Atonale Musik und Optimismus

  • Als Nebenschauplatz in Regietheater - Konzepttheater - altbackene versus moderne Inszenierung aufgekommen und hierher ausgelagert.
    KSM

    Das würde ja bedeuten, lieber Jacques, daß "atonale" Musik dann generell weniger ausdrucksfähig sein müßte als tonale. Eine etwas sehr kühne These, finde ich.

    Absolut! Es ist keine These sondern zuerst eine banale Hörerfahrung. Die atonale Musik kann nicht z.B den Eindruck von Freude oder Optimismus vermitteln. Dann kommt eine logische Erklärung : da diese Musik nur aus Dissonanzen besteht, kann sie nur Spannungszustände schaffen. Höchstens kann vielleicht eine Tonfolge ohne Begleitung ein entspanntes Klima produzieren.


    Zudem ist es ja so, daß mit die extremsten, "expressivsten" Klänge, die in tonaler Musik vorkommen, auf ein tonales Zentrum ja auch schon nicht mehr beziehbar sind.


    Die Dissonanz der kleinen Sekunde die überall vorkommen kann - und das seit Jahrhunderten- finde ich extrem expressiv . Es braucht nicht immer das Megaakkord von Beethovens Neunte zu sein! :hello:
    Viele Grüße
    Jacques

  • Absolut! Es ist keine These sondern zuerst eine banale Hörerfahrung. Die atonale Musik kann nicht z.B den Eindruck von Freude oder Optimismus vermitteln. Dann kommt eine logische Erklärung : da diese Musik nur aus Dissonanzen besteht, kann sie nur Spannungszustände schaffen. Höchstens kann vielleicht eine Tonfolge ohne Begleitung ein entspanntes Klima produzieren.

    Meine Hörerfahrung ist, daß etwa "Pli selon pli" von Pierre Boulez ein völlig "entspanntes Klima produzieren" kann. Die Dur-Moll-Tonalität begünstigt sicher den Ausdruck einer bestimmten Art von Subjektivität, die ein Streben und Wünschen ausdrückt. Der expressionistische Schrei erstrebt aber auch nichts, drückt sich dabei aber höchst expressiv aus.


    [...]
    Schöne Grüße
    Holger

  • Meine Hörerfahrung ist, daß etwa "Pli selon pli" von Pierre Boulez ein völlig "entspanntes Klima produzieren" kann. Die Dur-Moll-Tonalität begünstigt sicher den Ausdruck einer bestimmten Art von Subjektivität, die ein Streben und Wünschen ausdrückt. Der expressionistische Schrei erstrebt aber auch nichts, drückt sich dabei aber höchst expressiv aus.


    Genau was ich sagte, lieber Holger, das entspannte Klima entfaltet sich nur wenn keine richtige Begleitung zu hören ist (der asiatische Charakter des Instrumentariums trägt auch dazu bei). In dichten Passagen wird das Klima unruhig,oder es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Freude oder Optimismus habe ich immer noch nicht gespürt! :hello:
    Viele Grüße
    Jacques

  • Genau was ich sagte, lieber Holger, das entspannte Klima entfaltet sich nur wenn keine richtige Begleitung zu hören ist (der asiatische Charakter des Instrumentariums trägt auch dazu bei). In dichten Passagen wird das Klima unruhig,oder es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Freude oder Optimismus habe ich immer noch nicht gespürt!

    "Pli selon Pli" - Falte auf Falte. In Stephane Malllarmes gefaltetem Vorhang verschwindet die Zeit - Zeit wird in der Zeit aufgehoben in einer Präsenz, die keinen Bezug zur Vergangenheit und Gegenwart hat, was zugleich mit einer Auslöschung des Ich verbunden ist. Deswegen kennt eine solche Kunst auch weder Optimismus noch Pessimismus - und auch keine Angst, lieber Jacques. Wo die Zeit zuende ist, heißt es bei Mallarme, gibt es nichts mehr zu erschrecken.


    In Schönbergs Zwölfton-Oper Moses und Aron findet sich (im nicht vertonten 3. Akt) das zentrale Bild der "Wunschlosigkeit der Wüste". Wer vor der Wüste der Atonalität Angst hat oder bei diesen Klängen Angst empfindet, der kann einfach das Wünschen nicht lassen, würde Schönberg hier antworten! ;)


    [...]
    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger


    Wer vor der Wüste der Atonalität Angst hat oder bei diesen Klängen Angst empfindet, der kann einfach das Wünschen nicht lassen, würde Schönberg hier antworten!


