Johann Sebastian Bach (1685-1750):
PASSIO DOMINI NOSTRI
JESUM CHRISTUM
SECUNDUM EVANGELISTAM MATTHÆUM
Passionsmusik in zwei Teilen, BWV 244
Text: Matthäus-Evangelium, Kapitel 26 und 27, freie Dichtungen von Picander
Uraufführung im Karfreitagsgottesdienst 1727 in der Leipziger Thomaskirche
BESETZUNG
Coro I (Tochter Zion): SATB (Soli), SATB (Chor), Orchester
Coro II (Die Gläubigen): SATB (Soli), SATB (Chor), Orchester
Soprano in ripieno (nur Eröffnungschor des ersten Teils)
INHALTSANGABE
Erster Teil (vor der Predigt)
Nach der von zwei Themen beherrschten e-Moll-Orchestereinleitung, die in doppeltem Kontrapunkt zueinander stehen (wodurch jede von ihnen [ohne kontrapunktische Regeln zu verletzten] Ober-, Unter- und Melodiestimme, sogar Begleitung sein kann), beginnt der mit neunzig Takten beeindruckende doppelchörige Eingangschor (Coro I und II):
Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen,
Sehet - Wen? - den Bräutigam,/Seht ihn - Wie? - als wie ein Lamm!
O Lamm Gottes, unschuldig/Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Sehet, - Was? - seht die Geduld,
Allzeit erfunden geduldig,/Wiewohl du warest verachtet.
Seht - Wohin? - auf unsre Schuld;
All Sünd hast du getragen,/Sonst müssten wir verzagen.
Sehet ihn aus Lieb und Huld/Holz zum Kreuze selber tragen!
Erbarm dich unser, o Jesu!
Auffällig ist das dichte und dissonanzenreiche Stimmengewirr des Orchesters über einem zwar wuchtigen, thematisch aber völlig unbeteiligten ostinaten Bass. Während der Chor I zur Klage aufruft, unterbricht der Chor II diesen Aufruf immer wieder mit Fragen nach dem Grund (Wen - Wie - Was - Wohin) und Chor I antwortet mit einer Art Bildersprache, den Schriften der Propheten entnommen: Der „Bräutigam“ nimmt einem „Lamm“ gleich die menschlichen Sünden auf sich und trägt „das Kreuz“ geduldig. Als sei dieser wahrhaft imponierende Chorsatz in der vorliegenden Form seinem Schöpfer noch nicht aufrüttelnd genug, fügt er bei der Erwähnung des Lammes den Passionschoral „O Lamm Gottes unschuldig“ (im obigen Text fett hervorgehoben) für einen dritten Chor, den „Soprano in ripieno“, hinzu*. Dass man für diesen Part Kinderstimmen einsetzt, ist sicherlich auch der Erkenntnis geschuldet, dass sich die „unschuldig“ wirkenden Kindersoprane besonders klar vom achtstimmigen Doppelchor der Erwachsenen abheben. Es ist aber keine aus der Partitur abzuleitende Vorschrift.
* Jacques Chailley („Les Passions de J.S.Bach“, Paris, 1963) hat auf die Ambivalenz dieses Satzes hingewiesen: Bach fügte den G-Dur-Choral in den e-Moll-Einleitungssatz ein. Die gleiche Vorgehensweise fand er auch in anderen Kompositionen Bachs, beispielsweise in den BWV-Nummern 4, 137 und 161.
Zunächst prophezeit Jesus (Bass Coro I) den Jüngern seine bevorstehende Kreuzigung. Dabei werden seine Worte (bis auf eine Ausnahme, auf die später noch hingewiesen wird) zusätzlich zur Orgel von Streichern begleitet, durch die sie auf den Hörer wie von einem Heiligenschein umgeben wirken. Bach hat die Christus-Worte übrigens in die Partitur mit roter Tinte geschrieben, was allgemein so gedeutet wird, dass er das göttliche Wort sichtbar vom profanen Rest abheben wollte. Unter den vielen mit äußerster Sorgfalt geschriebenen Handschriften Bachs ist gerade die der Matthäus-Passion ein besonders schön gestaltetes Unikat.
Nachdem Jesus den Jüngern seinen Kreuzestod angekündigt hat, wird der erste von vielen Chorälen eingefügt, in dem die Gläubigen (Coro II) ratlos fragen:
Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen,
Dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?
Was ist die Schuld, in was für Missetaten/Bist du geraten?
Der Text stammt von Johann Heermann (1585–1647), die Melodie von Johann Crüger (1598-1662). Bereits hier wird deutlich (und im weiteren Verlauf des Geschehens immer klarer werden), mit welcher Akribie Bach an den entscheidenden Stellen des Werkes die kontemplativen und kommentierenden Choräle einsetzt.
Der Evangelist (Tenor Coro I) weiß von einer Zusammenkunft des Hohen Rats, der sich aus den Hohenpriestern, Pharisäern, Sadduzäern und Schriftgelehrten zusammensetzt, zu berichten, dass sie Jesus als Aufrührer betrachten und los werden (sprich: töten) wollen. Die Diskussion wird mit dem kurzen, aber erregenden Doppelchor, der die Einigkeit in der Runde beweist, beendet: „Ja nicht auf das Fest, auf dass nicht ein Aufruhr werde im Volk.“ Angesichts der vielen Pilger in der Stadt eine Horrorvision für den Hohen Rat.
In einer episodischen Szene im Hause Simons des Aussätzigen salbt „ein Weib“ das Haupt Jesu mit kostbarem Öl, was die Jünger (Coro I) gegen die Frau und ihre Tat aufbringt; sie sind der Meinung, dass man „das Wasser“ hätte teuer verkaufen und den Erlös den Armen spenden sollen. Das lässt Jesus aber nicht gelten:
Was bekümmert ihr das Weib? Sie hat ein gut Werk an mir getan.
