Die inneren Bilder

  • Mal sehen, ob dieses Thema Anhänger findet. Es geht um die Bilder, die bei bestimmten Musikstücken automatisch in den Köpfen entstehen, also unabhängig vom Titel oder Hintergrundinformationen.
    Mein erstes Beispiel ist Ravels Bolero. Immer sehe ich dann vor meinem inneren Auge eine Karawane durch die Wüste ziehen. Immer.
    Haben andere so etwas auch?


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Das ist ein sehr schönes Thema! Der Komponist, der in mir die stärksten Bilder assoziiert, ist Jean Sibelius. Er hat mich selbst zu einer Reise durch seine finnische Heimat und die Nachbarländer animiert. Ich hatte immer den Drang verspürt, diese Landschaften, die ich in seinen Werken sehe, selbst vor Augen zu haben. Ich bin nicht enttäuscht worden. Für mich habe ich heraus gefunden, dass eine Quelle seiner Inspiration Despressionen sein müssen. Die nördliche Landschaft genießt man nicht ungestraft. Die weißen Nächte sind nur schwer auszuhalten. Ich habe sie in einer Mischung aus Folter, Qual und Faszination erlebt und sehne mich nicht nach Wiederholung. All das ist in der Musik von Sibelius, die ich in Teilen als sehr nervös empfinde. Es sind also nicht ganz konkrete Bilder, die ich sehe. Es sind mehr Eindrücke und Gefühle, wie sie sich beim Betrachten eines wunderbaren Gemäldes einstellen können.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Klaus 2,


    ich denke, dass bei fast jedem beim intensiven Hören der Musik irgend ein innerer Film abläuft. Das ist natürlich in erster Linie der Fall bei Musik, der ein gewisses Programm zugrunde liegt, wie etwa Beethovens 6. Sinfonie, Smetanas Vaterland, Mussorgskis Bilder einer Ausstellung, Strauss'Alpensinfonie usw., aber auch häufig bei Stücken, denen kein unmittelbares Programm zugeordnet ist. So läuft z.B. beim 2. Satz von Beethoven 7. Sinfonie bei mir immer der Film eines gemessen schreitenden Festzuges ab. Auch bei vielen anderen Stücken entstehen oft ein innerere Filme, die ich hier aber nur sporadisch wiedergeben könnte, nachdem ich ein bestimmtes Stück gehört habe, weil ich diesen Film meist schnell wieder vergessen, wie ich - im Gegensatz zu manchen anderen - nach dem Erwachen auch einen Traum nur selten wiedergeben kann.
    Allerdings wird dieses Bild auch manchmal bei uns manipuliert. Auf Griegs Morgenstimmung sind wir häufig darauf geimpft worden, norwegische Landschaften zu sehen. Natürlich ist Grieg ein norwegischer Komponist, so dass man mit ihm, aber auch mit der Art der Musik Norwegen verbinden kann. In Wirklichkeit wurde diese Musik aber zu einer Szene geschrieben, die einen Sonnenaufgang in der Wüste schildert.
    Als einen Sonneraufgang deutet man ja auch häufig die Einleitung zu Strauss' Zarthustra, die ich aus der bombastischen Einleitung allerdings selbst nicht heraushöre.
    Ein interessantes Experiment hat meine Enkelin, die Grundschullehrerin ist, kürzlich gemacht. Sie ließ ihre Schüler zu Vivaldis Frühling jeweils schildern, was sie bei der Musik sehen. Das Experiment ist geglückt, aber die Phantasien waren recht unterschiedlich.
    Das Theme könnte recht interessant werden.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Ein wirklich gutes Thema.


    Beim Finale von Sibelius' 2. Symphonie habe ich immer einen Sonnenaufgang in Finnland vor Augen. Bei Bruckners 5. Symphonie eine gewaltige Kathedrale.


    Seit ich mal einen sowjetischen Film mit der Musik von Schostakowitschs "Leningrader" sah, habe ich diese Bilder im Kopf:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Es ist ein wenig schwierig KEINE Bilder zu sehen - Denn oft werden sie uns ja schon suggeriert. Beispielsweise bei Mahlers Sinfonie Nr 1 die ja Themen von den "Liedern eines fahrenden Gesellen" verarbeitet - wo die Bilder quasi schon mitgeliefert werden, ebenso wie bei Berlioz' "Sinfonie fantastique", dann natürlich Vivaldis "Jahreszeiten" oder diverse Stellen in Beethovens Pastorale.
    Man kann aber auch im Rahmen von Entspannungsübungen mit geschlossenen Augen sich auf das Erscheinen von Farbillusionen konzentrieren, welche vom entsprechenden Musikstück abhängig sind - ähnlich wie die tanzenden Farbmuster, die bei manchen Tonwiedergabeprogrammen am Computer produziert werden. Allerdings sind die "selbstproduzierten Farbillusionen ungleich intensiver.........


