"Gott" Enrico Caruso - Vorbild oder Bürde und Sackgasse für nachfolgende Tenöre

  • Hallo,


    dieses Thema möchte ich bewußt hier besprechen, weil es Auswirkungen auf den Geschmack bezüglich des Operngesanges bis zum heutigen Tage hat ! Enrico Caruso (1873-1921) braucht nicht ausführlich vorgestellt zu werden. Er wird als der König der Tenöre bezeichnet. Seine volle, baritonal grundierte, sehr voluminöse und sehr schallkräftige Stimme, gab den Tenorpartien des Verismo ihr Gesicht. Seit ihm glauben wir alle zu wissen, wie die berühmtesten dramatischen Partien des italienischen Faches zu klingen haben: Manrico, Alvaro, Renato, Radames, Rodolfo, Pinkerton, des Grieux, Cavaradossi, Dick Johnson, Canio und Turridu, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Giacomo Puccini fragte den feurigen Sizilianer Caruso ob er von Gott gesandt worden sei. Versucht man, Carusos Stimme einer Analyse zu unterwerfen, erlebt man den seltenen Fall eines großvolumigen, aber zu Beginn seiner Karriere lyrischen Tenors, der mit der Zeit in die dramatischen Partien hineinwuchs, deren Interpretation dann durch dessen besondere Stimme und den Stil des Verismo. besondere Ereignisse wurden. Allerdings sang Caruso mit dieser Stimme auch das vor-veristische Repertoire: Nemorino und Edgardo von Donizetti, den Herzog von Mantua und Alfredo Germont von Verdi, sogar eine Tenorpartie aus einer Oper von Gluck und den Ottavio in Mozarts Don Giovanni. Auch im französischen Fach bewegte er sich: Neben dem halbdramatischen Don Jose, interpretierte er die sehr lyrischen Partien des Nadir von Bizet, Massenets des Grieux und Gounods Faust. Es ist eine merkwürdige Ironie der Opergeschichte, daß Caruso nicht alt genug wurde, im die dramatischsten Partien zu singen, die das italienische Fach hat: Othello und Calaf! Ein Kritiker, dessen Name mir im Moment entfallen ist, gab zu Protokoll: "Bis Caruso kam, hatte ich keine Stimme gehört, die wie seine klang, nach ihm hörte ich nur noch Stimmen, die so klingen wollten, wie er!". Caruso setzte durch sein Beispiel bei Tenören eine Dramatisierung des gesamten italienischen und französischen Faches durch. Nur einige seiner Zeitgenossen und Nachfolger konnten ihm hierin folgen: Giovanni Zenatello (1876-1949); Giovanni Martinelli (1885-1969); Beniamino Gigli (1890-1957). In der jüngeren Generation nur noch wenige, die stimmlich keinen Schaden oder wenig Schaden nahmen: Jussi Bjoerling (1911-1960) und Carlo Bergonzi (*1924), auch Pavarotti. Ansonsten machten die Tenöre mit baritonaler Anlage Karriere: Mario del Monaco, Franco Corelli, Franco Bonisolli, Placido Domingo, Jose Cura und Jonas Kaufmann. Für viele andere war das Gehen auf dem Pfad von Caruso mit der Verbindung von umfassendem Repertoire mit dramatischem Gesang bei lyrischer Stimme ein Weg des Blutes und der Tränen, der in permanenter Bedrohung der Stimme oder Stimmruin endete, Giuseppe di Stefano, Jose Carreras und Rolando Villazon sind da nur die berühmtesten Beispiele! Caruso zwang seinen Nachfolgern eine dramatische Interpretation auch lyrischer Partien auf. Auch stülpte er lyrischen französischen Partien das Kleid des Verismo über. Es ist daher fast als Glück zu bezeichnen, daß Caruso keine Arien aus den gegensätzlichsten Polen seines Repertoires, Mozarts Ottavio und Wagners Lohengrin, auf Platte aufgenommen hat. Welch eine Bürde für Mozart- und Wagnertenöre! Ich erbitte Meinungen.


