm gegönnt sei): - sie scheint mir diskussionswürdig, weil sie mit Sinn und Zweck eines solchen Forums wie diesem zu tun hat. Und nicht nur „zu tun hat“, sondern dieses, in eben dieser Sinnhaftigkeit, im Grunde infrage stellt.


    Lieber Helmut,


    "im Grunde in Frage stellt??" - eben nicht; unbestreitbar ist m. E., dass Musik hören, erfassen und im 1. Verarbeitungsvorgang zu aller erst ein emotionaler Vorgang ist, der im "Schnellen Denken" (siehe Thread "Fragen und Antworten der Gehirnforschung, was wir schon immer wissen wollten" - besser "sollten") vor sich geht - und dort rasant schnell! Strukturen erkennen, Satzaufbau, Verbindung zum Text usw. ist ein rationaler Vorgang, der sich dann anschließt und wesentlich langsamer von statten geht. Über diesen Ablauf im Gehirn (dessen Vorgang sich immer noch im Stadium naturwissenschaftlicher Forschung befindet, aber in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat), waren wir Beide uns schon früher uneins, was nicht von Nachteil ist, denn sonst gäbe es ja wenig zu diskutieren.


    Es ist ja doch ein ganz einfacher Sachverhalt. Vier Ohren hören, was Musik anbelangt, mehr als zwei, - und sechs oder acht noch mehr. Klassische Musik ist ein strukturell und klanglich hochkomplexes Gebilde, da entgeht einem schon einmal dieses oder jenes künstlerisch relevante Merkmal. Und ein solches Forum ist ja doch der Ort, wo man auf Menschen treffen kann, die über geschultere Ohren verfügen, als man sie selbst mitbringt. Welche Chance also, davon in eben einem solchen diskursiven Prozess davon profitieren zu können.


    Von den Erfahrungen und Erkenntnissen Anderer zu profitieren - da bin ich voll Deine Meinung - ob es sich dabei um "erfahrener" Ohren handelt, kommt auf den Fall an; im Fall der Qualifikation engl. Knabenchöre im Vergleich z. B. zu den Windsbachern habe ich kürzlich hier im Forum meine Meinungsänderung mitgeteilt und z. T. meine Falschmeinung begründet; das hatte aber nachweislich nichts mit Strukturen etc. zu tun, sondern nur mit unterschiedlichen Hörerfahrungen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Lieber m-mueller, Du fragst:


    "Mein Modell: Mögen->Aufgeschlossenheit für Analyse->Verstehen von Feinheiten->noch stärker mögen.
    Dein Modell?"


    Meine Antwort: Exakt dieses ist auch meines! Insofern hast Du recht: So gegensätzlich sind unsere Standpunkte und Haltungen gar nicht. Das habe ich falsch gesehen!

  • Lieber zweiterbass,


    wenn Du feststellst: ""im Grunde in Frage stellt??" - eben nicht; unbestreitbar ist m. E., dass Musik hören, erfassen und im 1. Verarbeitungsvorgang zu aller erst ein emotionaler Vorgang ist, "


    so stimme ich mit Dir darin völlig überein, dass "Musik hören, erfassen und verarbeiten" primär ein emotionaler Vorgang ist. Aber es gibt auch einen sekundären, einen rationalen, der gleichsam daran ansetzt und wie auf einem Fundament darauf aufbaut. Und davon lebt unser Tamino-Forum. Denn wie willst Du über emotionale Prozesse mit Worten kommunizieren?


    An dieser Stelle setzte meine - zugegeben etwas überspitzte, weil eine Reaktion darauf provozieren wollende - Formulierung vom "In-Frage-Stellen" an. Das Bekenntnis von Lagenwechsel: „Persönlich habe ich es längst aufgegeben, "musikalische Wahrheit" im Diskurs entdecken zu wollen" ... läuft ja doch, wenn ich es richtig aufgefasst habe, auf die Negation der Sinnhaftigkeit eines Diskurses über Musik hinaus.

  • Ich habe bei der näheren Beschäftigung mit einem Musikstück normalerweise NICHT das Erkenntnisziel, herauszufinden, "warum ich es mag" (insofern teile ich ausnahmsweise mal wenigstens ein wenig die skeptische Haltung von m-mueller). Daher steht mir, sofern ich das verstehe, auch die von Andreas im Eingangsposting formulierte Haltung eher fern. Ich könnte weder sagen, welches Element der Musik (zumal mit einem so groben Raster wie Harmonik, Melodik usw.) mir das wichtigste ist, noch dass ich aufgrund solch einer Präferenz bestimmte Komponisten besonders schätzen würde.