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Es ist ein wenig schwierig KEINE Bilder zu sehen - Denn oft werden sie uns ja schon suggeriert.


    Musik wirkt als ganzheitliches Erlebnis auf den Hörer ein. Selbstverständlich entstehen deshalb unbewußt und bewußt auch Bilder. Spontan fällt mir dabei sofort Smetanas "Vaterland-Zyklus" und hier besonders die "Moldau" ein. Auch die großen Tondichtunge von Richard Strauss und hier speziell die "Alpensinfonie" sind musikalische Reisen, die im Sinne des Zitats von Alfred Bilder suggerieren. Wie stark Musik auf den Menschen ganzheitlich einwirkt wird auch dadurch bewiesen, dass bei Operationen in Teilnarkose unter dem Einfluss bestimmter, ausgewählter Musik weniger Blut fließt. Warum berieseln Verkaufsexperten den Kunden besonders zu bestimmten Saisonzeiten ( Weihnachten) nahezu unmerklich mit unterschwelliger
    Musik? Hier weiß ich nicht ob es stimmt oder ein Witz ist, sogar Kühe sollen unter dem Einfluss bestimmter Musikstücke mehr Milch geben. Musik scheint also in der Tat eine Himmelsmacht zu sein. Wie schön, dass wir Taminos dies erkannt haben und zur Bereicherung unseres Lebens nutzen.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Das ist ein interessantes Thema. Die Musikpsychologie kennt einen besonderen Hörertyp. welcher Musik, um ihren Ausdruck zu verdeutlichen, mit bildlichen Vorstellungen verbindet. Schon Beschreibungen von Musik um 1800 sprechen von bildlichen Eindrücken beim Musikhören. Ich selbst gehöre offenbar nicht zu diesem Hörertyp. :) Es gibt natürlich Musik, die von sich her sehr bildhaft ist und unwillkürlich Bilder evoziert, da geht es auch mir so, wie z.B. bei der Prozessionsszene in "Fetes" aus Debussys Nocturnes für Orchester oder der Schilderung einer Prozession bei Isaac Albeniz (Iberia Heft I, Nr. 3).


    Schöne Grüße
    Holger

  • Meine Bilder sind oft auch recht abstrakt, so sind es bei Sibelius Fünfter immer irgendwelche Zusammenballungen, die sich blähen, wo dann von unten wieder etwas nachwächst.
    Aber es ist auch wie oben beschrieben sehr oft so, dass die Bilder nach relativ kurzer Zeit fast vergessen sind, was ich mir während des Hörens allerdings wieder gar nicht vorstellen kann.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich mache es kurz:


    Ich schätze die Sparte Sinfonische Dichtung besonders hoch, weil sich die durch die Handlung vorgegebenen Bilder dann fast von selbst einstellen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Mal sehen, ob dieses Thema Anhänger findet. Es geht um die Bilder, die bei bestimmten Musikstücken automatisch in den Köpfen entstehen, also unabhängig vom Titel oder Hintergrundinformationen.
    Mein erstes Beispiel ist Ravels Bolero. Immer sehe ich dann vor meinem inneren Auge eine Karawane durch die Wüste ziehen. Immer.
    Haben andere so etwas auch?
    Tschö
    Klaus


    Ein Super-Thema, lieber Klaus². Ja, dafür habe ich deine Zwei mal in die zweite Potenz erhoben, denn mit Potenz hat Ravels Bolero sehr viel zu tun. Erinnern möchte ich an den Jahrhundert-Eistanz von Thorvill/Dean, ihnen gelang 1994 bei der Olympiade in Lillehammer der perfekte Liebesakt auf dem Eis: http://www.youtube.com/watch?v=1TkqyU4badc
    Natürlich jugendfrei

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • Es ist ein wenig schwierig KEINE Bilder zu sehen

    So schön es auch klingt, aber bei mir funktioniert das mit den Bildern überhaupt nicht; zumindest nicht im Sinne einer freien Assoziation. Natürlich kann ich mir zur Musik bewusst bestimmte bzw. passende Bilder in den Kopf rufen. Aber von selber passiert da tatsächlich nichts. Interessanterweise ist es anders, wenn ich ein Buch lese: Dort komme ich sehr schnell zu bestimmten Vorstellungen und Bildern ohne, dass mir ihre unvermittelte Entstehung bewusst wäre.



