Was hatten Karajan und Co, das heutigen Interpreten fehlt ?

  • Dieser Thread ist sozusagen das Gegenstück - oder besser gesagt eine Ergänzung zu den von "Liebestraum" gestartete Threads über alte und neue "Referenzen" - wo er Neuaufnahmen gegenüber den "klassischen Referenzen" gegenüberstellt, aber auch gleichzeitig ein Gegenpol zu den von mir gestarteten Threads über "Neuaufnahmen ab 2000"
    Prinzipiell wird bei beiden Threadserien - trotz verschiedener Unterschiede - versucht, auf Neuaufnahmen aufmerksam zu machen.


    Dennoch lässt es sich nicht leugnen, daß die Strahlkraft eines Herbert von Karajan - rund 25 nach seinem Tod - noch immer ungebrochen ist - und er alle Nachfolger - sieht man die Wirkung auf das Sammlerpublikum - bei weitem überragt.
    Ähnliches kann auch von Karl Böhm, Leonard Bernstein, Fritz Wunderlich, Dietrich Fischer Dieskau und zahlreichen anderen Interpreten der Vergangenheit gesagt werden. Gute Interpretationen gibt es - das wird immer wieder betont - heute ebenso. Indes wird ihnen nicht das "Einzigartige", "Überirdische", Ewiggültige" zugestanden. Zu ergründen warum das so ist wäre schon eine Überlegung (bzw diesen Thread) wert....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Karajan konkret wusste sich sehr gut selbst in Szene zu setzen, teilweise beinahe schon auf groteske Art und Weise. Das vermisse ich nicht unbedingt. Daher ist der Name Karajan für mich nicht wirklich stellvertretend für die "gute alte Zeit", eher andere Namen.


    Was geht mir bei heutigen Interpreten ab? Oftmals die Individualität. Wo sind denn heute bitte schön solche extravaganten Individualisten wie Mengelberg, Furtwängler, Knappertsbusch, Klemperer, Celibidache, Stokowski oder Bernstein? Interpretationen, die man beim ersten Hören sofort zuordnen kann. Ich höre schon den Aufschrei, die hätten sehr frei mit der Partitur hantiert. Na und? Solange das Ergebnis stimmt, ist mir das persönlich komplett egal. Ist mir allemal lieber als jene, die todnüchtern an der Partitur kleben und sich als Dogmatiker aufspielen und uns dann noch weismachen wollen, genau so so habe das "damals" geklungen.


    Sehr nervig finde ich auch den heutigen Trend zum Geschwindigkeitsrausch. Als wollte einer den anderen an Spitzentempo immer nochmal überbieten. Dass die Musik dabei auf der Strecke bleibt, ist nebensächlich. Ja, auch früher wurde teilweise sehr flott dirigiert, aber nicht so seelenlos.


    Mir sind die oftmals kritisierten sehr eigenwilligen Dirigenten daher ganz lieb. Heutzutage trifft das nur mehr auf ganz wenige zu. Die betagten Maazel und Harnoncourt fallen mir ein. Manierismen wagen. Es gibt genügend "normale" (und oft langweilige) Interpretationen, selbst wenn es manchmal übers Ziel hinausgeschossen wirken mag. Bloß kein Dogma "So muss es klingen, alles andere ist Häresie".

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo,


    die großen Interpreten der Vergangenheit hatten neben einer grundsoliden musikhandwerklichen Ausbildung auch Zeit, in weniger herausragenden Positionen in der Provinz zu reifen, bevor sie ihre Weltkarriere begannen. Hierfür ist gerade Karajan ein gutes Beispiel, aber auch Bruno Walter oder Otto Klemperer. Es gab eben noch keine profitgesteuerte Multimedia-Industrie, die mit Mitteln der Marktbeeinflussung "Stars" kreieren konnte, oder auch nicht.
    Daß Karajan später den Zeichen der Zeit gefolgt ist und auch "global Player" im Musikmarkt wurde, spricht m.E. nicht gegen sein Künstlertum, sondern für ein durchaus gesundes kaufmännisches Denken. Die Selbstvermarktung ist -innerhalb gewisser Grenzen und cum grano salis- sicher auch das gute Recht von Menschen mit außergewöhnlicher Begabung.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Alter im Antritt der Chefposition bei den Berliner Philharmonikern


    Nikisch 40
    Furtwängler 36
    Karajan 47
    Abbado 56
    Rattle 47


    (Beim Concertgebouworchester wurde Mengelberg mit 24 Chef, Haitink mit 32, Chailly mit 35...)


    Es mag ja mal einzelne aufsehenerregende Debuts von Jungstars geben, aber die Chefpositionen wurden früher anscheinend gar nicht so selten an jüngere Musiker vergeben.
    Ich halte es daher für ein Gerücht, dass früher durchweg längere "Lehrjahre in der Provinz notwendig gewesen seien als heute.
    Bei Instrumentalsolisten waren schon Heifetz und Menuhin im jugendlichen Alter Stars (man erinnere sich auch an Manns köstliche Geschichte "Das Wunderkind").

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Stokowski wurde 1909 mit 27 Jahren Chefdirigent des Cincinatti Symphony Orchestra, drei Jahre später, also mit 30, Chefdirigent des Philadelphia Orchestra. Sein Dirigierdebüt hatte er ebenfalls erst 1909 gegeben, hatte zuvor eher Erfahrung als Organist gesammelt.