Ihr habet allezeit Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. (…)
Diese Szene kommentiert eine Sünderin (Alt Coro I) mit Rezitativ (Du lieber Heiland du) und Arie (Buß und Reu), in denen inhaltlich die Tat und die Verteidigung der Frau durch Jesus nicht nur gelobt, sondern gleichzeitig als Vorbild für eigenes Handeln unterstrichen wird. Diese bedeutende fis-Moll-Arie erhält ihre charakteristische Klangfarbe durch zwei solistisch eingesetzte Flauti traversi, fällt aber schon in den ersten vier Takten durch hörbar schmerzhaft wirkende Chromatik auf. Im B-Teil werden die im Text erwähnten „tropfenden Tränen“ nicht nur in der Solo-Stimme deutlich, sondern auch instrumental durch entsprechende Begleitfiguren ausgedrückt.
Jetzt führt der Evangelist eine wichtige Person namentlich in die Handlung ein: Judas, ein Jünger Jesu (Bass Coro I), will seinen Rabbi für dreißig Silberlinge an die Hohenpriester verraten. Durch diese Tat wird sein Name für alle Zeiten als Synonym für verräterisches Handeln stehen und der Lohn für solche Taten „Judaslohn“ genannt werden. Jesus selber wird später über ihn sagen: „Es wäre ihm besser, dass derselbige Mensch noch nie geboren wäre.“ Der Sopran (Coro II) bietet an dieser Stelle ein Charakterbild von Judas in einer typisch barocken Bildersprache an: In der Arie „Blute nur, du liebes Herz“, von Bach in seiner Lieblingstonart h-Moll vertont, ist Jesu Jünger ein zur „Schlange“ gewordenes Kind, das seinen „Pfleger“ mit dem Tode bedroht. Je zwei Flauti traversi und Violinen schreibt Bach Seufzermotive in die Noten, die den Text der Sopranstimme musikalisch ausdeuten und den aufmerksamen Hörer packen und beeindrucken können.
Danach geht es im Bericht des Evangelisten um das gemeinsame Essen des Osterlammes beim Pessachfest, einem der höchsten Feste im jüdischen Kalender, das an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten erinnert. Auf die Frage der Jünger (Coro I), wo man dieses Osterlamm essen solle, werden sie von Jesus zu „Einem“ in der nahen Stadt verwiesen, bei dem sie alles vorbereiten sollen. Und hier, bei diesem Mahl, eröffnet Jesus seinen Jüngern, dass er von einem „unter euch“ verraten werden wird. Diese Vorhersage führt zu einem aufgeregten Chorsatz, in dem die Jünger elfmal* entgeistert fragen: „Herr, bin ich's?“ Bevor Jesus die Antwort gibt, dass es derjenige sei, der mit ihm die Hand in die Schüssel tauche, fügt Bach einen Choralvers ein, der den Gläubigen (Coro II) jene Antwort in den Mund legt, die den Jüngern nicht in den Sinn kommt:
Ich bin's, ich sollte büßen,/An Händen und an Füßen
Gebunden in der Höll'./Die Geißeln und die Banden
Und was du ausgestanden,/Das hat verdienet meine Seel.
Es ist die zehnte Strophe des Chorals „O Welt, sieh hier dein Leben“ von Paul Gerhardt, der die Melodie des Abendliedes „Nun ruhen alle Wälder“ unterlegt ist, die von Heinrich Isaac (um 1450-1517) für das Abschiedslied „Innsbruck, ich muss dich lassen“ komponiert wurde.
* Die Anhänger der These, J. S. Bach habe in seinen Werken, also auch in der Matthäus-Passion, mit Zahlensymbolik gearbeitet, sehen in diesem Chorsatz einen beispielhaften Beleg für die Richtigkeit ihrer Behauptung: Die aufgeregte Frage wird nur elfmal gestellt, weil sich Judas nicht daran beteiligt.
Es folgt die Einsetzung des Heiligen Abendmahls (griechisch: Eucharistie), das als zentrale christliche Botschaft das Versprechen Jesu enthält, in seinen Gemeinden gegenwärtig zu sein, wenn das Mahl zu seinem Gedächtnis eingenommen wird. Bach bleibt sich auch hier treu: Er gestaltet die Worte Jesu mit großer Eindringlichkeit, schreibt als Begleitung einen ebenso schlichten wie erhaben wirkenden ariosen Satz im wiegenden Sechsachteltakt. Der Evangelist berichtet, dass Jesus zunächst das Brot nimmt, dankt und sagt:
Nehmet, esset, das ist mein Leib.
Dann greift er zum Kelch, den er herumreicht und dabei sagt:
Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments,
welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. (...)
Dieses Geschehen wird von dem von zwei Oboen da caccia begleiteten Sopran (Coro I) mit Rezitativ (Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt) und Arie (Ich will dir mein Herze schenken) mit tiefer Anteilnahme über Jesu Leiden und Sterben, aber auch mit Erkenntnis der tröstlichen Heilsgewißheit aus dieser Tat kommentiert.
Das tragische Geschehen verlagert sich nun an den Ölberg; dort prophezeit Jesus seinen Jüngern, dass sich in dieser Nacht alle an ihm ärgern werden. Petrus (Bass Coro I) weist seinen Rabbi darauf hin, dass er sich nicht über ihn ärgern werde, aber Jesus weiß genau, wie Petrus in Kürze handeln wird, und er sagt es ihm auch direkt auf den Kopf zu:
In dieser Nacht, ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verleugnen.
Aber auch dem widerspricht Petrus heftig - und die übrigen Jünger schließen sich dieser Aussage aus voller Überzeugung an. In die rezitativisch vorgetragene Schilderung hat Bach zwei Verse aus dem Leitchoral dieses Oratoriums, „O Haupt voll Blut und Wunden“ (von Paul Gerhard, von Johann Crüger mit einer auf Hans Leo Haßler zurückgehenden Melodie unterlegt), eingfügt: Die beiden Verse „Erkenne mich, mein Hüter“ (E-Dur) und „Ich will hier bei dir stehen“ (Es-Dur) sind kontemplative Einschübe aus Petrus' Position, werden aber den Gläubigen des Coro II in den Mund gelegt.
