"Harnoncourts größte Entdeckung": Mozarts drei letzte Symphonien — Ein "Instrumental-Oratorium"?


  • Das Corpus Delicti:



    Wie so oft, wird Nikolaus Harnoncourt auch diesmal die Klassikwelt spalten. Man mag davon halten, was man will, aber er schafft es auch noch mit fast 85 Jahren, dies zu Wege zu bringen. Konkret: Harnoncourt behauptet, die drei letzten Symphonien von Wolfgang Amadeus Mozart bildeten eine enge Trias, die eigentlich nicht zu trennen sei. Er selbst nennt das "instrumentales Oratorium". Tatsächlich ist dies eine provokante These, die freilich zumindest diskutabel sein dürfte, entstanden die drei Werke doch in kurzem zeitlichen Abstand. Ich zitiere dazu den Text der Kurzbeschreibung:


    Zitat

    Nach über 60 Jahren gemeinsamer Arbeit widmet sich das Ensemble unter Harnoncourt nun den letzten 3 Sinfonien des großen Komponisten der Wiener Klassik. Die berühmten Sinfonien Nr. 39-41 stellen für Harnoncourt eine große, werkübergreifende Sinneinheit dar, weswegen er diese 3 Werke auch als "instrumentales Oratorium" bezeichnet. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Mozart alle 3 Sinfonien ohne konkreten Auftrag innerhalb eines Sommers komponierte und sich bestimmte Themen durch alle Sinfonien ziehen. Dieser faszinierende Interpretationsansatz lässt Mozarts Sinfonien in einem neuem, interessanten Licht erscheinen.


    Interessant auch ein Beitrag auf BR.de von Jürgen Seeger:

    Zitat

    41 Symphonien hat Wolfgang Amadeus Mozart im Laufe seines Lebens geschrieben. Die letzten drei entstanden im Zeitraum von nur sechs Wochen im Jahr 1788. Eine ganz besondere Trias, die schon den Schriftsteller und Musikkritiker George Bernard Shaw urteilen ließ: "Mozarts vollendetste Musik". Ihre Entstehung gibt Rätsel auf: Warum hat Mozart sie ohne Anlaß und Auftrag hintereinander durchkomponiert und dabei gleiche Motive in allen drei Symphonien verwendet? Sah er es als ein großes Werk?

    Was haltet ihr von dieser These? Schlüssig und nachvollziehbar? Zumindest interessant? Unsinn eines greisen Dirigenten?


    Ich verweise zudem auf einen lesenswerten Artikel des "Kurier": Harnoncourts größte Entdeckung

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe Gülkes Buch zwar auch noch nicht gelesen (wenn auch seit Jahren im Regal), aber die Idee, dass die drei letzten Sinfonien eine besondere Einheit bilden, ist in der Tat nicht ganz neu. Ich bin zu faul nachzuschlagen, aber wenn auch kein Auftrag, so dürfte Mozart die Stücke im Hinblick auf eine Aufführung in Wien komponiert haben und mindestens bei der g-moll geht man auch davon aus, dass sie aufgeführt worden ist (sonst wäre die Tatsache, dass es eine zweite Fassung mit Klarinetten gibt, kaum zu erklären). Ansonsten gibt es die Vermutung, dass Mozart die Sinfonien auch als Reaktion auf Haydns "Pariser Sinfonien" (ähnlich wie einige Jahre vorher die Haydn gewidmeten Quartette) geschrieben hat. Dafür wird angeführt, dass die Tonarten den ersten drei "Parisern" 82-84 entsprechen (wenn auch in umgekehrter Reihenfolge Es, g, C).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Was genau spricht dafür, dass Mozart drei als eigenständige Werke gekennzeichnete Sinfonien als Oratorium verstanden haben will? Wenn ich nicht irre, ist ein Oratorium ein Vokalwerk. Es gibt in den Sinfonien Kantabilität, aber keine Vokalstimmen. Zudem ergibt ein solches Zusammenschalten der drei Sinfonien eine Werklänge, die für Mozarts Zeit für ein rein instrumentales Werk außergewöhnlich gewesen wäre.


    Davon unabhängig gefällt mir Harnoncourts Aufnahme der drei letzten Sinfonien wieder deutlich besser als zuletzt die der Haffner-Sinfonie, wo ich die knallige Dynamik deutlich überzogen fand.


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Dass Mozarts drei letzte Symphonien nicht nur zeitlich, sondern auch künstlerisch eng zusammenhängen und motivisch verbunden sind, ist nicht zu bestreiten, aber daraus abzuleiten, dass es sich um ein einziges Werk handele, kommt mir doch etwas weit hergeholt vor, von dem irreführenden Titel "Oratorium" einmal ganz abgesehen. Mozart hat die drei Symphonien als solche bezeichnet und entsprechend den formalen Prinzipien einer Symphonie komponiert - warum hätte er das tun sollen, wenn er eigentlich etwas ganz anderes hätte schaffen wollen? Wenn Harnoncourt laut Kurier-Artikel argumentiert, dass Mozart die Symphonien ohne Auftrag komponiert hätte, "nur der neuartigen Komposition wegen", dann kann man sich doch fragen, warum er sie nicht gleich als ein Werk zu Papier gebracht hat.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • NH hat die drei letzten Mozart-Symphonien mit seinem Concentus vor einigen Wochen erstmals auf der Styriarte präsentiert. Dieses Konzert wurde vom ORF übertragen und dürfte auch auf DVD veröffentlicht werden. Es wurde letzten Sonntag (20.7.) auch auf Ö1 gesendet und kann noch zwei Tage bei 7-Tage-Ö1 nachgehört werden.