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    – Luís de Camões

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  • Na ja - es ging mir in diesem Zusammenhang weniger um die "Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker" als um die Frage - die ja "Liebestraum" erst neulich in anderen Threads thematisiert hat - warum denn gewisse Interpreten - und somit auch Dirigenten - bis heute eine Aura um sich verbreiten können, obwohl sie schon lange tot sind - wogegen heutige Künstler als "nicht so bedeutend" eingestuft werden und nicht auf Ablehnung per se - sondern auf Desinteresse und Gleichgültigkeit stoßen. Ich würde beispielsweise keine Aufnahme negieren - bloß weil Rattle sie dirigiert - aber -abgesehen von einige Alibikäufen (die Sammlung soll ja möglichst alle einigermaßen bekannten Künstler umfassen)- würde ich auch keine Aufnahme bevorzugen - bloß weil Rattle sie dirigiert. Für mich ist er einer von vielen. Aber ich erinnere mich an keine einzige Einspielung von ihm, die (für mich(?)) Referenzcharakter hat. Live mag sich das anders verhalten - denn die Verstorbenen sind in diesem Falle ja keine Konkurrenz für ihn. Das gilt für andere Dirigenten in gleichem - ja sogar ausgeprägterem Maße - weil die oft Orchestern vorstehen, die man vor 30 Jahren in seiner Sammlung nicht akzeptiert hätte. Ich würde sagen, es ist alles beliebiger geworden - die Künstler von heute sind weitgehend austauschbar geworden.
    Klaus Haymann hat in einem irgendwo abgedruckten Interview sinngemäß gesagt, er glaube nicht an "einzigartige" "unwiederholbare" Aufnahmen irgendwelcher "Stars" Und prinzipiell steht er zu seinem Wort, indem er oftmals weitgehende interpreten - oft sogar mit Aufnahmen von Mainstream-Werken ins Rennen schickt - und dabei Erfolg hat.
    Aber das ist natürlich kein absolut schlagender Beweis für die Richtigkeit dieser These - denn auch der Preis spielt für viele eine nicht unwesentliche Rolle - und so landet für 7 oder 8 Teuro so manche Aufnahme in den Plattenschränken der Musikfreunde, welche für 20 Teuro kaum eine Chance hätte gekauft zu werden. Die "Majors" - oder das was von ihnen übrig geblieben ist - kontern mit Altaufnahmen berühmter Musiker und sägen somit doppelt an dem Ast auf dem sie sitzen. Einerseits füllen sie die Regale der Sammler mit Budgetaufnahmen ihrer wirklichen Stars - andrerseits bieten sie Aufnahmen von "Nobodys" oder künstlich gepushten Künstlern zum Vollpreis an. Gute, unbekannte Künstler bietet aber auch Naxos an - lediglich wohlfeiler........


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe jetzt lange überlegt, was der Unterschied ist zwischen "Karajan und Co." und den heutigen Interpreten ist. Vielleicht ist es der Kult.


    Früher gab es nach meinem Eindruck eher sowas wie verschiedene "Lager": Die Karajan-Fraktion, die Anhänger von Bernstein, die Böhmianer, die Kna-Wagnerianer usw. Welcher lebende Dirigent kann denn heutzutage mit einer solchen kultartigen Anhängerschaft aufwarten? Ich sehe eigentlich lediglich bei Lorin Maazel und Christian Thielemann solche Tendenzen. Wenn ich mir das auf diversen sozialen Netzwerken anschaue, ist "der Alte" sogar vorne, was wohl an seiner Popularität im angelsächsischen Raum liegt. Aber der ist ja auch schon Mitte 80 und kann kaum für die lebende Zunft an sich stehen.


    Natürlich gab es auch früher schon Dirigenten, die ganz sicher keine Kultgemeinde um sich scharrten. Jochum? Vielleicht konservative Brucknerianer. Keilberth? Kempe?


    Von Knappertsbusch weiß ich, dass er dergleichen gehasst hätte. Trotzdem gibt es heute einen japanischen Kna-Club, der immer wieder für verschollen gehaltene Aufnahmen ausgräbt und ein komplettes Konzertregister erstellt hat. Im Netz gibt es eine richtige postume Fan-Gemeinde, die ihn als den Allergrößten preist. Mir persönlich sind Anhänger aus Japan, China, Russland, Finnland, Brasilien, Italien, der Schweiz usw. bekannt, also ein globales Phänomen. Interessanterweise aber im deutschsprachigen Raum eher wenige (die Kna-Fans im Forum kann man ja auch zählen). Da ist ein regelrechter Boom im Internet-Zeitalter entstanden. Oft höre ich, dass diese Anhängerschaft mit "99 Prozent der heutigen Dirigate" (ein Zitat) nichts anfangen könne. Da werden Sehnsüchte auf den vor bald einem halben Jahrhundert verstorbenen Knappertsbusch projiziert. "Ja, wenn Wagner heute noch so klänge ...", hört man nicht selten. "Das waren noch Interpretationen, die einen regelrecht mitgerissen haben", "Die Vollendung der spätromantischen Dirigierkunst" oder "Der deutscheste aller Dirigenten: wuchtig, monumental, pathetisch".