    Hier weiß ich nicht ob es stimmt oder ein Witz ist, sogar Kühe sollen unter dem Einfluss bestimmter Musikstücke mehr Milch geben.

    Ich meine gelesen zu haben, dass die These "Glückliche Kühe dank Mozart" inzwischen statistisch signifikant genauso widerlegt wurde, wie die These "Klügere Kinder dank Mozart" :hello:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Synästheten nehmen Töne und Klänge als Farben wahr. Ein berühmtes Beispiel für dieses Phänomen ist der Komponist Alexander Nikolajewitsch Skrjabin (1871-1915). Zitat aus Wikipedia:
    "Die Musik genügte ihm bald als Ausdruck seiner philosophischen Ideen nicht mehr. Er war Farb-Synästhet, d. h. Töne bzw. Tonarten waren für ihn mit spezifischen Farbwahrnehmungen verknüpft. Da er aber kein absolutes Gehör besaß, stellten sich die Farbwahrnehmungen nur dann ein, wenn er einen bestimmten Ton (oder Akkord) las, schrieb oder spielte."


    Googelt man "Synästhesie: Die Farben der Musik" gelangt man zu einem lesenswerten Artikel von Martin Morgenstern.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Das Thema hat verschiedene Ebenen.


    Es gibt Synästheten wie Scriabin, Olivier Messiaen oder auch Helene Grimaux. H. Grimaux sagt, daß sie bestimmte Harmonien, Tonarten, mit ganz bestimmten Farben verbinden kann wie z.B. Schwarz. Das ist wohl hirnphysiologisch begründet. Im Normalfall bei Normalmenschen funktionieren Synästhesien aber nicht so, daß man einen bestimmten Klang mit einer wirklich realen Farbvorstellung verbindet. Die Klangfarbe kann hell, warm oder kalt, dunkel oder hell, auch schillernd sein usw. D.h. die Tonfarbe bleibt so eine "Klangfarbe", d.h. eine doch immer noch "klangliche" Farbtönung im wörtlichen Sinne, die eben noch zu keiner (bildlichen) Farbvorstellung wird, die sich von der Klangvorstellung ablösen läßt wie bei den echten Synästheten.


    Die Verbindung von Klängen mit Bildern ist ebenso sehr unterschiedlich. Jemand hat eine Musik einmal gehört in Zusammenhang mit einem persönlichen Erlebnis und verbindet sie dann beim Wiederhören damit - etwa Beethoven wird verkettet mit der Assoziation eines Tennisplatzes. Das bleibt "außermusikalisch". Ganz anders ist es, wenn bei einer symphonischen Dichtung die Verbindung der Musik mit der poetischen Aussage zu einer bildlichen Vorstellung führt. Es gibt aber auch die Bildhörer", die ein musikalisches Motiv mit relativ abstrakten Bildvorstellungen verbinden und ihm so eine Ausdrucksbedeutung verleihen. Die lassen sich nicht unbedingt als außermusikalische Assoziationen abtuen wie bei der Vorstellung eines Tennisplatzes, weil sie der Wahrnehmung Sinnkonsistenz verleihen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,
    zur Synästhesie gab es vor zufällig von wenigen Tagen ein Feature auf BR-Klassik.


    Solche Menschen können Klänge von verschiedensten Instrumenten, Töne tief oder hoch, laut oder leise, Akkordverbindungen usw. mit für jedes Individuum verschiedenen außermusikalischen Eindrücken verbinden, Farben, Lichteindrücke, Gerüche, Temperaturempfinden etc. Man hat auch aufwändig untersucht, inwieweit diese außermusikalischen Eindrücke zwischen Synästheten vergleichbar sind - Ergebnis: Das Gehirn jedes Menschen ist in seiner Ausprägung so einmalig, sodass es sehr, sehr, sehr... großer Zufall wäre, zwei Synästheten mit deckungsgleichen Sinneseindrücke zu finden. Diese Menschen "leiden" darunter, ihre Empfindungen anderen Menschen so mitzuteilen, dass diese tatsächlich nachempfinden können.