    Diesem guten Rat aus einem anderen Thread bin ich gefolgt und habe mir das Konzert, das ja wohl genau so in Salzburg wiederholt wurde, noch rasch gesichert. Ich bin sehr beeindruckt von der Idee, dass es sich bei den letzten drei Sinfonien von Mozart um eine Einheit handele, der nun der fiktive Titel eines "Instrumental-Oratorium" vorangestellt wurde. Ob die Wirklichkeit diesen Gedanken hergibt oder nicht, faszinierend ist er. Solche Projekte, die zudem noch auf wissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnis beruhen, haben für mich in dieser zur Langeweile und Beliebigkeit neigenden Zeit, immer einen starken Reiz. Es muss daraus ja nicht die gängige Praxis werden. Der Ansatz ist für sich genommen spannend genug und kommt in der Umsetzung durch Harnoncourt wirklich zum tragen. Er dirigiert die einzelnen Sinfonien wirklich hörbar zusammenhängend und eben nicht einzeln. Die Idee findet bei mir schon deshalb starken Widerhall, weil ich Mozart so rasant, so stürmisch, so groß, so dynamisch besonders gern habe. Das muss man erstmal so machen können. Das Schlichte liegt mir nicht sonderlich. Harnoncourt, dieser sehr junge alte Mann, hat die Sinfonik Mozarts wieder einmal in Rede gebracht, was immer gut und zu begrüßen ist. Mit diesem Thema werde ich mich weiterhin beschäftigen. Heute soll und kann es nur dieser kurze Eindruck sein. Fein, dass Joseph II. aus dem Thema einen eigenen Thread gemacht hat. :)


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent


  • Geht es auch ein bisschen weniger dramatisch, lieber lutgra? ;) Du musst das doch nicht hören. Es gibt bestimmt an die tausend oder mehr andere Interpretationen Deiner Lieblingssinfonie, darunter auch sehr viele langweilige, also nicht nur Böhm, Walter oder Klemperer, die Du als positive Beispiele nennst. Da sollte doch diese eine, die ich für spannend aber nicht für der Weisheit letzten Schluss halte, möglich sein. Du hast Dich ja auch gar nicht mit dem ganzen Projekt beschäftigt, wie Du schreibst. Dabei ging es nämlich nicht um die Interpretation von KV 543 allein. Die Absicht erschließt sich erst, wenn man alle drei Sinfonien im Zusammenhang hört. Persönlich glaube ich nicht daran, dass dieses Experiment Schule machen wird. Es scheint mir - bei allem Respekt vor Harnoncourt und Gülke - etwas konstruiert. Aber es muss und sollte doch möglich sein. Ich sehe und höre darin auch den Versuch, aus dem Korsett der üblichen Konzertprogramme auszubrechen. Für so etwas bin ich immer zu haben.


    Im Übrigen hatte Joseph II. zum Thema einen extra Thread eröffnet. Dort wäre die Diskussion vielleicht besser aufgehoben.


    Gruß Rheingold

    Lieber Rheingold,


    ich habe keinerlei Kritik an dem musikalischen Konzept geübt, dass ich auch durchaus für interessant und diskutabel halte. Das ändert aber nichts daran, dass in meinen Ohren die Ausführung (zumindest was die erste Symphonie der Trias angeht) deutlich unter den Erwartungen zurückbleibt. Ich bin zwar generell kein Fan von HIP-orientierten Mozartdarbietungen, aber erwarte auch dort ein gewisses Niveau, das ja in der Regel auch geboten wird. Hier aber für mich eindeutig nicht. Ich bin auch kein Harnoncourt-Verächter, sondern besitze relativ viele Aufnahmen von Bach über Händel, Haydn und Mozart bis hin zu Schubert und Brahms von ihm, aber das hier ist einfach unter seinem Niveau.

  • .....sondern besitze relativ viele Aufnahmen von Bach über Händel, Haydn und Mozart bis hin zu Schubert und Brahms von ihm, aber das hier ist einfach unter seinem Niveau.


    Das kann ich als jemand, der sehr viele Harnoncourt-CDs besitzt, so nicht bestätigen. Nachdem ich in die Amazon-Samples hörte, finde ich, dass es mir sehr bekannte klangrednerische Interpretationsansätze sind, die im Detail noch besser ausgearbeitet und im Laufe der Jahre an vielen Stellen gereift sind. An der Grundeinstellung, dass diese Musik leidenschaftlich wie ein brodelndes Feuer zu spielen sei, hat sich nichts geändert. Meine Aussagen stelle ich noch unter den kleinen Vorbehalt, dass ich die CDs noch nicht in voller Länger hören konnte. Wenn man jedoch jeden Ton dieser Werke kennt und davon einige Ausschnitte hört, dann kann man ja vielleicht doch erahnen, in welche Richtung der Zug fährt, vor allem, wenn man die grundsätzliche Sicht Harnoncourts für diese Symphonien kennt. Für Überraschungen ist er natürlich auch immer gut...