    Ich will einfach mehr über ein Musikstück herausfinden, es besser kennenlernen, auf Dinge zu achten lernen, die mir vorher entgangen sind. Klar, das mag irgendwie auch mit der spontanen emotionalen Reaktion zu tun haben, aber nicht in offensichtlicher und einfach abhängiger Weise. Und interessanter sind tendenziell weniger Musikstücke, von denen man spontan begeistert ist, sondern solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Die einem eher langweilig vorkommen (oder bei denen man einige "schöne Stellen" wahrnimmt, aber dazwischen lange Strecken Langeweile). Da hilft es m.E. oft außerordentlich Hinweise oder meinetwegen auch "Analysen" zu haben. Wenn man über einige Schemata Bescheid weiß (wie zB Sonatensatzform) kann das beim "Überblick" über ein unbekanntes Stück helfen, sich schneller zurechtzufinden. Das ist wohl kaum umstrittene Wahrnehmungspsychologie. Natürlich läuft man auch Gefahr, wichtiges zu verpassen, wenn man sich an solch ein abstrahiertes (historisch oft problematisches) Schema klammert, d.h. im Idealfall kann oder soll man manchmal die "Leiter wieder wegwerfen".


    Ein "ideal aufmerksamer" Hörer nimmt vielleicht Details wahr, auf die ein "normaler" Hörer erst gebracht werden muss. Ich habe zB erst geglaubt, dass das Finale von Brahms 4. Sinfonie ein 8-Taktschema 30mal wiederholt (dann folgt eine etwas freiere Coda) als ich es in den Noten gesehen habe. Ich hatte zwar darüber gelesen, aber allein vom Hören war ich nicht in der Lage das nachzuvollziehen. Mir war relativ lange auch nicht klar, wie streng sich die meisten Variationenzyklen an die Takt- und Phrasenlänge (und meistens auch die harmonische Grundstruktur) des variierten Themas halten. Solche Dinge sieht man in den Noten sehr schnell, oft ohne explizite Analyse.


    Was "bringt" einem das nun? Das ist schwer zu sagen. Ich zähle auch heute normalerweise nicht die 30 aufeinanderfolgenden Achttakter in der Brahms-Sinfonie mit und die Pointe des Satzes scheint mir eher zu sein, dass dieses Gerüst den scheinbar natürlichen Fluss gar nicht stört, als dass man das Gerüst deutlich hören soll. Viele solcher Sachen, gerade bei Brahms, wirken vermutlich "subkutan" dahingehend, dass die Sätze als besonders schlüssig und organisch wahrgenommen werden, ohne dass man sie bewusst heraushört. Ungeachtet dessen faszinieren mich solche Dinge schon und oft hört man einfach "mehr". Um bei Brahms 4. zu bleiben. Es gibt hier im ersten Satz eine Passage, in der das Hauptmotiv vom Anfang als "Begleitung" im Pizzicato der Streicher auftaucht, während die Aufmerksamkeit des Hörers normalerweise von den Holzbläsern (die eine Variante eines Nebenthemas spielen). Das habe ich nie wahrgenommen, bevor ich nicht durch einen Hinweis in einer Analyse darauf gebracht wurde. Jetzt, da man es weiß, ist es schwierig, es NICHT wahrzunehmen.
    Ich habe alle diese Dinge nie als Entzauberung, sondern normalerweise im Gegenteil als Vertiefung des Hörerlebnisses wahrgenommen. Im "Schlimmstfall" neutral, d.h. unerheblich für das Hörerlebnis. Im Bestfall überhaupt erst Musikstücke oder Passagen, die vorher als eher langweilig abgetan wurden, als faszinierende und packende erlebt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Denn wie willst Du über emotionale Prozesse mit Worten kommunizieren?


    Lieber Helmut,


    ich will nicht "über emotionale Prozesse mit Worten kommunizieren" (das ist unmöglich, wegen der Schnelligkeit, mit der sie - zudem meist unbewusst - ablaufen), sondern über die Ergebnisse emotionaler Prozesse. Das ist schwierig, weil es ein Problem der Wortwahl (und individuell der Fähigkeit dazu) ist - aber ich habe in von mir hauptsächlich betriebenen Threads z. T. befriedigende Reaktionen bekommen können.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ja, lieber zweiterbass, das weiß ich. Aber da bewegst Du dich mit all denen, die diese Reaktionen erbracht haben und erbringen, auf der Ebene eines rationalen Diskurses über Musik, - auch wenn es dabei um die Emotionalität ihrer Rezeption geht. Um die Leitfrage also: Was hat mich an diesem oder jenem musikalischen Werk emotional besonders bewegt.
    Um diese Frage zu beantworten, also Worte dafür zu finden, bedarf es eines analytischen Zugriffs auf das Werk in seiner klanglichen Gestalt selbst.
    Und dies ist ein genuin rationaler Akt. Genauso wie der mögliche Diskurs, der sich anschließend darum ranken kann.



    Und um die Möglichkeit eines solchen Diskurses - und seine Sinnhaftigkeit - ging es mir in dem ersten Beitrag zu diesem Thread.

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