    Dies ist mir der Assoziation von Bildern nicht vergleichbar.


    Viele Grüße
    zsweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Moderato, lieber zweiterbass,


    danke für Eure interessanten Hinweise zur Synästhesie. Diese Sichtweise war relativ neu für mich. Wieder einmal hat durch Euch das Tamino-Klassik-Forum seine weiterbildende Funktion unter Beweis gestellt.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Man sollte vielleicht noch einmal betonen, dass Synästhesie im neurologischen Sinne, kein trainiertes oder willkürliches Phänomen ist.
    Synästheten suchen sich nicht aus, welche Farben (o.ä.) sie mit Klängen verbinden, sondern das ist anscheinend eine angeborene, jedenfalls feste Kombination.


    Insofern ist das etwas völlig anderes als die Assoziation mit realistischen (oder abstrakten) Bildern bei uns normalwahrnehmenden Nicht-Synästheten. ("ästhet-" bedeutet hier nur das urprüngliche "auf Wahrnehmung bezogen", hat nichts mit Ästhetik im engeren Sinne von Schönheit zu tun)


    Ich habe übrigens normalerweise keine "inneren Bilder" beim Musikhören, nicht einmal bei "Programmmusik". Es gibt vielleicht ein paar Stücke, die ich aufgrund der Umstände beim Kennenlernen mit Bildern assoziiere, aber das ist sehr selten. Musik ist für mich wirklich die Anti-Bild-Kunst, dynamisch, gestisch, sie motiviert mich vielleicht zum Mitmachen, Singen oder Bewegen, weckt auch Emotionen usw., aber Bilder nur in Ausnahmefällen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Man sollte vielleicht noch einmal betonen, dass Synästhesie im neurologischen Sinne, kein trainiertes oder willkürliches Phänomen ist.
    Synästheten suchen sich nicht aus, welche Farben (o.ä.) sie mit Klängen verbinden, sondern das ist anscheinend eine angeborene, jedenfalls feste Kombination.


    Ja, meine Wortwahl "können" war irreführend, aber Johannes Roehls Beitrag war für mich so selbstverständlich, dass mir "können" untergekommen ist - sorry!


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Für mich waren Deiner und Holgers Beiträge eigentlich auch eindeutig, aber die Reaktion von Operus klang mir ein wenig nach Missverständnis.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

  • Hier noch ein Beispiel: Mahlers 1. Symphonie: Immer wieder so eine moorige, neblige Edgar-Wallace-Landschaft im Zwielicht. Einzelne schlecht zu erkennende Gestalten, die sich langsam, ziellos bewegen. Die Bilder verschwinden dann aber gegen Ende ersatzlos und es bleibt vages Gefühl.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Mahler 1 (Anfang) ist aber sicher eher eine mitteleuropäische (böhmische?) Landschaft im Morgengrauen, weit weg von der See. Ein bißchen Dunst, aber kein schwerer Londoner Nebel ;)

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Hallo,Klaus,


    Du hast m.E. Mahlers Intentionen richtig erkannt. Ich tue mich schwer - bitte nicht böse sein, Holger, in Mahlers Erster das ungetrübte Naturerlebnis, vor allem des ersten Satzes, wahrzunehmen; die "Edgar-Wallace-Landschaft" trifft es nach meiner Meinung eher.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Mahler 1 (Anfang) ist aber sicher eher eine mitteleuropäische (böhmische?) Landschaft im Morgengrauen, weit weg von der See. Ein bißchen Dunst, aber kein schwerer Londoner Nebel ;)


    Das ist jetzt eine erstaunliche Replik, denn dass es da eine objektiv Richtige Assoziation geben soll, finde ich sehr gewagt. Und wenn sich bei mir Bilder einstellen, dann sind die doch per se "richtig", oder?


    Um mich verständlich zu machen: Ich spreche von Bildern, die sich von selbst einstellen. Insofern beruhigt mich die Antwort von Joachim sehr.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Natürlich gibt es keine objektiv richtige Assoziation und niemand will Dich an "Hier spricht Edgar Wallace" hindern...