Nun wird ein neuer Schauplatz in das Geschehen eingeführt, der Garten Gethsemane. In dem Jesus seinen Anhängern zunächst erklärt, hier abseits und allein zum Vater beten zu wollen, wird sein tiefes menschliches Angstgefühl vor den kommenden Ereignissen daran erkennbar, dass er schließlich doch Petrus und zwei Söhne des Zebedäus mitnimmt:
Meine Seele ist betrübt bis an den Tod, bleibet hie und wachet mit mir.
Nach dem traurig dahin strömenden Arioso kommt es im anschließenden Accompagnato zu aufgeregteren Tönen, in dem der Tenor (Coro I) zu einer Klage anhebt, der die Form einer Choralfantasie hat, weil Bach den dritten Vers aus dem Passionschoral „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ (im nachfolgenden Zitat fett hervorgehoben) hinzufügt - ein abermals herausragendes Stück dieser Partitur:
O Schmerz!/Hier zittert das gequälte Herz;/Wie sinkt es hin, wie bleicht sein Angesicht!
Was ist die Ursach aller solcher Plagen?
Der Richter führt ihn vor Gericht./Da ist kein Trost, kein Helfer nicht.
Ach! meine Sünden haben dich geschlagen;
Er leidet alle Höllenqualen,/Er soll vor fremden Raub bezahlen.
Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet/Was du erduldet.
Ach, könnte meine Liebe dir,/Mein Heil, dein Zittern und dein Zagen
Vermindern oder helfen tragen,/Wie gerne blieb ich hier!
Pochende monotone Sechzehntel der Bässe bestimmen den Beginn dieser f-Moll-Klage, ehe je zwei Flöten und Oboen da caccia mit Seufzermotiven hinzutreten.
Die anschließende Arie besteht im A-Teil nur aus dem Bekenntnis der Tochter Zion, bei „meinem Jesu“ wachen zu wollen. Diesen Willen bekräftigt Coro II als Chor der Gläubigen mit dem zehnmal sich wiederholenden Erkenntnissatz: „So schlafen unsre Sünden ein“. Der umfangreichere B-Teil, in dem Jesu Leiden und Sterben für den sündigen Menschen als notwendig erkannt und ausgesprochen wird, bezieht eine klare Stellung: „Drum muss uns sein verdienstlich Leiden recht bitter und doch süße sein.“
Nach einem kurzen Rezitativ des Evangelisten, der von Jesu Gebet an seinen himmlischen Vater berichtet, den Kelch von ihm zu nehmen, doch „nicht wie ich will, sondern wie du willt“, wird dem Bass aus Coro II eine umfangreichere Szene zugewiesen: Zunächst sieht der Sänger in Jesu Handeln einen Sinn für das eigene Heil, und bekennt schließlich „Kreuz und Becher“ annehmen zu wollen, weil nur durch diese Nachfolge das Seelenheil gesichert ist. Ein erneutes, geradezu flehendes Gebet Jesu an den Vater im Himmel, ob der Kelch nicht doch an ihm vorübergehen könne, bleibt ohne Antwort, kein Zeichen aus der Höhe gibt ihm Hoffnung: In letzter Konsequenz geht Jesus seinem Weg zum Tode am Kreuz weiter, in dem Wissen, dass er damit den Heilsplan des himmlischen Vaters erfüllt. Diese ebenso demütige wie starke Haltung greift der eingeschobene Choral auf:
Was mein Gott will, das g'scheh allzeit,/Sein Will, der ist der beste,
Zu helfen den'n er ist bereit,/Die an ihn gläuben feste.
Er hilft aus Not, der fromme Gott,/Und züchtiget mit Maßen.
Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut,/Den will er nicht verlassen.
Der Dichter dieses Chorals ist Albrecht Herzog von Preußen (1490-1568), der den Text im Jahre 1547 verfasste; die Melodie entnahm der Organist und Komponist Johannes Eccard (1553-1611) dem französischen Chanson „Il me suffit“ von Claudin de Sermisy (1492-1562) und passte sie dem deutschen Text an.
Nun kommt der letzte Abschnitt des ersten Teils, den Bach fast schon opernhaft* gestaltet. Zunächst äußert der Bass (Coro II), von zwei Solo-Violinen begleitet, in einem Rezitativ (Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder) und der Arie (Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen) sowohl Bekenntnis als auch Erkenntnis aus Jesu Leiden: Der sündige Mensch muss ebenfalls Kreuz und Leid auf sich nehmen, will er das Seelenheil erlangen.
* In älteren Bach-Biographien wird behauptet, dass Zeitgenossen genau diese realistische Darstellung kritisiert hätten. Doch gibt es bis heute keine belegbaren Äußerungen über die Erstaufführung der Matthäus-Passion, weder von den Kirchenrepräsentanten, noch von der Leipziger Stadtspitze oder von Musikliebhabern. Daher dürfte diese kritische Aussage der Legendenbildung zuzuschreiben sein.
Der Evangelist erzählt weiter, dass Jesus bei der Rückkehr vom stillen Gebet seine Jünger schlafend vorfindet und ihnen, enttäuscht und traurig über diese zutiefst menschliche Schwäche, Vorhaltungen macht: Müsst ihr jetzt schlafen? Könnt ihr in dieser für mich so schweren Stunde nicht wach bleiben? In diesem Moment tritt Judas auf die Szene und gibt den Häschern des jüdischen Klerus mit dem Kuss auf Jesu Wange das verabredete Zeichen für seine Gefangennahme. Es folgt ein Duett von zwei Jüngern, das Bach dem Sopran und dem Alt (aus Coro I) zuwies, und das durch auffällig große Intervallsprünge die Aufregung der Jünger unterstreicht; der Chor, der die übrigen Jünger darstellt, ist ebenso nervös und ruft neunmal* dazwischen (nachfolgend fett hervorgehoben):
So ist mein Jesus nun gefangen.