    Gruß,


    Antalwin

  • Danke Antalwin für deinen fundierten Beitrag. Eine sorgfältige Antwort erfordert etwas Zeit und Denkarbeit.


    Ganz spontan fällt mir ein:
    Einer der erfolgreicheren Tenöre deutscher Zunge hat diese Gratwanderung problemlos geschafft. Ich meine Peter Seiffert, der den Ottavio und den Stolzing beinahe zeitgleich in Salzburg und Bayreuth gesungen hat. An guten Tagen gibt er auch heute noch einen überzeugenden Tannhäuser oder Siegmund.


    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Ich werde mich mit dem folgenden Statement vermutlich heftiger Kritik aussetzen, denn ich halte Caruso, bei aller Wertschätzung dennoch für falsch eingeschätzt. Dass ihn die Zeitgenossen über alle Maßen rühmten ist Faktum. Indes ist es beinahe unmöglich die Qualität der Stimme, bzw ihre spezifische Klangfarbe HEUTE noch zu beurteilen, denn der Trichter, der für die Aufnahme benutzt wurde ist ein gar untaugliches Mittel um hohe Frequenzen wiederzugeben, so bleibt uns ein grobes Abbild einer vergötterten Stimme. Es gibt keine einzige "Elektrische Aufnahme" von Caruso, denn die wurde erst etwa 3 Jahre nach seinem Tod erstmals eingesetzt. wobei auch hier die Klangqualität noch nicht berauschend war.
    Daß man Caruso als "Referenz" benützt - und zwar bis heute - ist mir ein Mirakel - und auch wieder nicht, denn ich glaube nicht an einen Zufall, wenn gerade die "beste Tenorstimme aller Zeiten" gerade in einem Zeitraum angesiedelt sein soll, wo Stimmen wie aus einem Nebel heraus aus dem Trichter tönen. Es gibt heute "Restaurierungen" der alten Aufnahmen, aber Wunder können die auch nicht vollbringen, weil etwas, das der Trichter nicht erfassen konnte nicht wiedergegeben werden konnte.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich werde mich mit dem folgenden Statement vermutlich heftiger Kritik aussetzen, denn ich halte Caruso, bei aller Wertschätzung dennoch für falsch eingeschätzt. Dass ihn die Zeitgenossen über alle Maßen rühmten ist Faktum. Indes ist es beinahe unmöglich die Qualität der Stimme, bzw ihre spezifische Klangfarbe HEUTE noch zu beurteilen, denn der Trichter, der für die Aufnahme benutzt wurde ist ein gar untaugliches Mittel um hohe Frequenzen wiederzugeben, so bleibt uns ein grobes Abbild einer vergötterten Stimme. Es gibt keine einzige "Elektrische Aufnahme" von Caruso, denn die wurde erst etwa 3 Jahre nach seinem Tod erstmals eingesetzt. wobei auch hier die Klangqualität noch nicht berauschend war.
    Daß man Caruso als "Referenz" benützt - und zwar bis heute - ist mir ein Mirakel - und auch wieder nicht, denn ich glaube nicht an einen Zufall, wenn gerade die "beste Tenorstimme aller Zeiten" gerade in einem Zeitraum angesiedelt sein soll, wo Stimmen wie aus einem Nebel heraus aus dem Trichter tönen. Es gibt heute "Restaurierungen" der alten Aufnahmen, aber Wunder können die auch nicht vollbringen, weil etwas, das der Trichter nicht erfassen konnte nicht wiedergegeben werden konnte.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Lieber Alfred,


    du rechnest mit heftiger Kritik, bekommst von mir aber erst einmal Zustimmung. :)


    Denn unabhängig davon, dass ich die Faszination, die vom Sänger Caruso ausgegangen sein muss, anhand der vorhandenen Trichter-Aufnahmen nicht 100%ig nachvollziehen kann, gab es in der 20. Hälfte des 20. Jahrhunderts doch einige(!) wirklich großartige Rollenvertreter (neben den eingangs schon Genannten möchte ich unbedingt noch Ferruccio Tagliavini und Richard Tucker hinzufügen).
    Insofern sehe ich die überragende Leistungsfähigkeit eines Lauritz Melchior im Wagner-Fach als weit größere "Bürde" für seine Nachfolger in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts an, als im Falle des bereits 1921 verstorbenen Enrico Caruso im italienischen Fach.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hallo Stimmenliebhaber,