    Im Falle von Mahlers Erster gibt es aber schon eine Entstehungsgeschichte und, wenn ich recht erinnere, sogar ein rudimentäres Programm. Und das legt eben Mahler Heimat als Kind mit dem Weckruf einer entfernten Kaserne, Vogelstimmen und dann dem Lied "Ging heut morgen übers Feld", was einen ländlichen Frühlings- oder Sommermorgen beschreibt, nahe.


    Rein klanglich ist es für mich jedenfalls auch weit eher ein "heller Dunst" im Morgengrauen als ein düsterer Nebel.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Rein klanglich ist es für mich jedenfalls auch weit eher ein "heller Dunst" im Morgengrauen als ein düsterer Nebel.


    So hat Mahler das selbst auch beschrieben, lieber Johannes. Er spricht vom Schimmern und Flimmern der Luft bei Sonnenaufgang - es ist das Erwachen der Natur, wo sich dann natürlich auch einige sehnsuchtsvolle Töne einmischen, bevor sich dann mit dem Thema die frohgemute Stimmung durchsetzt.


    Assoziationen stellen sich zwar unwillkürlich ein, haben aber auch einen etwas zweifelhaften Ruf. Weil sie sich eben mit dem musikalisch Wahrgenommenen nur äußerlich verbinden, haftet ihnen in den Augen vieler Ästhetiker (allen voran Eduard Hanslick) der Makel des Willkürlichen an. Wenn jemand bei Mahlers 1. Edgar Wallace-Nebel assoziiert, ein anderer damit aber gar nichts anfangen kann und eher böhmische Wälder assoziiert, dann kommt natürlich der Einwand: all das bleibt im Grunde "außermusikalisch". Dazu muß man wohl sagen: Bildliche Assoziationen sind niemals ganz eindeutig, sonst wäre da individuelle Vielfalt schlicht nicht möglich. Ganz beliebig sind sie deshalb aber auch nicht. Das Zwielicht kann man eben positiv oder negativ deuten - wie das Glas Wasser entweder halb leer oder halb voll ist. Täuschungsanfälligkeit gibt es hier durchaus - wenn die Assoziation den Kontext ausblendet. Der ist bei Mahler nun mal eindeutig positiv - wie Du schon erwähnt hast mit "festlichen" Weckrufen der Trompeten und dem Kuckuck. Interessant ist hier Franz Liszt. Er spricht nämlich in Bezug auf Programmmusik von einer "Bilderfolge" - d.h. die logische Verkettung der Bilder gemäß dem Programm schränkt die Assoziationsfähigkeit ein gegen die Beliebigkeit willkürlicher Assoziation, die bei einer einzelnen Bildassoziation natürlich nie ganz auszuschließen ist. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    bei Mahler habe ich oft den Eindruck, saß er etwas anderes sagt und schreibt, als er wirklich denkt. Bei seinen Programmen hat er sich stets inkonsequent verhalten; an anderer Stelle meinte er einmal, diese seien etwas für "schlichte Gemüter", was sich auf niemand geringeren als den sächsischen König bezog, der einmal um programmatische Angaben zu einer Symphonie bat (welche, müste ich nachsehen).
    Aber Assoziationen und innere Bilder sind eine höchst persönliche Angelegenheit; hier ist nur das Unterbewußte der Bezugspunkt und nicht der evtl. Wille des Komponisten.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

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  • Hallo,


    ich denke, daß die Komponisten und Apologeten der Programmmusik in ihre Erzeugnisse eine Logik und Konsequenz hieneinlegen, die diese als Musik nur im geringen Maße oder überhaupt nicht aufweisen kann.
    Mit Straussens Don Juan verknüpfe ich z.B. seit jeher nicht den Womanizer Don Giovanni, sondern den Sieger von Lepanto, Don Juan d Áustria, zu dem diese Musik m.E. eher passen würde. Das musikalische Werk, einmal in die Welt gesetzt, entzieht sich dem Willen seines Erschaffers, nistet sich im Gehirn des Hörers ein und erzeugt dort ggf. Bilder, die der Komponist nicht beeinflussen kann, ungeachtet etwaiger programmtischer Äußerungen.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • ich denke, daß die Komponisten und Apologeten der Programmmusik in ihre Erzeugnisse eine Logik und Konsequenz hieneinlegen, die diese als Musik nur im geringen Maße oder überhaupt nicht aufweisen kann.