Lasst ihn, haltet, bindet nicht!
Mond und Licht/Ist vor Schmerzen untergangen,
Weil mein Jesus ist gefangen.
Lasst ihn, haltet, bindet nicht!
Sie führen ihn, er ist gebunden.
* Hier sehen die Befürworter von Bachs Zahlensymbolik ein weiteres Beispiel: Judas ist aus dem Kreis der Jünger ausgeschieden, zwei sind im Duett befangen, bleiben also noch neun Jünger für die Zwischenrufe übrig.
Es folgt ein achtstimmiger Doppelchor mit dramatischer Wirkung: er zeichnet musikalisch einen über das Land rasenden gewaltigen Sturm nach, der sich aber nur in der Vorstellung der beobachtenden Menge abspielt:
Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle,
Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle/Mit plötzlicher Wut/
Den falschen Verräter, das mördrische Blut!
Bachs Musik nimmt die textlichen Vorgaben ernst und lässt das Orchester mit zerklüfteten Themen das Zucken der Blitze nachzeichnen, verdeutlicht das Donnergrollen mit ständig rollenden Sechzehnteln in den Bässen, und nutzt dann, nach einer Generalpause, wilde Streicherpassagen zur musikalischen Abbildung des Höllenabgrundes, in dem der Verräter Judas untergehen soll.
Dramatisch geht der Bericht des Evangelisten weiter: Da hieb „einer aus denen, die mit Jesus“ unterwegs waren, dem Knecht des Hohenpriesters mit dem Schwert ein Ohr ab*. Diese Gewalt ist Jesus zuwider und er weist seine Anhänger darauf hin, dass der, der das Schwert zückt, auch durch das Schwert umkommen soll. Außerdem könnte er ja seinen himmlischen Vater bitten, „zwölf Legion Engel“ zu seiner Befreiung zu schicken - wie würde dann aber „die Schrift“ erfüllt, fragt er? Dann wendet sich Jesus den Häschern zu und beklagt sich bei ihnen, dass sie „mit Schwertern und Stangen“ gekommen seien, obwohl sie ihm doch alle im Tempel zugehört und ihn dort nicht angegriffen hätten. Die Szene wirkt, so der Evangelist, auf seine Jünger so schockierend, dass sie alle flüchten.
* Während in drei Evangelienberichten kein Beteiligter namentlich genannt wird, nennt der Evangelist Johannes explizit den Fischer Petrus als den gewalttätigen Jünger, und den geschädigten Knecht Malchus. Dessen Heilung durch Jesus erwähnt wiederum nur der Evangelist Markus.
Der Schlusschor des ersten Teils, ursprünglich für die Johannes-Passion entstanden, ist als Choralfantasie gestaltet. War der Komponist, wie oben erwähnt, in den vorherigen Szenen eher der Oper nahe, so kommt er mit diesem E-Dur-Stück, das durch Seufzermotive des Orchesters grundiert wird, dem Oratorium wieder näher:
O Mensch, bewein dein Sünde groß,/Darum Christus seins Vaters Schoß
Äußert und kam auf Erden;/Von einer Jungfrau rein und zart
Für uns er hie geboren ward,/Er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab/Und legt dabei all Krankheit ab,
Bis sich die Zeit herdrange,/Dass er für uns geopfert würd,
Trüg unsrer Sünden schwere Bürd/Wohl an dem Kreuze lange.
Diese Choraldichtung, die auf Jesaja 22, 12 Bezug nimmt, stammt von dem aus Erlangen gebürtigen, aber in Nürnberg tätigen Kantor Sebald Heyden (1499-1561). Die Melodie hat Matthias (oder auch Matthäus) Greitter für den Choral „Es sind doch selig alle die, im rechten Glauben wandeln hie“ komponiert und fand hier erneute Verwendung.
Zweiter Teil (nach der Predigt)
Der Beginn steht in krassem Gegensatz zum Anfang des ersten Teils, ist also praktisch ein kammermusikalisches Pendant: Der Alt als Tochter Zion (Coro I) klagt in einer h-Moll-Arie, dass der Freund verschwunden ist, und vierstimmig äußern sich die Gläubigen (Coro II) mit fugiert gestellten neugierigen Fragen (die dem Hohen Lied des Salomo entnommen wurden): „Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern?“ und „Wo hat sich dein Freund hingewandt?“ Die Tochter Zion sieht ihn zwischen Tigerklauen geraten, und die Gläubigen bieten sich sofort als Helfer in der Not an: „So wollen wir ihn mit dir suchen.“ Dieses Solo-Chor-Stück macht eine bisher nur als Symbol erkannte Figur (die auch keiner bestimmten Stimmlage zugewiesen war), nämlich die Tochter Zion, auf einmal als reale Person erfassbar.
Der Evangelist berichtet, dass Jesus vor den Hohenpriester Kaiphas gebracht wird, bei dem sich auch die Ältesten und Schriftgelehrten eingefunden haben. Petrus aber, so wirft der Evangelist noch dazwischen, sitzt nahe bei den Knechten des Palastes, weil er wissen will, wie die Geschichte wohl weiter geht. Der jüdische Klerus hat beschlossen, Jesus durch Lügner (der Evangelist nennt sie „falsche Zeugen“) zu Fall zu bringen - allerdings konnten bisher noch keine aufgetrieben werden. Das intrigante Spiel führt zu einem bitteren Chor-Kommentar: „Mir hat die Welt trüglich gericht't“ (es ist der fünfte Vers aus „In dich hab ich gehoffet, Herr“ von Adam Reusner/Reissner [1471/1490-1563/1581], von Sethus Calvisius [1556-1615] vertont unter Rückgriff auf eine ältere Volksweise).