    Ein ähnlicher postumer Kult ist bei Horenstein zu beobachten, der zu Lebzeiten eher Insidern wirklich bekannt war.

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    – Luís de Camões

  • Dieses Thema ist natürlich mehr auf die Klassik und Romantik zugeschnitten. Für die alte Musik gilt das Gegenteil; noch nie gab es so aufregende Sänger, Ensembles und Orchester wie heute. Aber ich möchte doch zwei Dirigenten nennen, die aus der Alten Musik kommend den Weg in die Klassik und Romantik gegangen sind und hier frischen Wind hineingebracht haben: Gardiner und Herreweghe. Karajans 9. ist sehr gut (ich hab nur eine, weiß nicht mal, von wann, weiß nur, dass Gundula Janowitz alles an die Wand singt)), aber gegen die 9. mit Herreweghe oder Gardiner sieht er echt alt aus, und das nicht nur wegen des galaktischen Unterschiedes zwischen den Chören!

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Meine Aufstellung bezog sich auf die von Joachim angedeutete Hypothese, in früheren Zeiten hätten Künstler mehr Zeit gehabt, zu "reifen" und wären daher nicht so schnell verschlissen worden. Wenn man das auf das Alter bezieht, in dem Dirigenten hochangesehene Chefposten antreten, scheint das nicht den Tatsachen zu entsprechen. Dass Dirigenten mit Mitte/Ende 20 schon beachtliche Karrieren haben, gibt es ebenfalls nicht erst seit Dudamel (und zB Daniel Harding, der vor über 10 Jahren blutjung ins Rampenlicht kam, scheint eher wieder daraus verschwunden zu sein).
    Und bei Instrumentalisten gibt es "Wunderkinder" seit Mozart (oder mindestens seit dem 19. Jhd.)


    Auch Karajan glaubte nicht an die unwiederholbare Einzigartigkeit, sonst hätte er Standardrepertoire nicht drei- bis viermal aufgenommen, immer in der begründeten Hoffnung, dass das jemand kauft.


    Das ist gefühlt der zwanzigste Thread zu diesem Thema, daher weiß ich nicht genau, was man sich für neue Erkenntnisse erhofft. Dass klassische Musik insgesamt nicht mehr die dominierende Stellung in unserer Kultur einnimmt wie bis in die 1960er Jahre ist kaum zu bestreiten. Das liegt aber nicht an einzelnen Personen. Einzelne, besonders Opernsänger können nach wie vor glamouröse Superstars werden, zB Netrebko (wobei es vielleicht schöner gewesen wäre, wenn sie Bill Gates oder einen russischen Oligarchen geheiratet hätte...)

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    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    das teiweise rel. niedrige Lebensalter, mit dem Dirigenten eine herausragende Position im Musikleben angetreten haben, sprach -zumindest in früheren Zeiten- nicht gegen eine Erfahrungsprägung in der Provinz.
    Mahler z.B. war 37, als er Chef der Wiener Hofoper wurde und hatte eine beträchtliche Ochsentour (Bad Hall, Olmütz etc.) hinter sich; ebenso Bruno Walter, der auch mit 37 die Chefposition in München antrat.
    Karajan hat ja selbst über seine Provinzjahre in Ulm und Aachen berichtet; er war sogar nach der Aachener Position eine Zeit lang ohne Engagement und mußte bei Intendanten antichambrieren!


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

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  • Hallo,


    das teiweise rel. niedrige Lebensalter, mit dem Dirigenten eine herausragende Position im Musikleben angetreten haben, sprach -zumindest in früheren Zeiten- nicht gegen eine Erfahrungsprägung in der Provinz.


    Aber, da hat sich doch gar nichts geändert. Ich kenne keinen Dirigenten, der seinen ersten Posten bei einem der führenden Orchester bekam.

  • Zitat

    Ich habe jetzt lange überlegt, was der Unterschied ist zwischen "Karajan und Co." und den heutigen Interpreten ist. Vielleicht ist es der Kult.


    Dann muss man erstmal überlegen, was Karajan, ihn will ich hier als die überragende singuläre Erscheinung des vorigen Jahrhunderts betrachten, auszeichnet. Zuerst einmal Charisma. Es bedarf einer großen Ausstrahlung, um sich bei einem über hundert Musiker zählenden Orchester, von denen die viele ihre eigene, andere Werkauffassung haben, durchzusetzen, ja sie zu überzeugen. Dann muss zweitens das Ergebnis stimmen. Karajan stellte Klang und Rhythmus in den Vordergrund. Oder anders gesagt, auf die Wirkung kam es an. Deshalb so gerne z.B. die Verdoppelung in den Bläsern. Und er erzielte diese Wirkung, auch wenn das sehr oft nach großem Pinsel aussah, der die Feinheiten überdeckte. Er hatte den unbedingten Willen, perfekt zu sein, eine Eigenschaft, die nicht in diese Welt passt. Aus diesem Grund gab es für schwierige Partituren ungewöhnlich lange, heute nicht mehr finanzierbare Probenzeiten. Aus diesem Grund dirigierte Karajan stets auswendig, obwohl er sich selbst keines außergewöhnlichen Gedächtnisses rühmte. Ihm ging es dabei darum, das Ganze als Gestalt zu vermitteln und nicht zusammengesetzt. Karajan wollte einen Klangrausch erzielen und versetzte die Hörer damit in einen Rausch. Um das Ziel der Perfektion zu retten, suchte er nach einem Interpretationsansatz, der sich so weit wie möglich aus dem Stück heraushält. Dazu kam die Konzentration auf ein Orchester, das waren die Berliner Philharmoniker. Dann noch etwas Wien. Mit den Berlinern konnte er in filigraner Fleissarbeit das umsetzen, worum es ihm ging. Und das dann noch für die Nachwelt zu konservieren. Heute ist alles schnelllebiger, heute Tokio, morgen Los Angeles, übermorgen London. Orchester A, Orchester B, Orchester C...
    Ich habe mich nur auf Karajan konzentriert, als die auch im Thread genannte überragende Figur. Vielleicht müsste dazu noch Furtwängler genannt werden. Aber vielmehr nicht. Dennoch gibt es heute natürlich viele herausrragende Interpretationen. Aber die muss man picken können.