    Das verstehe ich nicht so ganz. Ein typisches (Vor-)urteil gegenüber sog. Programmmusik ist doch eher, dass sie als Musik nicht die "Stringenz" sog. absoluter Musik aufweist. Die Abfolge der musikalischen Gestalten wird nicht durch eine innere Entwicklung, sondern durch das "äußerliche" Programm gegeben.



    Zitat

    Mit Straussens Don Juan verknüpfe ich z.B. seit jeher nicht den Womanizer Don Giovanni, sondern den Sieger von Lepanto, Don Juan d Áustria, zu dem diese Musik m.E. eher passen würde. Das musikalische Werk, einmal in die Welt gesetzt, entzieht sich dem Willen seines Erschaffers, nistet sich im Gehirn des Hörers ein und erzeugt dort ggf. Bilder, die der Komponist nicht beeinflussen kann, ungeachtet etwaiger programmtischer Äußerungen.

    Na, das ist aber sicher eine Eigenwilligkeit von Deiner Seite. Denn der Bezug zu dem Gedicht von Lenau ist ja explizit vorhanden und die meisten Hörer haben zumindest eine vage Idee des Don-Juan-Mythos, während wohl kaum jemand mehr als den Namen von Juan d'Austria kennt...

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Ich verstehe Joachim sehr gut und erkenne einen verwandten Geist.
    Es gibt ja immerhin zwei Köpfe mit Phantasie, den des Komponisten, der etwas ausdrücken will und den Hörer, der etwas empfindet. dass hier derselbe Code vorliegen soll, ist doch überhaupt nicht gegeben. Und wenn wir etwas anderes imaginieren als der Komponist, wo liegt dann das Problem? Es gibt Millionen von Erfahrungen und Erinnerungen, die durch Musik geweckt werden können.


    Ich behaupte auch, dass es kein Musikstück auf der Welt gibt (Programmmusik), wo jemand heraushören kann, welches Bild der Komponist ausdrücken wollte. Wir erfahren das immer über den Titel. Insofern ist es doch wohl ok, sich vom Programm zu lösen und dem Kopfkino freien Lauf zu lassen.


    Böll hat mal gesagt, dass jeder Künstler nach der Veröffentlichung jede Deutungshoheit über sein Werk völlig verliert. Und gerade bei so etwas Vagem wie Musik soll das dann nicht mehr gelten?


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich behaupte auch, dass es kein Musikstück auf der Welt gibt (Programmmusik), wo jemand heraushören kann, welches Bild der Komponist ausdrücken wollte.


    Hallo,


    als Gegenbeweis - höre Dir doch mal z. B. den Anfang der "Moldau" an.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • In Bezug auf Musik gilt letztlich dasselbe wie für das Verständnis von belletristischen oder wissenschaftlichen Texten: die Möglichkeit einer Fehlinterpretation durch den Leser oder Hörer ist immer gegeben - also auch durch die falschen Bildassoziationen. Zur Idee der Programmmusik gehört, die Deutungsvielfalt und - phantasie einzuschränken durch den Bezug auf eine poetische Idee. Das Programm gehört hier genauso zur Musik wie bei einem Lied der Text. Das populäre Mißverständnis von Programmmusik ist, daß die Musik - polemisch gedacht auch noch mangels formaler Konsistenz - eine literarische Geschichte lediglich illustriert. Das ist natürlich nicht der Fall sondern eine Karrikatur. (Richard Strauß unterschied deshalb "Programmmusik" von "Literaturmusik".) Die Musik schreibt mit an der Geschichte. Der Sinn entsteht als ein Drittes aus der Verbindung von Programm und dem musikalischen Verlauf. Da gibt es durchaus die Möglichkeit von Deutungsvielfalt - aber in festgesteckten Grenzen. Wenn Mahler z.B. auf Programme verzichtete, dann hat das mehr mit den gängigen Mißverständnissen und der Polemik gegen Programme zu tun - das sind letztlich keine ästhetischen Gründe. Das (niemals detaillierte) Programm ist der Wegweiser zum Verständnis der poetischen Idee eines Musikstücks, der "Stimmung" des Ganzen, wie Mahler sich ausgedrückt hat. Der Fall Mahler ist natürlich kompliziert. Seine Symphonien sind weder "absolute Musik" noch "Programmmusik" im engeren Sinne - sie haben eine Art "inneres Programm", wie Carl Dahlhaus es ausdrückte.


    Schöne Grüße
    Holger

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