Plötzlich treten doch noch, die Mitglieder des Hohen Rats mögen gedacht haben: endlich!, zwei Zeugen auf, die den Grund für Jesu Verurteilung mit einem Zwiegesang, als müssten sie sich dabei gegenseitig unterstützen, liefern: „Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in dreien Tagen denselben bauen.“ Daraus lässt sich, mag Kaiphas denken, doch der Fallstrick drehen - und geht zum Angriff über: Auf seine Frage an Jesus, was er zu der Beschuldigung zu sagen habe, erhält er überraschenderweise keine Antwort. Dafür folgen ein kommentierendes Rezitativ (Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille) und die Arie (Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen) für den Tenor (Coro II), wobei eine solistisch geführte Viola da gamba der Arie eine besondere Klangfarbe gibt.
Dann rückt Kaiphas mit der alles entscheidenden Frage heraus, ob er es mit Christus, dem Sohne Gottes, zu tun habe. Bach gibt Jesu Antwort die Form eines Arioso, ausdrucksstark vom Orchester begleitet:
Du sagest's. Doch sage ich euch: Von nun an wird's geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels.
Die Wut des Hohenpriesters über diese in seinen Ohren gotteslästerliche Aussage wird nicht nur in der Anklage, das sei todeswürdig, deutlich, seine Wut überträgt sich auch auf die übrigen Anwesenden, die achtstimmig ausrufen: „Er ist des Todes schuldig!“ Die Wut der Menge begleitet das Orchester anschaulich mit kurzen, aber heftig ausschlagenden Akkorden. Kaiphas aber, so berichtet der Evangelist, ist so in Rage, dass er seine Kleider zerreißt, was das Volk noch mehr anstachelt, denn es schlägt auf Jesus ein und fordert höhnisch, er solle sagen, wer ihn schlug.
Wieder einmal fügt Bach einen betrachtenden Choralvers ein, den er in Paul Gerhardts Passionschoral „O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben“ (1648) fand, und der tiefempfundenes Mitleid ausdrückt:
Wer hat dich so geschlagen,
Mein Heil, und dich mit Plagen/So übel zugericht'?
Du bist ja nicht ein Sünder/Wie wir und unsre Kinder;
Von Missetaten weißt du nicht.
Es folgt nun eine Szene, die sich im Hof des Hohenpriester-Palastes zuträgt, und die Petrus letztlich die Augen öffnen und ihn an Jesu Worte am Ölberg erinnern wird: Eine Magd (Sopran Coro II), die ihn wohl einige Zeit beobachtet hat, sagt ihm auf den Kopf zu, dass er mit „diesem Jesus aus Galiläa“ unterwegs gewesen sei. Entrüstet leugnet Petrus; als er kurz darauf am Ausgang auf eine zweite Magd (Sopran Coro I) trifft, die ihn ebenfalls zu erkennen glaubt, leugnet er das zweite Mal. Als sei es den übrigen Anwesenden (Coro II) nun auch klar geworden, sind auch sie überzeugt, dass Petrus zu Jesus gehört:
Wahrlich, du bist auch einer von denen; denn deine Sprache verrät dich.
Und Petrus leugnet zum dritten Mal, wütend, schwörend und fluchend: „Ich kenne diesen Menschen nicht!“ Genau in diesem Augenblick kräht der Hahn - und Petrus erinnert sich mit Bitterkeit an Jesu Vorhersage. Den Hof verlassend kann er nicht mehr an sich halten und „weinete bitterlich.“ Bach gestaltet diese Stelle mit einer schmerzhaft wirkenden Melodik in höchster Lage.
Der Alt (Coro I) betrachtet, von der „Violino concertante“ begleitet, über einem in Stufen abwärts gleitenden Pizzicato-Bass (Erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen), die zu den ergreifendsten Stücken dieses Oratoriums gehört, Petrus' Situation und bittet Gott um Erbarmen für dessen Fehlverhalten. Der anschließende Choral
Bin ich gleich von dir gewichen,/Stell ich mich doch wieder ein;
Hat uns doch dein Sohn verglichen/Durch sein' Angst und Todespein.
Ich verleugne nicht die Schuld;/Aber deine Gnad und Huld
Ist viel größer als die Sünde,/Die ich stets in mir befinde.
spielt noch einmal auf des Petrus' Versagen an, übernimmt dabei zwar dessen Mitleid und Trauer, zeigt aber auch neu gewonnene Einsichten auf. Es ist die fünfte Strophe aus dem Choral „Werde munter, mein Gemüte“ von Johann Rist (1607-1667), der ihn 1642 schrieb und von Johann Schop (um 1590-1667) vertont wurde.
Der Bericht des Evangelisten geht mit der Schilderung einer Sitzung des Hohen Rates weiter. Dort wird der endgültige Beschluss gefasst, Jesus zum Tode zu verurteilen. Dazu überstellt ihn der Rat an den römischen Präfekten Pontius Pilatus, den der Evangelist Landpfleger nennt; dieser hatte im besetzten Israel die Gewalt über die mit dem Tode zu ahnenden Straftaten inne. Das beobachtet Judas, dem das jetzt Gewissen schlägt (Ich habe übel getan, dass ich unschuldig Blut verriet), und er beschließt, den Klerikern die dreißig Silberlinge zurückzugeben. Die aber weisen ihn entrüstet ab: „Was geht das uns an? Da siehe du zu!“ Kurz entschlossen wirft Judas das Geld in den Tempel, geht davon und erhängt sich - das schreckliche Ende eines Menschen von zweifelhaftem Charakter oder einer wichtigen Figur im Geschehen von übergeordneter Bedeutung? Der Bass (Coro II) fordert in einer Arie und mit Anspielung auf diese Situation:
Gebt mir meinen Jesum wieder!
Seht, das Geld, den Mörderlohn,/Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder!