    Viele Grüße aus Berlin
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP


  • Dann muss man erstmal überlegen, was Karajan, ihn will ich hier als die überragende singuläre Erscheinung des vorigen Jahrhunderts betrachten, auszeichnet. Zuerst einmal Charisma. Es bedarf einer großen Ausstrahlung, um sich bei einem über hundert Musiker zählenden Orchester, von denen die viele ihre eigene, andere Werkauffassung haben, durchzusetzen, ja sie zu überzeugen. Dann muss zweitens das Ergebnis stimmen.


    Und Du meinst, andere Dirigenten seien nicht in der Lage, ein Orchester entsprechend zu überzeugen? Meiner Ansicht nach sollten nicht nur ein Dutzend Superstars zu so etwas in der Lage sein, sondern beinahe jeder Dirigent eines großen regionalen oder Rundfunkorchesters. Das sind allein in Deutschland vermutlich 30 Stück oder mehr, weltweit einige hundert...

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  • Das Phänomen des Stardirigenten ist ja weitgehend eines des 20. Jahrhunderts. Insofern hatten die ersten Generationen der Dirigenten den großen Vorteil, dass sie Typen schaffen konnten, für die es keine Vorbilder gab.


    Da gab es die strengen Zuchtmeister: Toscanini, Szell, Reiner, Muti
    die Perfektionisten: Karajan, Solti, Boulez
    die knorrigen Alten: Klemperer, Knappertsbusch, Scherchen
    die Zuverlässigen: Böhm, Haitink,
    die smarten Allrounder: Bernstein, Maazel, Barenboim
    die charismatischen Showmen: Stokowski
    die auf der Suche nach der letzten Wahrheit: Furtwängler, Celibidache, Wand
    die Faulen: Kleiber
    die englischen Nobelmen: Beecham, Barbirolli, Boult
    die französischen Aristokraten: Ansernet, Munch, Monteux
    die russischen Seelen: Kondrashin, Svetlanow
    ...die Liste ließe sich fortsetzen


    So, dass es inzwischen für jeden Typus ein oder mehrere prominente Beispiele gibt. Da haben es die neuen halt auch schwer, neue interessante Typen zu schaffen ohne gleich den Hinweis zu bekommen, ah, der neue XYZ.

  • die smarten Allrounder: Bernstein, Maazel, Barenboim

    Bernstein in einem Atemzug mit Barenboim, das tut weh...


    Vor allem Barenboim, der etwa Mahler so gut wie völlig meidet und in in Berlin beinahe immer die gleichen Opern dirigiert als "Allrounder" - Gerd Albrecht im Himmel muss sich gerade ziemlich verarscht vorkommen...



    die Faulen: Kleiber

    Erich? Carlos? Beide? In jedem Fall eine überwältigend zwingende Klassifizierung...


    Ich wusste schon, warum ich mich aus dieser Rubrik raushalte...


    (Was auch schon an der Eingangsfragestellung liegt...)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Die alte Generation der Dirigenten konnten sich gegenüber einem Orchester streng, unantastbar sich im Recht befindend und autoritär aufführen. Man muss sich nur einmal die Probenmitschnitte etwa Celis, Karajans oder Böhms ansehen/anhören. Als Orchestermusiker musste man sich schon von denen schon einiges bieten lassen.


    Ich denke gerade an einen Probenausschnitt von Celis Versöhnungsbruckner 7 mit den Berlinern (aus dem Gedächtnis): "....(singt die Celli schlechtmachend nach).... Ja, und warum müsst ihr da so drücken und vibrieren? Wollte ihr zeigen, dass ihr hier die Philharmoniker seid? Was hat denn das mit Bruckner zu tun?" Oder: "....Da ist doch immer noch einer....Sie da vorne müssen wohl zeigen, wie sie ausgebildet sind. Immer einen bewussten Einsatz mit dem Körper machen, was? Ich dachte wir wollten Bruckner spielen, aber Sie können das natürlich auf Ihre Weise machen....(in beiden Fällen Gesichter die zeigen, dass sie gerade willentlich bereit sind, das alles zu schlucken...) "


    Und dann wurden die Dirigenten ja als Halbgötter verehrt. Wenn ich sehe, wie der Karajan auf einer meiner DVDs den Bruckner aufführte, dann wirkt es so, als ob ein Papst heilige Handlungen vollbringt. Ein musikalisches Hochamt war das bestimmt. Seine Meinung über sich selbst war ja durchaus selbstbewusst und das Publikum teilte diese, ja lag ihm zu Füssen.