    Diese Aufnahmen stellen gegenüber den Ersteinspielungen mit dem Concertgebouw-Orkest eine reizvolle Alternative im Klanggewand der historischen Instrumente des Concentus musicus Wien dar.
    Ich kann mich da nicht für ein Klangbild entscheiden, sondern mag beides. Von der Klangbalance und den Orchesterfarben her wird wohl der Concentus-Klang dem historischen Klang näher kommen.


    Gut an diesen Interpretationen finde ich neben dem rhetorischen Gestus und dem Feuer auch, dass die kontrastierenden Affekte sehr deutlich erfahren werden können. Ein Beispiel unter vielen ist das Menuetto der grossen g-moll-Symphonie. Der Mollteil (A) wirkt harsch, fetzig und widerborstig, während das Trio (B) so weich und verträumt wie eine schwärmerische Liebeserklärung daherkommt. Es scheint hier einen Vorgriff zu Schuberts Welten zu geben, bei denen ja auch immer wieder die Träume von Liebe und Glück im Widerspruch zur harten Realität stehen.
    Von erscheint mir der in den 80er-Jahren erstmals von Harnoncourt ins Spiel gebrachte Begriff vom romantischen Vorgriff in Mozarts Musik durch solche Parallelen zu Schubert durchaus als plausibel, jedenfalls, wenn ich Harnoncourts Interpretationen höre.


    Ob man die Symphonien sozusagen in einem "oratorischen"Zusammenhang zu sehen habe, kann ich nicht beurteilen. Zunächst müsste man die Argumente Harnoncourts dazu lesen und auch die CD insgesamt gehört haben. Es ist bekannt, dass Harnoncourt gerne zu markanten Formulierungen greift, was auch an seiner Probenarbeit liegt, bei der er durch eine starke Bildersprache seine Intentionen in der knappen Probenzeit vermittelt. Vielleicht hat die Plattenfirma auch nur eine dieser markanten Formulierungen aufgegriffen und sie aufs Cover gesetzt, weil sie sich dadurch einen zusätzlichen Punkt im Wettbewerb verspricht. Ich hoffe jedoch, dass tiefergehende Gründe vorhanden sind. Die Interpretationen sind in sich derartig einzigartige Statements, dass sie solche Dinge nicht nötig hätten. Aber wie gesagt - man müsste sich mit dem Thema erst einmal genauer befassen, bevor man dazu Stellung nehmen kann. Klar ist natürlich, dass diese Symphonien im Schaffen Mozarts eine besondere Stellung aufgrund ihrer Qualität und der Wucht ihrer Aussagen einnehmen.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Das kann ich als jemand, der sehr viele Harnoncourt-CDs besitzt, so nicht bestätigen. Nachdem ich in die Amazon-Samples hörte, finde ich, dass es mir sehr bekannte klangrednerische Interpretationsansätze sind, die im Detail noch besser ausgearbeitet und im Laufe der Jahre an vielen Stellen gereift sind. An der Grundeinstellung, dass diese Musik leidenschaftlich wie ein brodelndes Feuer zu spielen sei, hat sich nichts geändert.

    Lieber Glockenton


    wir sprechen hier nicht über die CD, sondern die weiter oben erwähnte Liveaufnahme der Styriarte 2014. Ich will doch nicht hoffen, dass diese Aufnahme mit der auf der CD identisch ist.

  • Lieber lutgra,


    das weiss ich jetzt nicht. Die Samples von der CD waren jedenfalls Grundlage für meine positiven Aussagen. Ich werde mir die CDs aufgrund der kurzen Eindrücke jedenfalls bestellen.
    Sie scheinen mir ein Credo, sozusagen ein letztes, gelungenes Statement der Sicht Harnoncourts für diese Werke zu sein.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Lieber Glockenton
    wir sprechen hier nicht über die CD, sondern die weiter oben erwähnte Liveaufnahme der Styriarte 2014. Ich will doch nicht hoffen, dass diese Aufnahme mit der auf der CD identisch ist.


    Die Aufnahmen auf der CD sind vom 12.-14. Oktober 2013 im Wiener Musikverein entstanden.


    Gruß
    Holger

    "Es ist nicht schwer zu komponieren.
    Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen"
    Johannes Brahms

  • Ich habe nur in die Jupiter-Sinfonie reingehört. Und es bleibt dabei: Harnoncourt ist in seinen Aufnahmen seit etwa 2005 zumeist unerträglich! Auch diese Interpretation wirkt wie eine Bearbeitung Harnoncourts: viel Harnoncourt wenig Mozart.



    :hello: LT

  • Und es bleibt dabei: Harnoncourt ist in seinen Aufnahmen seit etwa 2005 zumeist unerträglich!