    Du liegst vollkommen richtig ! Ich als Wagnerianer muß auch sagen: Für den Tenor des italienischen Faches ist Caruso ein Berg; für die Tenöre, die nach dem "Gott aller Wagnertenöre", Lauritz Melchior, versuchten, Wagner zu singen, war er ein Gebirge ! Es gab welche, die so klangen wie er, seine Kondition, Stimmkraft und Souveränität sind aber unerreicht ! Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Etwa seit 1965 versucht man, bei Wagner den baritonalen Heldentenor zu verdrängen und vergessen zu machen, während jeder italienische oder auch spanischsprachige Tenor nach wie vor versucht, so viele Caruso-Partien wie möglich im eigenen Repertoire zu haben !


    Antalwin

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  • Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Etwa seit 1965 versucht man, bei Wagner den baritonalen Heldentenor zu verdrängen und vergessen zu machen, während jeder italienische oder auch spanischsprachige Tenor nach wie vor versucht, so viele Caruso-Partien wie möglich im eigenen Repertoire zu haben !

    Diesen Unterschied sehe ich als nicht so groß an, auch im deutschen Fach blieben die Partien gleich - und dass hier die Tenöre etwas leichtgewichtiger und damit heller und tenoraler, auch lyrischer waren, ist sicher richtig, aber es gab doch auch immer Ausnahmen. Von meinen live erlebten Wagner-Tenören empfand ich stimmlich (bei allen Schwächen, die er auch hatte) vor allem den finnischen Heldentenor Heikki Siukola als einen würdigen Melchior-Nachfolger, gerade als Tristan. Aber das ist eigentlich ein anderes Thema und ich möchte um Gottes Willen nicht deinen Caruso-Thread sprengen... ;) :untertauch: :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich möchte der Diskussion noch etwas Futter geben. Ich bin der Meinung, daß bis zum heutigen Tag die Tenöre des italienischen Faches die Stimmwirkung Carusos nachempfinden wollen. Es geht ihnen darum, dunkel-metallische Töne vor allen Dingen in der Mittellage zu erzeugen, wobei sie zwangsläufig die Höhenfähigkeit ihrer Stimme beschränken. Der genannte lyrische Tenor Richard Tauber konnte dieses aufgrund seiner stimmtechnischen Meisterschaft erreichen, der zu seinem Nachfolger gekürte Rudolf Schock schon weniger. Mit der Technik, die Bruststimme nach oben zu treiben und dann mit Falsett abzuschließen, statt mit gestufter Höhe, ruinierte sich erst Giuseppe di Stefano, dann dessen Fan Jose Carreras und zuletzt Rolando Villazon. Man möchte die Wirkung Carusos erreichen, hat aber nicht dessen stimmphysische und stimmtechnische Mittel !


    Antalwin

  • Ich bin der Meinung, daß bis zum heutigen Tag die Tenöre des italienischen Faches die Stimmwirkung Carusos nachempfinden wollen. Es geht ihnen darum, dunkel-metallische Töne vor allen Dingen in der Mittellage zu erzeugen, wobei sie zwangsläufig die Höhenfähigkeit ihrer Stimme beschränken. Der genannte lyrische Tenor Richard Tauber konnte dieses aufgrund seiner stimmtechnischen Meisterschaft erreichen, der zu seinem Nachfolger gekürte Rudolf Schock schon weniger.