    All diese Dinge gibt es heute so nicht mehr. Ein Dirigent kann sich heute gegenüber dem Orchester nicht so verhalten und wird heute auch nicht mehr so als Lichtgestalt, als lebende Legende verehrt. Die Zeiten haben sich geändert. Ich kenne die These, dass aufgrund der Ängste, die ein früherer Dirigent dem Orchester zuführte, auch die die Qualität viel besser war, als heute gespielt wird. Ich teile die Meinung jedoch nicht. Auch die heutigen Musiker müssen heute Höchstleistungen vollbringen und bekommen das auch ohne Magenschmerzen vor den Proben hin.


    Publikumsseitig ist es natürlich so, dass man heute nicht mehr so sehr das Gefühl wie damals vermittelt bekommt, dass man mit dem Dirigenten einen "ganz grossen Mann" erleben könne.Das kann man durchaus vermissen. Wichtig jedoch vor allem, wie es klingt. Und das war früher manchmal gut bis sehr gut - heute ist es das aber durchaus auch. Es gibt Dinge, die heute meistens besser gemacht werden, während andere Dinge, die man früher erleben konnte, heute schon einmal vermisst werden können.


    Einen Mann mit Charisma zu erleben, kann man sich natürlich immer wünschen und das auch vermissen.
    Allerdings meine ich auch, dass Karajan in die heutige Zeit gar nicht mehr mit seiner persönlichen Art passen würde. Er könnte diesen Stil so nicht mehr durchziehen...


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Einen Mann mit Charisma zu erleben, kann man sich natürlich immer wünschen und das auch vermissen.

    Ich denke, es gibt sie auch heute noch, die Charismatiker. Ich will jetzt gar nicht nochmal bestimmte Namen nennen. Ich nehme an, Du siehst das sowieso ganz ähnlich.



    Allerdings meine ich auch, dass Karajan in die heutige Zeit gar nicht mehr mit seiner persönlichen Art passen würde. Er könnte diesen Stil so nicht mehr durchziehen...

    Das ist ein interessanter Gedanke. Aber es könnte auch sein, dass man einem 90jährigen Karajan (gut, also vor etwa 15 Jahren) vieles hätte durchgehen lassen, was für andere schon längst tabu gewesen wäre. Die uralten Klemperer und Celibidache konnten sich ja auch Freiheiten herausnehmen, die man bei jüngeren Dirigenten sehr viel kritischer hinterfragt hätte. Der alte Knappertsbusch konnte es sich noch erlauben, praktisch ohne Proben ins Konzert oder in die Oper zu gehen, was schon in den 60er Jahren "antiquiert" wirkte. Stelle man sich das heutzutage mal vor. Das wäre eigentlich Stoff genug für einen neuen Thread: Die Aura der greisen Dirigenten. Auch heute landet man bei den Alten: Harnoncourt kann sich bei Mozart einige Manierismen erlauben, wie es ein "Junger" kaum könnte (Anmerkung: Ich finde Harnoncourts Altersstil persönlich interessant und gut so). Maazel darf mit über 80 auch sehr exzentrische Tempowechsel und Dynamikvorstellungen einbauen und wird trotzdem frenetisch gefeiert.

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    – Luís de Camões

  • Für mich wäre der Titel des Threads stimmiger, wenn er lautete:
    "Auf was können heutige Dirigenten verzichten, was Karajan hatte (auszeichnete?)?"

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Dass die Orchester früher besser gespielt hätten, ist ja mittels Aufnahmen leicht widerlegbar. Im Gegenteil sind heute die Orchester technisch eher besser (v.a. in der Breite (d.h. jenseits von Chicago und Berlin) und bei einem erheblich breiteren Spektrum von Musik).
    Ebenso ist es nicht wahr, dass Dirigenten früherer Zeiten durchweg besonders autoritär gewesen seien. Zwar muss man bei Probenmitschnitten u.ä. immer aufpassen, weil die vermutlich manchmal inszeniert sind, aber zB Fricsay ist bei der berühmten Moldau-Probe sehr geduldig und freundlich (mit einem damals nicht gerade erstklassigen Südfunkorchester); andere Dirigenten wie Knappertsbusch waren für Probenfaulheit und Laissez-faire berüchtigt usw. Ich vermute eher, dass perfektionistische Leuteschinder wie Szell oder Reiner aufgefallen sind, weil es eben nicht die Regel war.

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  • Ich denke, es gibt sie auch heute noch, die Charismatiker. Ich will jetzt gar nicht nochmal bestimmte Namen nennen. Ich nehme an, Du siehst das sowieso ganz ähnlich.

    Ja, das sehe ich auch so. Die von Dir genannten Maazel und Harnoncourt gehören auf jeden Fall dazu - Abbado, der ja noch vor kurzem unter den Lebenden weilte, lebte so eine Art wahrer Grösse und starken Charismas, trotz oder wohl eher schon wegen seiner Bescheidenheit.