Zwei Hohepriester aber, Bach nennt sie Pontifex I und II, äußern in einem Duett, dass jene dreißig Silberlinge, die sie „Blutgeld“ nennen, auf keinen Fall für den Opferkasten taugen. Die Lösung des Problems finden sie aber sehr schnell im Kauf eines „Ackers“ (den man seither „Blutacker“ nennt, wie der Evangelist betont), um beim Pessachfest verstorbene Pilger zu beerdigen.
Pontius Pilatus beginnt das Verhör mit der direkten Frage an Jesus, ob er der König der Juden sei. Die Antwort ist ein klares „Ja“. Das führt zu aufwühlenden Anklagen der Hohenpriester, auf die Jesus aber, zur Verwunderung des Römers, keine Antwort gibt. Der Chor erklärt mit dem Choralvers „Befiehl du deine Wege“ die Entscheidung Jesu, seinen Weg dem himmlischen Vater anzuvertrauen, für den einzig richtigen.
Der Bericht des Evangelisten geht weiter mit dem Hinweis, dass es seit langer Zeit Brauch ist, zum Pessachfest einen Gefangenen frei zu geben. Pontius Pilatus, von Jesu Unschuld überzeugt, bietet dem Volk also einen gewissen Barrabas an, darauf setzend, dass man den als Mörder verurteilten Mann nicht in Freiheit sehen will. Noch ehe es zu einer Antwort kommt, weil der Klerus und das Volk Beratungsbedarf haben, lässt Pilatus' Frau ihrem Mann ausrichten, dass sie wegen Jesus einen bösen Traum gehabt habe, also möge er sich doch bitte von den Juden nicht beeinflussen lassen. Als schließlich die Beratung der Juden abgeschlossen ist, stellt sich zu Pilatus' Erstaunen heraus, dass deren Entscheidung für den Mörder Barrabas gefallen ist. Und was soll mit diesem Jesus geschehen, fragt Pilatus. Die kurze, aber hasserfüllte (achtstimmige) Fortissimo-Antwort der Menge ist eindeutig: „Lass ihn kreuzigen!“ Mit schrillen Intervallen, darunter sogar der Verwendung des Tritonus (den man früher auch „Diabolus in musica“ nannte), unterstreicht Bach recht auffällig den Hass des Volkes. Wieder lässt ein kommentierender Choralvers den Hörer innehalten:
Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe!
Der gute Hirte leidet für die Schafe,/Die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,
Für seine Knechte.
Es ist der dritte Vers aus dem bereits mehrfach verwendeten Passionschoral „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“ von Johann Heermann.
Pilatus versteht die Welt nicht mehr: „Was hat er denn Übels getan?“ Ehe die Juden wieder den lauten Ruf „Lass ihn kreuzigen“, dann noch schriller, weil um einen Ganzton höher stehend, wiederholen können, gibt der Sopran mit dem Rezitativ
Er hat uns allen wohlgetan,/Den Blinden gab er das Gesicht,
Die Lahmen macht er gehend,/Er sagt uns seines Vaters Wort,
Er trieb die Teufel fort, Betrübte hat er aufgericht',/Er nahm die Sünder auf und an.
Sonst hat mein Jesus nichts getan.
und der lediglich von einem Flauto traverso und zwei Oboen da caccia begleiteten Arie die Antwort einer gläubigen Seele:
Aus Liebe will mein Heiland sterben,/Von einer Sünde weiß er nichts.
Dass das ewige Verderben/Und die Strafe des Gerichts/Nicht auf meiner Seele bliebe.
Pontius Pilatus ist bedient! Er wäscht vor den Augen der Menge seine Hände und betont damit, dass er am Tod dieses Menschen unschuldig sein will. Voller Starrsinn und ohne Einsicht ruft das Volk „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ heraus. Pilatus folgt Volkes Wille, lässt Barrabas frei und übergibt Jesus den Soldaten zur Geißelung und Kreuzigung. Wieder steht an dieser Stelle eine betrachtende Soloszene für den Alt (Coro II), die im vorangestellten Rezitativ (Erbarm es Gott) eine instrumentale Begleitung aufweist, in der Bach die im Text geschilderte Geißelung recht plastisch ausdrückt; die anschließende Arie (Können Tränen meiner Wangen nichts erlangen) verlangt neben dem Continuo zwei Soloviolinen als Begleitung.
Im Richthaus, berichtet der Evangelist, kommt es jetzt zu einer Spottszene, in der die Soldaten Jesus einen Purpurmantel umlegen, eine Dornenkrone auf das Haupt setzen und als Zepter ein Rohr in die Hand drücken. Den Hohn auf die Spitze treibend spielt das Kriegsgesinde unterwürfiges Hofpersonal:
Gegrüßet seist du, Judenkönig!
mit einem achtstimmig angelegten Chorsatz. Einmal so richtig in Fahrt spucken sie auf den bedauernswerten Menschen und schlagen ihn mit dem zunächst als Zepter dienenden Rohr. Thematisch passend erklingen hier zwei Verse des musikalischen Leitchorals
O Haupt voll Blut und Wunden,/Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zu Spott gebunden/Mit einer Dornenkron,
O Haupt, sonst schön gezieret/Mit höchster Ehr und Zier,
Jetzt aber hoch schimpfieret,/Gegrüßet seist du mir!
Du edles Angesichte,/Dafür sonst schrickt und scheut
Das große Weltgerichte,/Wie bist du so bespeit;
Wie bist du so erbleichet!/Wer hat dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,/So schändlich zugericht'?
Der Spaß ist vorbei; man legt Jesus wieder seine eigenen Kleider an und bringt ihn nach Golgatha, der so genannten „Schädelstätte“, zur Kreuzigung. Der Evangelist berichtet, dass der gerade vorbeikommende Simon von Kyrene von den Soldaten gezwungen wird, Jesu Kreuz zu tragen. Es folgt eine breit angelegte Szene mit Rezitativ (Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut zum Kreuz gezwungen sein) und Arie (Komm, süßes Kreuz) für den Bass (Coro I) mit zwei Flauti traversi im Rezitativ und konzertierender Viola da gamba in der Arie, die sich inhaltlich mit eigener Schuld und Sühne beschäftigt. Bach zwingt den Hörer mit eindrucksvoller Musik, Jesu schweren Gang für sich nachzuvollziehen.