    Wir hören bei der dieser Aufführung der Jupiter-Symphonie die vom klangrednerischen Gestus, Affekt und Tempo durchaus seit den 80er-Jahren bekannte Harnoncourt-Interpretation, die er damals mit dem Concertgebouw-Orkest vorstellte. Hier ist sie im Detail etwas weiter ausgearbeitet, und das Orchester spielt auf alten Instrumenten in Kammermusikbesetzung. Ich kann also die Relevanz der Zeitangabe "ab 2005" nicht nachvollziehen.
    Wer diese neue Aufführung unerträglich findet, wird wahrscheinlich auch die früheren Einspielung der Unerträglichkeit bezichtigen. Hier kommt möglicherweise eine eher generelle, durch zahlreiche frühere Postings dokumentierte Ablehnung, wenn nicht schon Verachtung der Mozartsicht (und wohl nicht nur der Mozartsicht) dieses Dirigenten durch das Tamino-Mitglied Liebestraum zum Ausdruck.
    Man kann auch eine seicht-eingeebnete und in Affekt und Artikulation offensichtlich überhaupt nicht verstandene konventionelle Interpretationen absolut unerträglich finden, während man die Harnoncourt-Sicht als erhellend, mitreissend und bewegend erleben kann.
    Eine der wohl führenden Chordirigentin Norwegens, die auch Professorin an unserer Musikhochschule ist, erzählte mir zu meiner Überraschung, dass sie den Musikerberuf wegen der Interpretationen Harnoncourts überhaupt erst gewählt habe. Sie flog neulich extra nach Wien, um eine von diesen Liebestraum als "unerträglich" titulierten Mozartsinterpretationen Harnoncourts live im Musikvereinssaal zu hören. ..
    Jedem sei seine Meinung zugestanden - das Musikerlebnis ist immer eine individuelles.
    Ich erwähne diese Geschichte nur, weil ich damit deutlich machen möchte, dass man die Dinge auch sehr anders beurteilen kann, auch aus fachlicher Sicht.



    Auch diese Interpretation wirkt wie eine Bearbeitung Harnoncourts: viel Harnoncourt wenig Mozart.

    Auch hier fehlt mir der kleine, aber wichtige Hinweis "wirkt auf mich...."
    Wer hat denn die Definitionshoheit über das was ein "richtiger" oder "unbearbeiteter" Mozarts ist? Letztendlich hätte die nur Mozart, und den können wir nicht mehr fragen.
    Die Noten an sich sagen über die Interpretation sehr wenig aus. Damit es nicht klingt, als ob ein Computer ein Midi-File abspielt, muss man immer eine ganze Menge in diese hineinlesen. Harnoncourt hat sich vor sehr vielen Jahren Gedanken dazu gemacht, was man da hineinzulesen bzw. herauszuholen habe. Aus Harnoncourts subjektiver Sicht ist seine Interpretation purer Mozart und absolut Null-Harnoncourt.


    Seine Ergebnisse finde ich jedenfals sehr überzeugend - Liebestraum jedoch nicht, was natürlich ok ist und ich auch unter der Prämisse nachvollziehen kann, dass man an solche Musik mit gewissen Hörerwartungen herangeht, die entweder erfüllt werden oder eben nicht.
    Ich sage nicht, dass man es jetzt genau so wie bei Harnoncourt machen muss (dazu müsste man das erst einmal hinbekommen!), oder dass ich es bestimmt auch so machen würde, wenn ich die Möglichkeiten dazu hätte. Aber es ist in sich stimmig und überzeugend. Im Moment des Musizierens erlebt ein Musiker es so, dass man ein Stück so und nur so spielen könne. Nach Jahren hört er dann das Stück wieder etwas anders.


    Bei den besten Aufführungen jedoch hört man eine Interpretation und musiziert sie gewissermaßen innerlich mit. Wenn die Interpretation überzeugend und stimmig ist, dann erlebt man sie im Moment des Musikhörens als ein "so und nicht anders".
    Hört man dann einen Anderen, dann kann es sein, dass man ihn ablehnt, oder aber sagt: "doch, so kann man das auch machen und sogar gut finden".


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Pauschalisierungen bringen uns auch im Falle Harnoncourt nicht weiter.


    Aus dem Stegreif empfinde ich übrigens seinen Brahms als für mich am nichtssagendensten. Seinen Bruckner fand ich durchaus interessant (zumal die Fünfte), seinen Dvořák geradezu hinreissend. Dem Bach aus den 60ern bis 80ern würde ich nach wie vor teilweise Referenzcharakter unter den historisch informierten Aufnahmen zubilligen (was nicht heißen soll, dass er "besser" sei als etwa Klemperers völlig anders klingender). Leider macht er keinen Wagner. Ich glaube, auch da würden uns einige Überraschungen erwarten. Seine "Nozze" von 2014 war die erste seit Klemperer, die es wagte, extrem langsame Tempi anzustimmen. Das Ergebnis war m. E. beeindruckend.


    Fazit: Harnoncourt provoziert heute wie damals, aber zumindest klingt er nie eintönig. Er entlockt den Werken oft ungehörte Nuancen. Das muss man nicht mögen, aber das kann man kaum bestreiten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe etwa 80 Harnoncourt-CDs in meinem Besitz. Sie alle stammen aus einer Zeit, in der Harnoncourt dem Werk wirklich noch verpflichtet war. Im Gegensatz zu seinen Mozart-Sinfonien-Einspielungen mit dem Concertgebouw sind hier die Tempi so abstrus. Auch die Orchesterleistungen sind in meinen Augen nur genügend. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwähren, es handle sich hier um das Collegium Hintertupfing.


    :hello: LT

  • Einer meiner ersten CD-Käufe Mitte der 80er war eine Aufnahme der "Großen (KV550)" und der "Kleinen (KV 183)" g-moll-Sinfonien mit Harnoncourt am Pult. Warum ich diese Aufnahme wählte, weiß ich nicht mehr. Vermutlich, weil beide Mollsinfonien auf einer Scheibe waren. Ich hatte schon immer ein Faible für diese einzigen in der Molltonart komponierten Mozart-Sinfonien.
    Über das hohe Tempo war ich dann sehr verwundert. Das Andante geriet mir sogar zum Ärgernis, es kam überhaupt keine Stimmung auf und die Scheibe verschwand im Archiv.

