Dieser Thread steht in einem doppelten inneren Bezug zu zwei bereits hier vorliegenden Threads. Formal knüpft er an den Thread „Hugo Wolf und Eduard Mörike“ an und versteht sich gleichsam als dessen Fortsetzung. Unter inhaltlichem Aspekt ergibt sich allerdings auch eine Beziehung zu dem Thread „Schubert und Goethe“, und dies nicht nur, weil Wolf mit der Vertonung von Gedichten aus „Wilhelm Meister“ und der Gruppe „Prometheus“, „Ganymed“ und „Grenzen der Menschheit“ sozusagen in direkte Konkurrenz zu Schubert getreten ist. Es stellt sich daneben auch die ganz allgemeine Frage, wie beide liedkompositorisch mit dem Dichter Goethe und der ihm eigenen lyrischen Sprache umgegangen sind.
Das Goethe-Opus ist mit 51 Liedern nach der Gruppe der Mörike-Vertonungen (53 Lieder) das zweitgrößte Liedwerk Hugo Wolfs. Und es entstand in der gleichen, für ihn ganz typischen Art und Weise: Im Akt einer kompositorisch hochkonzentrierten, vom dichterischen Geist beflügelten und rauschhafte Züge tragenden Hinwendung zum Dichter. Die erste Gruppe von 13 Liedern entstand in Wien (vermutlich in der Wohnung Ecksteins in der Siebenbrunnengasse) in der Zeit vom 27. Oktober bis 15. November 1888. Am 7. Dezember bezog Wolf sein „Winterquartier“ im Landhaus der Familie Köchert in Döbling, und dort komponierte er innerhalb von zehn Wochen 37 Goethe-Lieder. Ähnlich wie bei den Mörike-Liedern gab es dann noch einen „Nachzügler“: Das Lied „Die Spröde“ entstand am 21. Oktober 1889 in Perchtoldsdorf.
Was die Auswahl der für eine Vertonung vorgesehenen Gedichte anbelangt, so sah sich Wolf im Falle Goethes in einer anderen Situation als bei Mörike. Bei letzterem betrat er gleichsam liedkompositorisches Neuland, so dass sein erster Biograph Ernst Decsey feststellen konnte: „Wolf hat Mörike von der Literatur erlöst … der unbekannte Wolf hat den unbekannten Mörike entdeckt“. Bei Goethe lagen die Dinge anders: Er hatte es mit dem meistvertonten deutschen Dichter zu tun und stand vor der Frage, ob, wie weit, in welchem Umfang und in welcher Form er sich in die Situation eines liedkompositorisch mit einem anderen Konkurrierenden begeben sollte. Hinzu kam, dass es zwischen ihm und Mörike so etwas wie eine tiefinnere Verwandtschaft gab, was die existenzielle Grundbefindlichkeit anbelangte. Das dürfte ein wesentlicher motivierender Faktor beim Griff nach dem lyrischen Text gewesen sein. Man darf wohl vermuten, dass dergleichen bei Goethe nicht gegeben war, so dass die Auswahl der Gedichte ausschließlich von deren Thematik und der lyrischen Qualität bestimmt wurde, - und eben von dem Aspekt der liedkompositorischen Vorgängerschaft.
Dem Blick auf die Gesamtheit der Lieder bietet sich ein hochinteressantes Bild. Hugo Wolf ist ganz offensichtlich dem lyrischen Klassiker Goethe ausgewichen und hat es auf diese Weise vermieden, besonders mit Franz Schubert in die Situation des liedkompositorischen Konkurrenten oder gar Rivalen zu geraten. Dort, wo er sich dennoch darauf eingelassen hat, tat er es ganz bewusst aus der Haltung heraus, es in diesem Fall besser zu können als der von ihm so sehr verehrte Vorgänger Schubert. So war er im Falle der Harfner- und Mignon-Gedichte der Meinung: „Da hat Schubert den Goethe halt nicht verstanden“. Und im Falle der großen Hymnen-Trias war er sich sicher, dem lyrischen Text mit seinen modernen musikalischen Mitteln eher gerecht werden zu können. Ansonsten aber bewegt er sich mit der Wahl der Gedichte gleichsam in den Randzonen der Lyrik Goethes, was dazu geführt hat, dass er regelrechte Entdeckungsarbeit geleistet hat: Bei den Gedichten aus dem „West-östlichen Divan“ nämlich. Diese - wie überhaupt das ganze Werk - waren damals weitgehend unbekannt und deshalb auch noch nicht vertont.
Was den liedkompositorischen Ansatz Wolfs und die Eigenart seiner Liedsprache anbelangt, so sei auf die diesbezüglichen Ausführungen im Thread „Hugo Wolf und Eduard Mörike“ verwiesen. Es sollte genügen, an dieser Stelle thesenartig folgendes anzumerken und in Erinnerung zu rufen. Für Wolfs Liedkomposition gelten die von ihm selbst formulierten Maximen:
- „Die Poesie ist die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache. (…) Da liegt der Hase im Pfeffer“. Und:
- „Oberstes Prinzip in der Kunst ist mir strenge, herbe, unerbittliche Wahrheit, Wahrheit hin zur Grausamkeit.“
Dabei ist er sich der Problematik dieses liedkompositorischen Konzepts sehr wohl bewusst, wie man seiner Äußerung entnehmen kann:
„Es liegt etwas Grausames in der innigen Verschmelzung von Poesie und Musik, wobei eigentlich nur der letzteren die grausame Rolle zufällt. Die Musik hat entschieden etwas Vampyrartiges in sich.“
Den strukturellen Wesensmerkmale des Hugo Wolf-Liedes, wie sie auf der Grundlage der Mörike-Vertonungen aufgezeigt wurden, begegnet man natürlich auch in den Goethe-Vertonungen. Es sind dies:
- die Emanzipation des Klaviersatzes von der Melodik;
- das Ausschöpfen aller musikalischen Ausdrucksmittel des Klaviersatzes;
- ein Verhältnis von Klaviersatz zur Singstimme, das über die schiere Begleitung hinaus zu einem echten Dialog wird; und
- eine Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme nach Maßgabe der Sprachmelodie, ohne sonderliche Rücksichtnahme auf die Gebote einer melismatischen Phrasierung.
Es wird aber bei den folgenden Liedbesprechungen eine interessante Fragestellung sein, ob – und wenn überhaupt, dann in welcher Form und Gestalt - sich die liedkompositorische Auseinandersetzung mit der lyrischen Sprache Goethes auf die spezifische Struktur und die klangliche Eigenart der Lieder auswirkt. Dabei wird den diesbezüglichen liedanalytischen Reflexionen eine – wie mir scheint bemerkenswerte – Hörerfahrung zugrundeliegen:
Die Goethe-Lieder differieren in ihrer kompositorischen Qualität deutlich stärker, als dies bei den Mörike-Liedern der Fall ist.