    Aber es könnte auch sein, dass man einem 90jährigen Karajan (gut, also vor etwa 15 Jahren) vieles hätte durchgehen lassen, was für andere schon längst tabu gewesen wäre.

    Auch dem stimme ich zu, und es war ja auch beim von mir genannten Celi so. Einen solchen Probenstil könnte sich ein junger Dirigent heute niemals erlauben, schon gar nicht bei den durchaus selbstbewussten Berliner Philharmonikern.



    (Anmerkung: Ich finde Harnoncourts Altersstil persönlich interessant und gut so). Maazel darf mit über 80 auch sehr exzentrische Tempowechsel und Dynamikvorstellungen einbauen und wird trotzdem frenetisch gefeiert.

    Wiederum Zustimmung - sie sind durch ein Musikerleben zu dieser inneren Freiheit im Musizieren gekommen und sollen es so machen.
    Es ist ja auch oft so, dass beim grösseren Wagnis das absolut Geniale und das Missratene gefährlich dicht beieinander liegen können.
    Maazels orchestraler Ring (live aus Berlin, Blue-ray) empfinde ich zu 100% als genial und sehr sehr gelungen. Ich sehe seinem auf Effektivität ausgerichtetem Dirigieren mittlerweile auch gerne zu, auch weil es so lehrreich ist.


    Bei Karajan sah es noch viel mehr nach "geweihtem" Moment aus. Bei seinen Aufführungen konnte das Konzert auch eine wahnsinnig geniale Sternstunde sein, oder eben ein Konzert, bei dem eigentlich kaum etwas"passierte" (die Aussage habe ich von einem Berliner Philharmoniker, und was meine Erfahrungen mit seinen Platten angeht, kann ich das bestätigen).
    Einmal sah ich einen TV-Mitschnitt des Bachschen Magnificats mit dem greisen Karajan. Es war unterirdisch - auch seine persönliche charismatische Austrahlung konnte da nicht helfen. Dahingegen gab es auch im greisen Alter überirdische Momente, z.B. auch sein letztes Wiener Neujahrskonzert, auch manches von Bruckner, der Meinung Eindruck nach beim späten Karajan "menschlicher" klingt und nach den Brüchen, die das Leben so mit sich bringt. Das tut dem Bruckner gut, finde ich.


    Interessant ist ja auch, dass manche Leute einem Thielemann gewisse agogische Freiheiten nicht "vergeben" wollen, während es möglicherweise bei einem 90jährigen als besonderer Ausdruck schon überirdischer Weisheit angesehen würde.


    Der Thread "Die Aura der greisen Dirigenten" hätte ggf. Potential....



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Auch wenn ich hier heftigen Wiederspruch ernten werde, aber es ist für alle Bewunderung für Herbert von Karajan , auch bekannt das er viele Sänger Karrieren zerstört hat, indem er sie zu früh in viel zu schwere Rollen eingesetzt hat. Und es hat sich keiner getraut gegen Karajan etwas zu sagen, da er einem die Karriere auch verbauen konnte, wenn ein Sänger eine Rolle abgelehnt hat. Zu viel Perfektion kann auch manchmal etwas destruktives haben. Kann es sein das die Dirigenten früher eine größere Bedeutung hatten als heute? Wenn ich da nur an Kleiber denke. Er hat zwar wenig dirigeirt, war aber trotzdem ein Weltstar. Das könnte sich heutzutage kein Dirigent mehr leisten. Bei den Aufzählungen möchte ich noch James Levine nennen , der einem einzigen Opernhaus so viele Jahre treu geblieben ist, was heutzutage auch nicht selbstverständlich ist. Die wahren Helden sind für mich aber weiterhin die Kapellmeister in den Opernhäusern, die den Repertoirebetrieb am laufen halten und ganz bescheiden im Hintergrund bleiben.

  • Die wahren Helden sind für mich aber weiterhin die Kapellmeister in den Opernhäusern, die den Repertoirebetrieb am laufen halten und ganz bescheiden im Hintergrund bleiben.


    Gut gebrüllt, Löwe. Daher ist eigentlich mein Lieblingsdirigent Arnold Quennet von der Rheinoper in Düsseldorf, der alles konnte, aber nicht nur so, sondern gut konnte.
    Das erinnert mich an einen kleinen Dialog, den ich vor Jahren im ICE hatte. Ich fragte einen Schaffner, was wir beide - er Schaffner, ich Lehrer - gemeinsam hätten. Es war dies: beschimpft von den Kunden, verachtet von den Vorgesetzten, sind wir der Mittelbau, der den Betrieb am Laufen hält.
    Frank McCourt ("Angela´s Ashes") war Lehrer in New York. Er machte eine Beobachtung, die mich auch immer begleitet hat: wer nicht unterrichten kann, weil er keine Kinder mag, geht in die Verwaltung, steigen auf, verdienen viel mehr und haben von oben ausreichend Gelegenheit, die unteren Chargen zu drangsalieren.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)


  • Gut gebrüllt, Löwe. Daher ist eigentlich mein Lieblingsdirigent Arnold Quennet von der Rheinoper in Düsseldorf, der alles konnte, aber nicht nur so, sondern gut konnte.
    Das erinnert mich an einen kleinen Dialog, den ich vor Jahren im ICE hatte. Ich fragte einen Schaffner, was wir beide - er Schaffner, ich Lehrer - gemeinsam hätten. Es war dies: beschimpft von den Kunden, verachtet von den Vorgesetzten, sind wir der Mittelbau, der den Betrieb am Laufen hält.
    Frank McCourt ("Angela´s Ashes") war Lehrer in New York. Er machte eine Beobachtung, die mich auch immer begleitet hat: wer nicht unterrichten kann, weil er keine Kinder mag, geht in die Verwaltung, steigen auf, verdienen viel mehr und haben von oben ausreichend Gelegenheit, die unteren Chargen zu drangsalieren.