    Später erstand ich dann noch andere Aufnahmen dieser Werke, u.a. mit Böhm, Marriner und Hogwood. Welch ein Unterschied! Plötzlich begann die Musik zu atmen! Fernab jeglicher Hudelei wurde mir bewußt: So muß Mozart klingen. :hail:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Ich habe den download/stream leider verpennt. Aber nach den Klangschnipseln für die CD hat sich das grundsätzliche Konzept (inkl. Tempi usw.) kaum gegenüber den 30 Jahre alten Einspielungen mit dem Concertgebouw-Orchester verändert. Wer behauptet, Harnoncourt würde seit den letzten 10 Jahren "alles anders" (und zwar falsch/schlecht etc.) machen, hat anscheinend die Aufnahmen der 1980er nicht gehört.

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    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes


    unter dem unter Beitrag 2 gelisteten Link kannst Du alle drei Symphonien immer noch nachhören.


    Gruß
    lutgra

  • Lieber Johannes
    unter dem unter Beitrag 2 gelisteten Link kannst Du alle drei Symphonien immer noch nachhören.


    Nicht nur nachhören.
    Wer in den Firefox-Browser den "Download-Helper" integriert hat,
    kann damit die 3 Sinfonien aus Graz auch von radio4.nl als mp3 (256) downloaden.

    mfG
    Michael

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Um mir eine unmaßgebliche, aber eigene Meinung zu bilden, habe ich den Tipp von Joseph II. aufgegriffen und mir dieses "Instrumentale Oratorium" via spotify angehört, also die CD und nicht dass Styriarte-Konzert: Ich bin weder ein Mozart-Exeget, noch ein großer Harnoncourt-Kenner, aber ich gebe offen zu, dass ich mit dieser Interpretation nur sehr wenig anfangen kann. Sie wirkt in meinen Ohren außerordentlich gewollt, Harnoncourt dirigiert hier gewissermaßen mit dem erhobenen Zeigefinger. Ich höre unvermittelte ritardandi und lange Pausen gefolgt von geradezu knalliger Effekthascherei. Was mich dabei allerdings wirklich stört, ist weniger der Effekt an sich, sondern die geradezu enervierende Häufigkeit, mit welcher Harnoncourt dieses Stilmittel verwendet. So wartet man irgendwann nur noch auf den "Knall" und der musikalische Fluß geht verloren.
    Gedanklich lege ich diese Aufnahme gegen ein Konzert, welches im im Dezember vergangenen Jahres in der Hamburger Musikhalle gehört. Dort hat das NDR-Sinfonieorchester unter Thomas Hengelbrock (vor ausverkauftem Haus) ebenfalls die drei letzten Mozart-Symphonien gespielt. In der Einführung hat Hengelbrock, der übrigens selber Violinist im Concentus Musicus unter Nikolaus Harnoncourt gewesen ist, ebenfalls auf die enge Beziehung dieser drei Werke untereinander aufmerksam gemacht, ohne dabei jedoch so weit zu gehen, wie Harnoncourt. Dieses Konzert wurde für das NDR-Fernsehen aufgezeichnet und, ich glaube, zu Pfingsten ausgestrahlt und vielleicht haben es einige sogar gesehen. Leider gibt es m.W. keinen Mitschnitt auf Tonträger, der einen direkten Vergleich ermöglichen würde. Zwar sind die NDR-Sinfoniker kein HIP-Ensemble, jedoch werden solche Stücke inzwischen auf alten Instrumenten gespielt, so dass man vielleicht von semi-HIP (eventuell vergleichbar mit Norringtons Stuttgart-Sound) sprechen kann Jedenfalls war die Interpretation deutlich entspannter und runder in ihrem Gesamtgefüge ohne dabei etwa ins frühromantische oder gar triviale abzugleiten. Es gab durchaus "raue" Effekte, die sich allerdings in Maßen hielten und dadurch m.E. wesentlich frischer klangen, als bei Harnoncourt.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Dort hat das NDR-Sinfonieorchester unter Thomas Hengelbrock ...ebenfalls die drei letzten Mozart-Symphonien gespielt. In der Einführung hat Hengelbrock, der übrigens selber Violinist im Concentus Musicus unter Nikolaus Harnoncourt gewesen ist, ebenfalls auf die enge Beziehung dieser drei Werke untereinander aufmerksam gemacht, ohne dabei jedoch so weit zu gehen, wie Harnoncourt. Dieses Konzert wurde für das NDR-Fernsehen aufgezeichnet


    Thomas Hengelbrock dirigiert Mozart:
    http://www.ndr.de/fernsehen/Th…ert-Mozart,mozart172.html
    Sofern der Videostream, aus welchen Gründen auch immer, nicht störungsfrei laufen sollte, läßt sich die mp4-Datei (602MB) z.B. mit "jdownloader"(Anleitung bei Youtube) auf die Festplatte bannen und kann dann von dort aus störungsfrei angesehen werden.

    mfG
    Michael

  • So, jetzt habe ich auch noch mal auf spotify die neue CD gehört und kann berichten, dass einige der Unarten, die auf der Live-Aufnahme zu hören sind, auf der CD nicht so ausgeprägt sind. Ansonsten deckt sich mein Eindruck mit dem von MSchenk; das ist kein "natürlich" dahinfliessender Mozart. Und ich finde nicht, dass die vielen "Fingerzeige" etwas zum vertieften Verständnis der Musik beitragen. Hier sind für mich ganz klar die früheren Einspielungen von Harnoncourt mit dem CGBO vorzuziehen. Ich werde mich jedenfalls mit den "neuen" Interpretationen nicht weiter beschäftigen, da die Dinge auch bei der g-moll Symphonie nicht besser zu sein scheinen. Hier werden für mein Empfinden keine neuen Einsichten vermittelt.