Der Schauplatz ist, dem tragischen Ende näher gekommen, jetzt Golgatha: Bevor Jesus gekreuzigt wird, reichen die Soldaten ihm Essig mit Galle vermischt, die er jedoch nicht annimmt. Nach der Kreuzigung teilen sie seine Kleider unter sich auf und befestigen am Kreuz die von Pilatus vorgegebene Inschrift „Dies ist Jesus, der Juden König“ (lateinisch I.N.R.I. = Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum). Neben Jesus kreuzigt man noch zwei Mörder, den einen zur Linken, den anderen zur Rechten. Die Hohenpriester, Schriftgelehrten und das Volk geben zu diesem Geschehen in einem breit angelegten achtstimmigen Chorsatz ihren höhnischen Kommentar ab:
Der du den Tempel Gottes zerbrichst und bauest ihn in dreien Tagen, hilf dir selber!
Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz!
Imitierende Einsätze der Stimmen verdeutlichen den Spott, den sich die unter dem Kreuz versammelten Gruppen zurufen; der Satz „Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz“ wird dabei unablässig, mit einer absteigenden melodischen Figur wiederholt. Hohn und Spott werden dann noch auf die Spitze getrieben:
Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.
Ist er der König Israel, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben. (...)
Die Tochter Zion, jetzt dem Alt aus Coro I zugewiesen, beklagt zunächst rezitativisch das „unselige Golgatha“, wo die „Unschuld muss schuldig sterben“, ehe wieder ein ergreifendes Stück einsetzt, das nicht nur große harmonische Härten enthält (für damalige Hörer sicher gewöhnungsbedürftig), sondern auch tröstliche Worte mit Choreinwürfen findet:
Sehet, Jesus hat die Hand,/Uns zu fassen, ausgespannt,/Kommt!
(Coro II): Wohin?
In Jesu Armen/Sucht Erlösung, nehmt Erbarmen,/Suchet!
(Coro II): Wo?
In Jesu Armen./Lebet, sterbet, ruhet hier,/Ihr verlass'nen Küchlein ihr,/Bleibet!
Coro II): Wo?
In Jesu Armen.
Der besondere Reiz wird in diesem grandiosen Stück durch den dunklen Klang zweier in Terzen und Sexten geführter Oboen da caccia erzeugt.
Der Evangelist berichtet, dass Jesus voller Schmerzen „Eli, Eli, lama absabthani“ (Mein Gott, warum hast du mich verlassen) ausruft, während sich als besonderes Naturereignis der Himmel verfinstert. Nach alter Tradition nutzt Bach für die Begleitung der Christus-Worte zwar empathisches Melos, lässt aber hier die Violinen, die Jesu Worte sonst wie ein Heiligenschein umgeben, erstmals und einmalig schweigen. Das beobachtende Volk deutet Jesu Worte als einen Hilferuf an den Propheten Elias und will, sicher in der Erwartung eines spektakulären Ereignisses, warten, ob Elias tatsächlich Jesus zu Hilfe kommt. Aber der Prophet erscheint nicht, und Jesus stirbt mit einem nochmals lauten Schmerzensruf.
An dieser Stelle steht ein Klagechoral, der jetzt den Blick vom Kreuz nimmt und auf das Ende eines jeden einzelnen Menschen hinweist. Es ist zutreffend die letzte Strophe des Leitchorals mit dem Text „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.“ Die Musik weist exemplarisch den Harmoniker Bach aus, denn die phrygische Melodie wird hier von der Grundstimmung a-Moll nicht, wie in den schon erklungenen Strophen zuvor, am Ende sofort nach Dur geführt, sondern kommt erst nach einem völlig unerwarteten Halbschluss zu einem wie erlösend wirkenden Dur-Ende.
Die Sterbeszene wird mit dem Bericht vom Zerreißen des Vorhangs im Tempel (von der Orgel mit stürmischen abwärts rasenden Läufen nachgezeichnet und von den grollenden Bässen untermalt), über der Erwähnung eines Erdbebens, das die Gräber öffnen und viele „der Heiligen“ von den Toten auferstehen lässt, schließlich zur Erkenntnis des römischen Hauptmanns, dass hier Gottes Sohn gestorben sei, rein rezitativisch abgeschlossen. Hier kommt Bach abermals der Opernrealistik wieder nahe.
Vor dem letzten Teil der Passionsmusik, die das Begräbnis Jesu zum Inhalt hat, wird nochmals eine Bass-Szene (Coro I) eingefügt, die im Rezitativ (Am Abend, da es kühle war, ward Adams Fallen offenbar) auf den Sündenfall als den Grund für menschliche Schuld hinweist, gleichzeitig aber auch Jesu Tod als Gottes Friedensschluss mit den Menschen erkennt. Die Arie (Mache dich, mein Herze, rein) wird von zwei Oboen da caccia begleitet und beinhaltet den Willen des gläubigen Menschen, alles weltliche aus dem Herzen zu verbannen und dafür Jesus darin aufzunehmen.
Die anschließende Schilderung von Jesu Begräbnis in einem „neu Felsengrab“ des Josef von Arimathia wird vom jüdischen Klerus (Coro I und II zugeteilt), die sich an Jesu Wort erinnern, er werde nach drei Tagen auferstehen, für eine Bitte an Pilatus genutzt, von ihm die Sicherung des Grabes zu verlangen. Ansonsten könnten seine Anhänger den Leichnam stehlen und dann behaupten, er sei auferstanden; damit wäre dann „der letzte Betrug ärger denn der erste!“ Pilatus entspricht dem Wunsch mit der Abstellung von Wächtern an das Grab.
