Liebe Forianer,
dieses Konzert wird oft als "altes Schlachtross" bezeichnet oder gar diffamiert, zumindest von denen, die in früher Jugendzeit per Werbefeldzug im Fernsehen oder durch rauschhaftes Dauerhören für immer für dieses Werk rettungslos verdorben bzw. verloren sind, weil sie meinen, sich diesem Konzert nicht mehr unvoreingenommen nähern können. Dazu kommt, dass diese Hörer nicht nur für dieses Werk verloren sind, nein, sie haben durch das Dauerhören von nur 2-3 Interpretationen einen Aufführungsstil verinnerlicht, der sehr bedenklich ist, da er wieder auf Stillstand zielt.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Werk um eines der virtuosesten Konzerte der gesamten Klavierliteratur überhaupt! Noch immer werden die angesagtesten Virtuosen nicht müde, es immer und immer wieder in ihr Konzertprogramm aufzunehmen, trotz Dauerspielens seit frühesten Jugendjahren. Auch die Musikindustrie präsentiert ständig neue Interpretationen per Bild und Ton.
Für mich gehört dieses Klavierkonzert seit meiner intensiven Beschäftigung mit der klassischen Musik (seit nun fast 40 Jahren) zum ständigen Wegbegleiter.
Schwerpunkte der Auswahl bilden: die Einleitung, die nicht zu lahm und breit sein sollte, das im letzten Satz vorgeschriebene Feurige, das Zusammenspiel von Solist und Orchester.
Referenz
Künstler: Sergio Tiempo (Klavier), Orchestra della Svizzera Italiana, Alexandre Rabinovitch-Barakovsky
Label: Avanti, DDD, LA, 2005
Eins vorweg: Seit Gilels-Reiner hat mich keine Aufnahme dieses Klavierkonzertes mehr so begeistert wie diese Einspielung, die im Juni 2005 live aus Lugano mitgeschnitten worden ist. Selbst die fulminant-feurige Argerich-Kondrashin-Aufnahme wird durch diese getoppt. Wer ist eigentlich Sergio Tiempo wird sich der eine oder andere fragen? Gearbeitet hat der Pianist aus Venezuela schon mit vielen namhaften Dirigenten: Abbado, Dutoit, Slatkin, Eschenbach, Tilson Thomas. Pianist und Orchester spielen als gleichberechtigte Partner gleich zu Anfang befeuert mit eruptiven Ausbrüchen gewürzt mit Eigenmächtigkeiten, die einige hier total schlüssig finden (ich), andere werden so etwas natürlich ablehnen. Es kommt keine richtige Ruhe auf, auch nicht im zweiten Satz: immer ist auch das Klavier präsent, dass sich auch hier mit harten Anschlägen zu Wort meldet. Das Finale des dritten Satzes kommt wie ein Sturm daher. Ganz ausgezeichnet auch das Zusammenspiel von Tiempo und dem Orchestra della Svizzera Italiana unter Alexandre Rabinovitch-Barakovsky Ich bin beeindruckt, dass man Tschaikowski überhaupt so spielen kann. Das Publikum war jedenfalls begeistert - ich auch! Eine Einspielung, die eine andere Sicht auf das Werk bietet, mit einer Konzeption, die aus meiner Sicht sehr schlüssig aufgeht. Für Tschaikowski-b-moll-Klavierkonzert-Sammler ein unbedingtes Muss, wenn man ein Tschaikowski hören will, fern ab ausgelatschter Wege und ich hoffe auf weite Verbreitung!
Alternativen
Künstler: Stephen Hough (Klavier), Minnesota Orchestra, Osmo Vänskä
Label: Hyperion, DDD, 2009
Auch diese Aufnahme hat ihre Meriten. Auch wenn sie nicht ganz so stürmisch daher kommt wie die Tiempo-Einspielung, so überzeugt auch diese Interpretation gerade durch ein ausgezeichnetes Miteinander des Solisten Stephen Hough und dem Minnesota Orchestra unter Osmo Vänska, geadelt durch deutliche Handschriften von Solist und Dirigent. Diese Aufnahme ist ein Beweis dafür, dass Tschaikowskis Klavierkonzert auch heute noch überzeugend neu eingespielt werden kann. Ich jedenfalls greife immer wieder gern zu dieser Aufnahme.
Künstler: Mikhail Pletnev (Klavier), The Philharmonia, Vladimir Fedosseyev
Label: Virgin, DDD, 1990
Endlich in der Nachkarajan-Ära eine Aufnahme mit russischer Doppelbesetzung. Nur das Orchester macht hier eine Ausnahme, die aber kaum ins Gewicht fällt, weil das Gesamtergebnis so herausragend ist. Beeindruckend ist nicht nur das Klangbild, sondern sind auch die musikalischen "Duelle" des Pianisten Mikhail Pletnev mit dem Philharmonia Orchestra und Vladimir Fedosseyev. Bei dem Überangebot von Einspielungen dieses Klavierkonzertes ist diese hier ganz ausgezeichnet und wird sehr oft von mir gehört.
Künstler: Garrick Ohlsson (Klavier), Academy of St. Martin in the Fields, Sir Neville Marriner
Label: Hänssler, DDD, 1996
Wer hätte gedacht, dass Sir Neville Marriner hier noch einmal zu alten Ehren kommt, denn immerhin stammt diese Aufnahme von 1996, zu einer Zeit also, da Marriner seinen Zenit bereits überschritten hatte. Aber dessen ungeachtet gelingt es dem Dirigenten die Partitur des Klavierkonzertes so zu durchleuchten, wie nur sehr wenige Dirigenten zuvor: viele sonst unbeachtete Details legt er hier offen. Dazu kommt ein sehr durchsichtiges Klangbild. Ein voluminöser, körperlicher Klavierklang tut das Übrige. Garrick Ohlsson Klavierpart und sein Zusammenspiel mit der Academy St. Martin in the Fields sind ausgezeichnet.
Bemerkungen
Ich bin mir durchaus bewusst, dass die meisten Taminos die hier genannten Aufnahmen nicht in ihrem Besitz haben. Da wird es endlich Zeit, die Lethargie und Müdigkeit bezüglich dieses Klavierkonzertes zu überwinden und auf Entdeckungstour zu gehen. Bei den hier nicht erwähnten Einspielungen bietet sich endlich die Möglichkeit "auszumisten" und Platz für Neues, Überzeugenderes zu schaffen!
Erwähnenswert wäre noch diese Aufnahme: Daniil Trifonov(Klavier), Mariinsky Orchestra, Valery Gergiev. Leider krankt diese Einspielung an der uninspirierten Leitung Gergievs. Trifonov, der vielversprechendste junge Klaviervirtuose der Gegenwart bietet auch hier ein famoses Spiel!
LT