  • So, jetzt habe ich auch noch mal auf spotify die neue CD gehört und kann berichten, dass einige der Unarten, die auf der Live-Aufnahme zu hören sind, auf der CD nicht so ausgeprägt sind.


    Die CD wird wohl auch eine Live-Aufnahme sein (wie schon erwähnt). Hat NH in den letzten 25 Jahren überhaupt etwas anderes als Live-Aufnahmen veröffentlicht?


    Und dass die CD dir weniger Probleme bereitet als der Styriarte-Mitschnitt könnte auch ein Gewöhnungseffekt sein. NH und sein Concentus werden das in so kurzem Abstand nicht wesentlich anders spielen. Diese Überartikulation ist anfangs doch gewöhnungsbedürftig, aber wenn man sich darauf einlässt, wird sie immer schlüssiger und selbstverständlicher. Natürlich muss einem das nicht gefallen, aber es ist schon sehr interessant, wie bei NH der Ausdruck immer größeren Raum einnimmt und immer konsequenter und radikaler umgesetzt wird. "Natürlich dahinfließende Musik" ist sicherlich das letzte, was NH präsentieren will. So gesehen geht derartige Kritik völlig an seinen Intentionen vorbei.


    Hier gibt es einen kurzen Probeausschnitt aus Graz. Aber dennoch erhellend, was die Intentionen von NH betrifft.



    Übrigens würde ich gerne die angeblich so schlechte Orchesterleistung etwas präzisiert haben. Ich höre sie nämlich nicht. Man muss sich beim Hören schon vergegenwärtigen, dass hier nicht das COE und schon gar nicht der Concertgebouw am Werke sind. Es spielen nur rund 30 Musiker auf altem Instrumentarium. Der größte Schatz des Concentus musicus ist sein altes Instrumentarium, dass in Jahrzehnten zusammengetragen wurde und wohl überhaupt keinen Vergleich in der Orchesterlandschaft kennt. Das klingt eben radikal anders als man es von größeren Klangkörpern mit moderneren Instrumenten gewohnt ist.



    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • "Natürlich dahinfließende Musik" ist sicherlich das letzte, was NH präsentieren will. So gesehen geht derartige Kritik völlig an seinen Intentionen vorbei.


    Er kann gerne einen unnatürlich dahinpolternden Mozart dirigieren, nur mich interessiert das nicht. Und außerdem, warum hörst Du Dir die besagte Live-Aufnahme nicht einfach mal an. Vielleicht verstehst Du dann, was ich meine.

  • Nun will ich noch berichten, dass ich mir nunmehr diesen Stream http://www.radio4.nl/luister-c…-olv-nikolaus-harnoncourt


    mit der Jupiter-Symphonie angehört und mit den Versionen



    mit den Wiener Philharmonikern und



    mit dem COE verglichen habe.


    Dazu habe ich noch andere Interpretationen auf der selben Plattform angespielt, z.B. Hogwood, Tate, Järvi, Maazel, Rattle, Böhm, Jacobs, Mackerras und Hengelbrock von dem oben genannten Link.


    Ich möchte nicht so weit gehen und sagen, dass es in letzter Zeit grundsätzlich mit den Harnoncourt-Interpretationen nicht besser sonder eher schlechter wurde, aber im Fall dieser Symphonie muss ich hier leider zustimmen.


    Die mit Abstand beste Harnoncourt-Interpretation ist die älteste der hier genannten, mit dem an Jahren mittleren Harnoncourt (COE, Musikvereinssaal)
    Von diesem Konzert gibt es auch eine DVD, die ich mir schon einmal aus der Bibliothek der Musikhochschule auslieh.


    Weniger stimmig im Gesamtklang, ungenau in den 32teln, etwas zu langsam und......tja einfach schlechter und uninspirierter gespielt (obwohl Harnoncourt sich hier gestisch mehr ins Zeug legt als damals mit dem COE) kommt die schon wesentlich neuere Interpretation mit den Wiener Philharmonikern daher. Möglicherweise ist es auch ein "Fehler" wenn man als Dirigent ständig extreme Gesten macht, weil das Orchester dann abstumpft. Man merkt es beim Dirigieren und kompensiert mit noch mehr "hineinpowern", wodurch die Sache nicht besser wird. Bei der früheren Aufführung hatte Harnoncourt diesen Aspekt m.E. besser im Griff.


    Der Radiostream mit dem Concentus musicus geht in der Tat hier noch -leider- einen Schritt weiter in diese Richtung. Ich habe hier -entgegen meiner Annahme, dass wir hier eine perfekt ausgearbeitete Version der Harnoncourt-Sicht zu hören bekämen- nur eine teilweise zu langsame (Satz 1, Jupiter) und -verglichen mit der schönen und feurigen COE-Version- recht bräsige Abschattung der eigentlich guten Interpretation aus früheren Tagen gehört. Es kommt mir etwas wenig geprobt und irgendwie.....ausgebrannt vor. Der Orchesterklang scheint inhomogen zu sein und die schlechte Aufnahmetechnik (es klingt so trocken wie ein einem Probenraum) tut das Ihre hinzu. Durch die Möglichkeiten der Tonaufzeichnung muss sich ein Künstler ja immer mit seinen eigenen früheren Taten messen lassen, was im Fall dieser Aufführung eher ungünstig ausfällt.