    Gehört ja nicht hierher - aber genau so ist das - wie ich diese Schulflüchtlinge verachte !


    Danke !


    kalli

  • Die wahren Helden sind für mich aber weiterhin die Kapellmeister in den Opernhäusern.....


    Auch die Stars haben so angefangen. Hier an der Rheinoper war der junge Carlos Kleiber von 1956 - 1964 als Kapellmeister und mußte das gesamte Repertoire 'rauf und runter dirigieren, was ihm total gegen den Strich ging (kürzlich wurden von ihm dirigierte Offenbach-Einakter entdeckt und auf CD veröffentlicht).
    Ähnlich ging es später auch Christien Thielemann, der von 1985 bis 1988 Kapellmeister an der Rheinoper war, obwohl er glaubte zu Höherem berufen zu sein und nach 3 Spielzeiten nach Nürnberg wechselte, wo er GMD wurde....

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

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  • Ich hatte heute leider Dienst und konnte dem interessanten Thread erst jetzt lesend folgen. Ich werde versuchen auf einie Statements zu antworten, bitte aber um Verständnis, daß ich nicht alles aufgreifen kann (zumindest nicht in diesem Beitrag) sondern nur auf einige Bemerkungen reagiere.



    Zitat

    Das ist gefühlt der zwanzigste Thread zu diesem Thema, daher weiß ich nicht genau, was man sich für neue Erkenntnisse erhofft.

    Über Mozart werden seit mehr als 200 Jahren immer wieder Bücher und Aufsätze verfasst - und man liest sie immer wieder.
    Genauso ist das Thema "gestern versus heute" ein Dauerbrenner, der - man sieht es an der hohen Beteiligung - immer wieder auf Interesse stößt und neue Facetten aufzeigt.
    Interessant ist auch, dass hier immer wieder der Name Herbert von Karajan genannt wird - obwohl das gar nicht als Ziel des Threads betrachtet wurde.



    Zitat

    Zuerst einmal Charisma

    .Ja - das hatte er - und auf ihre Weise andere damals auch.



    Zitat

    Auch wenn ich hier heftigen Wiederspruch ernten werde, aber es ist für alle Bewunderung für Herbert von Karajan , auch bekannt das er viele Sänger Karrieren zerstört hat, indem er sie zu früh in viel zu schwere Rollen eingesetzt hat.

    Das war ihm vermutlich egal - Hauptsache war das musikalische Ergebnis eine Einspielung.


    Aus meiner Sicht ist es auch ein Irrglaube, dass ein Spitzendirigent nicht mit den Musikern umspringen kann wie er will.
    Früher hat man einen Musiker angeschrien oder mit Ironie fertiggemacht - bis er das tat was man wollte. Heute lächelt man ihm ins Gesicht - und wechselt ihn bei nächster Gelegenheit aus.....


    Mit einem Solisten muss man sich über die Auffassung einer Interpretation absprechen - mit einem Orchester nicht. Das Orchester ist quasi das Instrument des Dirigenten - man räumt ja einer Stradivari auch kein Mitspracherecht ein....



    Zitat

    Einen solchen Probenstil könnte sich ein junger Dirigent heute niemals erlauben, schon gar nicht bei den durchaus selbstbewussten Berliner Philharmonikern

    . JUNGE Dirigenten konnten sich NIE etwas "erlauben".
    Kommen wir zurück zum "Charisma" - Dieses wirkte ja nicht nur auf die Orchestermusiker sondern auch auf das Publikum.
    Auch Karl Böhm hatte Charisma - auf eine eigene Art.
    Am Pult stand kein Mann, sondern ein HERR, eine Autorität die kein Erbarmen mit Mittelmässigen im Orchester hatte, für den - genau wie bei Karajan - nur das Ergebnis zählte - der stilsicher war und dem Eleganz der Interpretation über alles ging.
    Dass das eine Grundhaltung war, die auf die Wiener Klassik zugeschnitten war lässt sich am besten belegen, wenn man sich Böhms Wagner-Dirigate anhört - wo er völlig andere Akzente setzte......
    Natürlich hatte diese Generation einen Vorteil, der sowohl der vorangegangenen als auch der nachfolgenden verwehrt blieb:
    Sie konnten erstmals Aufnahmen in Stereo realisieren - gemacht für die Ewigkeit. Das strahlen diese Einspielungen auch aus - sogar noch bis zum heutigen Tag.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die alte Generation der Dirigenten konnten sich gegenüber einem Orchester streng, unantastbar sich im Recht befindend und autoritär aufführen. Man muss sich nur einmal die Probenmitschnitte etwa Celis, Karajans oder Böhms ansehen/anhören. Als Orchestermusiker musste man sich schon von denen schon einiges bieten lassen.