    Ob die Sänger von heute die Stimmwirkung von Caruso nachempfinden wollen, weiß ich nicht. Wenn sie es mal täten. ;) Wenigsten bekämen sie dann eine Vorstellung davon, wie Menschen singen können, was Schönheit des Gesangs ist. Nicht umsonst haben viele Zeitgenossen dieses Phänomen eindringlich beschrieben, wovon die Platten nur einen verzerrten Eindruck vermitteln können. Ich glaube, die Sänger - wenn sie sich denn überhaupt gründlich mit Caruso auseinandersetzen - haben derzeit keine richtige und grundierte Ausbildung. Sie singen zu schnell ins große Fach, weil sie sich davon Ruhm und Anerkennung versprechen. Deshalb auch diese Verlagerung in die Mittellage. Talente können nicht mehr wachsen. Singt einer einen ordentlichen Verdi, wird gleich über Tristan spekuliert. Sie haben schlechte Berater, singen über ihre Verhältnisse. Pedrillo oder Jaquino zählen nicht mehr. :( Auch Operette nicht. Lieder auch nicht so richtig. Würden sich Sänger stärker darin üben, könnten sie nur gewinnen. Oratorium ist auch nicht angesagt. Es gibt auch keine Kapellmeister und Solorepetitoren, die gründlich und anhaltend mit Sängern arbeiten können. Caruso war nach einem Eindruck ein starkes Naturtalent mit vorzüglichen körperlichen Voraussetzungen. Schaut euch die Fotos an. Der Mann hatte einen sehr ausgeprägten Korpus, eine starke Halspartie. Der konnte stützen. Seine legendäre Berühmtheit fällt mit der Verbreitung der Schallplatte zusammen, da sehe ich einen Zusammenhang. Eines ist auch nicht zu vergessen, er wurde nicht alt.


    Lieber Antalwin, ich freue mich wirklich sehr, dass Du wieder ein schönes Opernthema angestoßen hast. Solche Themen haben inzwischen Seltenheitswert bei TAMINO. Das bedauere ich sehr.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Aber hätte es zu Carusos Zeiten auch die mediale Präsenz wie heute und die geldgeilen Agenten gegebn die keine Rücksicht auf ihre Schützlinge nehmen, dann wäre er auch verheitzt worden. Und heutzutage muss ein Sänger nur mal einen guten Boheme Rodolfo singen, dann heisst es sofort er wäre bestimmt auch ein sehr guter Siegmund usw. Lieber Rheingold, deshalb gehe ich auch immer noch weiter in die Oper um zu sehen wie gute Ensemblesänger sich positiv weiterentwickeln. Ich habe zum Beispiel die Karriere von Norbert Ernst verfolgt, der zur Zeit Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper ist und vorher an der Rheinoper war. Dort wurde er häufig als Jaquino und Pedrillo eingesetzt und ich hab ihn in diesen Rollen immer gerne gehört, wobei der Jaquino noch die undankbarerere Rolle ist. Ich erinnere mich immer noch gerne an die vorletzte Spielzeit wo er in der Entführung den Pedrillo gesungen hat, Marlies Petersen die Konstanze und Hans Peter König den Osmin. Vor allem das Zusammenspiel zwischen Ernst und König war köstlich und jedes mal anders.

  • Aber hätte es zu Carusos Zeiten auch die mediale Präsenz wie heute und die geldgeilen Agenten gegebn die keine Rücksicht auf ihre Schützlinge nehmen, dann wäre er auch verheitzt worden.

    Er hatte in seiner Zeit die größtmögliche mediale Präsenz, ebenso geldgeile Agenten und ist auch verheizt worden...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Lieber Rheingold1876,


    ich bedanke mich ! Ich bin seit 1980 ein Liebhaber der Oper. Als Historiker interessiert mich dann natürlich ganz besonders, wer, wann, was, wie gesungen hat ! Selbst bei Caruso kann man schon sagen, daß er verheizt wurde. Er wurde nur 48 Jahre alt, auf den letzten Fotos von 1921 sieht er aber, gerade im Gesicht, aus wie ein Mann von 70. Ein Kritiker schrieb, daß er sich "zu Tode gesungen" habe ! Der Markt war auch damals schon gnadenlos, aber erst er, bzw., die Schallplatte, machte die Stimme Carusos bekannt !


    Antalwin