    Von Harnoncourt erwartet man ja vielleicht ein ständiges Hinterfragen, auch durchaus der eigenen Erkenntnisse. Oft hat er eigene Ansätze bei späteren Aufführungen sehr verändert, was oft sehr überraschend war. Ich war oft begeistert, wenn es dann noch besser, als früher war, dann aber, bei einigen neueren Sachen wie der zweiten Messias-Aufführung, der zweiten Bachkantaten-CD mit BWV 61 etc. (die DVD aus der Klosterkirche in Melk gefällt mir noch durchaus) und dem neuen Weihnachtsoratorium (obwohl es da im Detail auch viele schöne Ideen gibt, aber hier auch irgendwie nicht immer ausreichend geprobt, Temposchwankungen im eigentlich gut gespielten Satz 1 von Kantate 4 usw...) auch etwas enttäuscht. Es sind keineswegs einfallslose Interpretationen, aber manchmal fehlt es an der Kontrolle hinsichtlich der Frage, ob das Gehörte mit dem Gewollten überhaupt noch übereinstimmt bzw. ob die eine oder andere Stelle beim Hörer noch nachvollziehbar ankommt.
    Ebenso vermisse ich bei der Jupiter-Symphonie jenes vom ihm bekannte Hinterfragen und Neuerarbeiten. Vielmehr klingt es nach dem wohlbekannten Ansatz, dessen Realisierung allerdings den Vergleich mit den früheren Aufführungen nicht bestehen kann.
    Es scheint im Alter dieses Interpreten deutlich zu werden, dass er weniger ein klanglicher Orchestererzieher ist, auch immer weniger ein Perfektionist (das war im Concentus früher noch anders, lt. Biografien) sondern ein primär am Ausdruck und der Interpretation interessierter Musiker ist. Ideal ist, wenn beide Elemente, also das ästhetisch-Handwerkliche und das rein expressive Künstlerische in einer Balance zueinander stehen. Es scheint nun mittlerweile so zu sein, dass diese Balance zugunsten des imensen Ausdruckwillens ziemlich verschoben ist. Man braucht allerdings die anderen Aspekte, um die emotionalen und strukturellen Inhalte auch dem Publikum verständlich und erfahrbar zu machen. Sonst bekommt man im Ergebnis weniger statt mehr Ausdruck.
    Dennoch will ich nicht soweit gehen, von diesen Beispielen auf eine generelle Entwicklung zu schliessen, denn dafür kenne ich zu wenig die neuesten Arbeiten Harnoncourts.


    Es ist schon interessant zu erkennen, dass man hier drei unterschiedliche Versionen ein und derselben Grundinterpretation studieren kann.
    Man kann daraus lernen, dass ein im Grundsatz gutes und richtiges Interpretationskonzept noch lange nicht eine wirkliche Sternstunde bei der konzertanten Ausführung garantiert. Eine Interpretation zu haben und sie dann auch gut auf die Bühne zu bringen, sind verschiedene Dinge.


    Von den anderen Youtubefilmen mit der Jupitersymphonie gefiel mir interessanterweise für die Sätze 1 bis 3 besonders der kürzliche verstorbene Lorin Maazel erstaunlich gut bis ausgezeichnet, auch wenn das Orchester hier technisch ein ganz bisschen wacklig daherkommt. Dann fand ich auch den leider nur in Auschnitten im Netz vorhandenen Rattle sehr gut (Orchester BPO spielt klanglich und technisch einfach nur wunderbar....Perfektion!) und für den letzten Satz auch Mackerras und Tate inspirierend und entzündend. Zwar ausgearbeitet, aber dennoch irgendwie recht langweilig empfand ich die Järvi-Version, sehr transparent aber von der tieferen Bedeutung her oft zu oberflächlich Hogwood (hier auch sehr präzises Spiel, bei bestimmten bedeutsamen Zieltönen stört mich das Nonvibrato) und ebenso transparent aber noch oberflächlicher den mir immer auch zu schnellen Hengelbrock (hatte da mehr von ihm erwartet).


    Böhm kann einem im direkten Vergleich mit den anderen Genannten recht blass vorkommen. Vorteilhaft ist bei ihm immer die perfekte klangliche Balance und überhaupt eine immer vorhandene Deutlichkeit. Hinsichtlich Artikulation, Klangrede und Gestik erklingt es mir aber dann doch einfach als zu vor-reformatorisch. Der Aussage Celis, dass der Mann im Leben noch nie einen Takt Musik dirigiert habe, möchte ich mich dennoch nicht anschliessen..;-) (und das nicht nur, weil ich hier im Forum bleiben möchte...)


    Wenn jemand in diesem Thread das Wort "Hinrichtung" brachte, dann wage ich das einmal aufzugreifen und auf die für mich wirklich furchtbar klingende Jacobs-Interpretation anzuwenden. Wer z.B. Mackerras oder Böhm mag, müsste mit mir eigentlich einig sein, dass man solche Gewalttaten als echte Hinrichtungen schon im römischen Stil empfinden kann. Wenn man das dann mit der COE-Version Harnoncourts vergleicht, ist diese eine einzige Wohltat....