Das Oratorium schließt mit einem großen, zweiteiligen Chorsatz, der zunächst die Solisten (vom Bass über den Tenor und Alt zum Sopran aufsteigend) aus Coro I rezitativisch, aber mit vierstimmigen Einschüben des Coro II sich äußern lässt:
Tochter Zion, Bass: Nun ist der Herr zur Ruh gebracht.
Die Gläubigen: Mein Jesu, gute Nacht!
Tochter Zion, Tenor: Die Müh' ist aus, die unsre Sünden ihm gemacht.
Die Gläubigen: Mein Jesu, gute Nacht!
Tochter Zion, Alt: O selige Gebeine,/Seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine,
Dass euch mein Fall in solche Not gebracht.
Die Gläubigen: Mein Jesu, gute Nacht!
Tochter Zion, Sopran: Habt lebenslang/Vor euer Leiden tausend Dank,
Dass ihr mein Seelenheil so wert geacht't.
Die Gläubigen: Mein Jesu, gute Nacht.
Die Sologesänge führen von As-Dur über Es-Dur nach f-Moll und enden schließlich bei c-Moll, der Grundtonart für den trauernden Schlusschor:
Wir setzen uns mit Tränen nieder/Und rufen dir im Grabe zu:
Ruhe sanfte, sanfte ruh!
Ruht, ihr ausgesognen Glieder!/Euer Grab und Leichenstein
Soll dem ängstlichen Gewissen/Ein bequemes Ruhekissen
Und der Seelen Ruhstatt sein./Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein.
Der Satz ist vierstimmig und in dreiteiliger Liedform angelegt; er geht von der Grundtonart c-Moll über Es-Dur, im Mittelteil G-Dur streifend, zurück nach c-Moll. Beide Chorgruppen tragen zunächst unisono vor, alternieren dann mit echoartigen Einwürfen bei der Stelle „Ruhe sanfte, sanfte Ruh“. Es ist ein bewegender, ruhig dahin strömender Trauerchor, der an den jeweiligen Satzenden durch Vorhalte für die Oboen und Violinen fast schmerzhafte Dissonanzen bildet, dessen letzter Akkord sich nicht nach Dur auflöst und den Hörer somit bewusst in Trauerstimmung in die reale Welt entlässt. Wenn uns Bach, im Gegensatz zur „Johannes-Passion“, auch hier einen tröstenden Chorsatz als Abschluss versagt (dort ist es der Choral „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“), ist der Trauerchor der richtige und würdige Schlussakkord für Bachs größtes protestantisches kirchenmusikalisches Werk, auch wenn es als solches heute kaum mehr wahrgenommen wird.
INFORMATIONEN ZUM WERK
[align=justify]Kurz gefasste Informationen über eines der monumentalsten Werke der Musikliteratur zu geben, ist an dieser Stelle kaum möglich. Dem interessierten Musikliebhaber sei daher der Wikipedia-Artikel, zumindest als Einstieg, empfohlen, denn er enthält eine umfangreiche Liste von Primär- und Sekundär-Literatur:
https://de.wikipedia.org/wiki/…-Passion_%28J._S._Bach%29
Hingewiesen werden soll aber auf folgende neue Erkenntnis: Noch bis in die 1970er Jahre galt als Datum der Erstaufführung der Karfreitagsgottesdienst des Jahres 1729. Dann wies 1975 Joshua Rifkin nach, dass die Uraufführung zwei Jahre früher anzusetzen ist und 1729 eine zweite, 1736 und 1740 oder 1742 weitere, aber überarbeitete Fassungen aufgeführt wurden.
Neben dem Bibeltext des Matthäus-Evangeliums in der Luther-Übersetzung verfasste der Post- und Steuerbeamte Christian Friedrich Henrici, der sich für seine Dichtkunst das Pseudonym Picander zugelegt hatte, die freien madrigalischen Texte. Die eingeschobenen Choräle soll Bach allerdings selber ausgewählt haben, weil Henrici/Picander sie in der 1729 veröffentlichten Gedichtsammlung „Ernst-Schertzhaffte und Satyrische Gedichte“ ausließ. Als Gegenbeispiel wird auf den 1732 veröffentlichten Text der „Markus-Passion“ (deren Partitur zwar verloren ging, die Musik jedoch als Parodie rekonstruiert werden konnte) verwiesen: Hier hat Picander die Choräle aufgenommen. Bachs Mitarbeit am Text der „Matthäus-Passion“ wird von Musik- und Sprachwissenschaftlern jedoch noch weiter gefasst: Sie glauben in Picanders Texten große Übereinstimmungen mit der Sprache von Salomo(n) Franck, den Bach ungemein schätzte und neben Picander oft als Dichter für seine Kantaten heranzog, gefunden zu haben.
Für die „Matthäus-Passion“ schreibt Bach gewaltigere Klangmassen als für die „Johannes-Passion“ vor: Neben den beiden gemischten Chören und den dazu gehörigen Orchestern wird für den Eingangschor noch der „Soprano in ripieno“ verlangt. Die Aufteilung der Coro I und Coro II benannten Ausführenden hat Bach zwar genau vorgeschrieben, doch wollen Musikwissenschaftler dahinter keinen Plan erkennen, sondern vermuten rein praktische Überlegungen, wie sie von örtlichen Leipziger Gegebenheiten bestimmt waren. Wichtig ist auch die Feststellung, dass Bach - wie schon in der „Johannes-Passion“- für die Christus-Worte und Arien keinen besonderen Sänger vorsah, sondern sie dem Bass aus Coro I zuwies. Die Choräle singen beide Chöre unisono.
© Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2014
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Libretto: http://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/244.html
und: http://www.jvogelsaenger.de/mp.htm
Platen: J. S. Bach: Die Matthäus-Passion; Bärenreiter, Kassel, München (1997)
Klavierauszug (Edition Peters)