    Neben der Tatsache, dass alle die genannten Dirigenten, wie Furtwängler, Klemperer. Böhm, Karajan und Co. hervorragende Dirigenten mit außergewöhlicher Ausstrahlung waren, ist es genau der Punkt, den Glockenton herausarbeitet.
    Die Allmachtsstellung eines autoritären Dirigenten mit Alleinbestimmungsrecht gibt es kaum mehr. Die Orchester sind demokratischer geworden und straff organisiert. Orchestervorstände und die Gewerkschaften bestimmen mit. Die Zuschussgeber üben Einfluss aus. Meistens gibt es Programmausschüsse, die letzlich die Konzertprogramme im Ausgleich der verschiedenen Interessen beschließen. Ein deutliches Beispiel für den Machtverlust ist doch Thielemann. Diesem Spitzendirigenten werden bei verschiedenen Orchestern in unterschiedlichen Städten die Flügel gestutzt, wenn er zu viel Macht beansprucht und wider den Stachel löckt. Auch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Häufung von Chefpositionen bei bestimmten Pultstars - die oft mehr auswärts als beim Stammorchester dirigieren - spielen eine Rolle. Dennoch entwickeln sich immer noch Spitzenorchester mit überragenden Leistungen, vielleicht nur etwas unabhängiger vom allmächtigen Maestro.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Hallo,


    es ist sicher eine Tatsache, daß der Chefdirigent eines Orchesters sehr viel mehr Einflussnahmen der Verwaltung, der Kulturverantwortlichen, der Sponsoren, der Gewerkschaften etc. ausgesetzt ist, als dies früher der Fall war. Darauf hat Operus völlig zu Recht hingewiesen.
    Der Respekt vor "Autoritäten" jedweder Art ist doch deutlich im Schwinden begriffen, wobei die Mitsprache Fordernden oft nicht die geringste nachweisbare Qualifikation für die entsprechende Tätigkeit aufweisen. Dies zeigt sich z.B. bei den idiotischen Äußerungen, die sich teilweise in Ärztebewertungsportalen finden, wobei diese ausgerechnet von den Krankenkassen noch gefördert werden, oder jeder Pädagoge kann sicher ein "garstig Lied" über Elternabende oder Probleme mit der Schulverwaltung singen!
    Früher sind die für das Kulturleben Verantwortlichen trotz ihrer Machtfülle respekt- und achtungsvoll mit den Künstlern umgegangen, da bei den höheren Verwaltungschargen entweder noch echte Bildung vorhanden war, oder man Bildungsdefizite ggf. bedauerte (da man dies bemerkte, was heute sicher oft gar nicht mehr der Fall ist), oder durch Herkunft und Erziehung war es für die Betreffenden selbstverständlich, der Kunst Autonomie einzuräumen.
    Monarchen wie Franz Joseph I., den man wohl kaum als Demokraten im heutige Sinne bezeichnen könnte, hat sich niemals in die künstlerischen Belange der Direktoren der ihm gehörenden und aus seiner Privatschatulle finanzierten Hoftheater eingemischt, ebenso die Inhaber der höchsten Hofämter wie Prinz Liechtenstein oder Fürst Montenuovo. In einem Haus wie der Münchner oder Hamburger Staatsoper könnte ein Mann wie Mahler heutzutage keine Woche tätig sein, ohne mit Kultursenatoren- und Dezernenten, dem Betriebsrat, der Gleichstellungsbeauftragten und wem auch immer in massive Konflikte zu geraten.
    Außergewöhnliche künstlerische Begabung und Charisma vertragen sich aber auf Dauer nicht mit den Verwaltungsstrukturen des modernen Rechtsmittelstaates; der hier schon erwähnte Thielemann ist ein klassisches Beispiel.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Lieber Joachim,


    danke für die erweiternde Betrachtung. Wir liegen in der Analyse der Ursachen ganz eng zusammen.


    Herzlichst
    Oprus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Zitat

    Ein deutliches Beispiel für den Machtverlust ist doch Thielemann.


    Ich sehe das nicht ganz so - Immerhin ist er im Moment einer der mächtigsten Dirigenten unserer Tage.
    Sollten seine Aufnahmen sich exorbitant verkaufen, so würde seine Macht allmählich (beinahe) zur Allmacht.
    Demokratischen Strukturen bei bestehenden Orchestern könnte man durch die Gründung eines eigenen Orchesters (die Vergangenheit zeigt, dass dies möglich ist) begegnen. Dazu müssten allerdings gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein. Zum einen die exorbitante Qualität eines solchen Orchesters - da natürlich mühsam erarbeitet werden müsste - ohne Rücksucht auf Verluste - zum anderen indes durch Spitzengehälter innerhalb des Orchesters - so daß jeder Musiker sich dem Chefirigenten vorbehaltslos unterwürfe - aus Angst seinen bestbezahlten Platz gegen einen in einem Durchschnittsorchester tauschen zu müssen. Es ist eine Sache des Willens und des Geldes. "Geht nicht" - das gibt es einfach nicht.
    Dem steht allerdings entgegen,daß das Interesse an Klassik derzeit nicht so ausgeprägt ist, dass der erforderliche Aufwand kaufmännisch vertretbar oder gar interessant wäre....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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