    Also: Ich muss als ein Harnoncourt-Liebhaber zugeben, dass diese konkrete Live-Aufführung nicht unbedingt als Sternstunde angesehen werden kann. Das muss man einfach ehrlich sagen, wenn man es mit den früheren Taten des Interpreten vergleicht. Die grundsätzlichen Ideen (also sozusagen die Kopfmusik) finde ich imner noch sehr gut, jedoch wurden diese damals beim Concertgebouw und dem COE wesentlich überzeugender in die klingende Realität umgesetzt.


    Wenn ich Maazel oder Rattle höre, dann höre ich sehr viele der im Grundsatz sehr guten Harnoncourt-Einflüsse (hätte ich mir bei jemanden wie Maazel nicht träumen lassen, weil ich ihn mit anderem Repertoire verbinde, aber so ging es mir ja auch beim Beethoven Thielemanns), allerdings in einer wärmeren und handwerklich geschmeidigeren und entsprechend personalisierten Fassung. Das ersetzt mir nicht die Harnoncourt-Aufführung mit dem COE, doch dieses genannte , etwas traurig stimmende Konzert aus dem holländischen Radiostream schon.


    Noch habe ich mir die CD nicht bestellt. Ich werden noch einmal genauer hineinhören müssen....


    Gruss
    Glockenton


    PS: Ich denke gerade an einen Video-Livemitschnitt des schon ziemlich alten Karajans mit Bachs Magnificat aus Berlin. Obwohl er m.E. nie tolle Bachinterpretationen hinlegte, ist mir dieses bedrückende Konzert ein Dokument dafür, dass ein alter Dirigent durchaus auch als Schatten seiner selbst wirken kann. Dennoch hat er ja mit dem Neujahrskonzert und seinen letzten Bruckner-Aufnahmen noch einige echte Sternstunden hinbekommen. Hoffen wir, dass es bei Harnoncourt auch noch viele davon geben wird.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Und außerdem, warum hörst Du Dir die besagte Live-Aufnahme nicht einfach mal an. Vielleicht verstehst Du dann, was ich meine.


    Spar dir deine Unterstellung. Ich habe das Konzert live gehört!



    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Spar dir deine Unterstellung.

    Ich muss sagen, dass ich Deinen Ton jetzt unangemessen scharf finde. Ich mag Dich mißverstanden haben, das tut mir dann leid, ich hatte Dich so verstanden, dass Du nur die Liveaufnahme auf der CD kennst. Ich finde es jedenfalls unschön, wenn hier solche Anfeindungen kommen. Ich werde mich dann an dieser Diskussion nicht mehr beteiligen.

  • Das von Theophilus gepostete Probenvideo ist in der Tat aufschlussreich. Ich stimme wie gesagt mit der grundsätzlichen Intention und der ganzen Artikulation und Phrasierung eigentlich sehr überein. Es fällt aber auch auf, dass NH bei ziemlichen Ungenauigkeiten, die ja auch mit dem Ausdruckswillen an bestimmten Stellen zusammenhängen, auf die Selbstheilungskräfte im Orchester baut und mit der reinen Ausdrucksinterpretation weitermacht.
    Manchmal muss man das auch machen - eine gute Stimmung in einer Probe zu erhalten, ist oft nicht so ganz einfach. Die Musiker hören ja selbst, wenn sie nicht zusammen sind. Vielleicht hätte er hier jedoch einfach einmal mit den Streichern rein handwerklich das Zusammenspiel üben müssen (bei 4.43 und weiter....der Dino, der in den Apfel beisst). Das sind jedoch Dinge, die man aus der Ferne schlecht beurteilen kann.


    Zudem muss man wohl auch zu Gute halten, dass es live besser geklungen und gewirkt haben mag, wie es hier durch den eher schlecht aufgenommenen Flaschenhals eines mp-3-Streams klingt. Ich fand manche Passagen in der Probe spontan besser, als ich sie von dem gestreamten Konzert in Erinnerung hatte.


    Das Klangbild der alten Instrumente sehe ich als grundsätzlich vorteilhaft und reizvoll an. Man bekommt einen grösseren Farbenreichtum, aber verliert gegenüber dem Symphonieorchester eine gewisse Wärme und Homogenität. Wenn man mit so einem Orchester ein Klavierkonzert spielt, muss man auch das dementsprechende Hammerklavier benutzen. Hier höre ich dann den heutigen, mehr singenden Flügel einfach lieber, was aber auch eine Geschmackssache ist.


    Ich überlege gerade, ob eine funktionalharmonische Verbindung für ein Gesamtwerk spräche. Es-Dur und g-moll stehen ja in einer direkten Relation, denn g-moll ist der Tonikamediant von Es-Dur, bzw. Es-Dur ist der Tonikasubmediant von g-moll (auch Paralleltonart genannt). Bei g-moll und C-Dur könnte man mit gutem Willen C-Dur als verdurte Subdominante von g-moll sehen, oder g-moll als Molldominante von C-Dur. Zwischen C-Dur und Es-Dur gäbe es noch eine entferntere Terz-Mediantverbindung....eine kleine Terz aufwärts. So richtig erschliesst sich mir der zwingende Zusammenhang hinsichtlich der Tonarten im Moment noch nicht, aber ich will nicht ausschliessen, dass mir bei einer entsprechenden Erläuterung noch ein Licht aufgeht.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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