    Zum Beispiel die Filmkomponisten die jede Angstszene mit Dissonanzen untermalen. ;)


    Wie Du es weißt gibt es viele tonale Werke die einen Eindruck der Freude vermitteln : Vivaldis Frühling, Mendelssohns Italienische, Anfangschor vom Bachs Weihnachtsoratorium, usw...Könntest Du mir ein Werk der atonalen Musik nennen, das ähnliche Emotionen beim Hörer auslöst ? :hello:
    Viele Grüße
    Jacques

  • Lieber Holger



    Zum Beispiel die Filmkomponisten die jede Angstszene mit Dissonanzen untermalen. ;)


    Wie Du es weißt gibt es viele tonale Werke die einen Eindruck der Freude vermitteln : Vivaldis Frühling, Mendelssohns Italienische, Anfangschor vom Bachs Weihnachtsoratorium, usw...Könntest Du mir ein Werk der atonalen Musik nennen, das ähnliche Emotionen beim Hörer auslöst ? :hello:
    Viele Grüße
    Jacques


    In der Chormusik haben wir die gleiche Entwicklung. In Deutschland beharrt man auf Witten und Donaueschingen, also singt diese Chorwerke nur der Kölner Rundfunkchor, der diese Werke hasst (weiß ich aus einem persönlichen Gespräch mit einer Sängerin). In den skandinavischen Ländern und in England entwickelt man Chorwerke, die nicht einfach sind, aber für gute Chöre singbar (Nystedt, Whitacre, Chilcott, Wilson, alles schon selbst gesungen).
    Bei einem Chorkonzert, etwa 2010 in Dortmund, hatte der Dirigent des Kölner Rundfunkchores, Rupert Huber, seine Sänger aufgefordert, als Zugabe ein Werk ihres Lieblingskomponisten zu singen. Was kam heraus? Stockhausen, Hölzty, Huber, irgendeiner aus dieser Schiene? Nein, es war - Arvo Pärt. Und dieses Stück, was dann kam, haben wir in meinem Vokalensemble auch besser gesungen als der Kölner Rundfunkchor. Also: diese Musik löst nicht nur keine Emotionen aus, sondern vernichtet diese auch in den Chören, die das singen müssen.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • [...]

    Zum Beispiel die Filmkomponisten die jede Angstszene mit Dissonanzen untermalen. ;)


    Wie Du es weißt gibt es viele tonale Werke die einen Eindruck der Freude vermitteln : Vivaldis Frühling, Mendelssohns Italienische, Anfangschor vom Bachs Weihnachtsoratorium, usw...Könntest Du mir ein Werk der atonalen Musik nennen, das ähnliche Emotionen beim Hörer auslöst ?

    Auch Debussys Musik (vom spätromantischen Frühwerk wie "Printemps" mal abgesehen - ein Stück, das ich übrigens sehr liebe!) vermittelt keine Freude im Sinne von Vivaldis Frühling. Sie ist eben nicht mehr romantisch-subjektiv. Was aber nicht heißt, daß sie eine höchst beglückende Erfahrung bedeutet - eine Erfahrung von Schönheit, die vielleicht weit tiefer reicht als subjektive Fröhlichkeit. Vielleicht ist dieses Glück sogar stärker erlebt als alle romantisch-subjektive Freude.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nein, es war - Arvo Pärt. Und dieses Stück, was dann kam, haben wir in meinem Vokalensemble auch besser gesungen als der Kölner Rundfunkchor. Also: diese Musik löst nicht nur keine Emotionen aus, sondern vernichtet diese auch in den Chören, die das singen müssen.


    ?( Ich habe einen japanischen (!) Kollegen, der mir bewegter Stimme erzählte, wie sehr ihn gerade die Musik von Pärt emotional mitnahm. Diese Behauptung finde ich mit Verlaub gesagt absurd.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hier spielt Maurizio Pollini Stockhausens Klavierstück IX, also Zwölftonmusik abstraktester Art, hochemotional - wie man es seinem Gesicht auch ansieht. (Dieses Stück enthält - die Vogelstimmen - deutliche Bezüge zu Stockhausens Lehrer Olivier Messiaen. Sind Messiaens Dissonanzen etwa auch freudlos?)



    Ich habe wohl das letzte Dr. Pingel Posting gestern zu später Stunde - schon etwas müde - mißverstanden. Wenn Chorsänger Stockhausen erst gar nicht singen wollen, dann wohl eher wegen des falschen Klischees, wonach Zwölftonmusik generell unemotional, freudlos und reine Kopfmusik sei. Ich frage mich, ob es da einen Zusammenhang gibt: RT-Gegner beklagen einerseits den Verlust an Schönheit im modernen Theater, haben zugleich aber keinerlei Sensorium für die Schönheit und emotionale Qualität moderner Musik. Beiden gemeinsam ist offenbar ein Antimodernismus und eine von der romantischer Gefühlskultur des 19. Jhd. geprägte Rezeptionshaltung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hochemotional? In meinen Augen wirkt der Pianist angespannt und hochkonzentriert.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

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  • Als Vorschlag für lustige Avantgardemusik würde ich einmal vorschlagen:
    Gerard Pesson - Récréations Françaises
    (siehe youtube)


    Das ist sozusagen aus der Lachenmann-Richtung.
    Passt auch zu Vivaldis Frühling, da es am Beginn zwitschert und zirpt.

  • RT-Gegner beklagen einerseits den Verlust an Schönheit im modernen Theater, haben zugleich aber keinerlei Sensorium für die Schönheit und emotionale Qualität moderner Musik. Beiden gemeinsam ist offenbar ein Antimodernismus und eine von der romantischer Gefühlskultur des 19. Jhd. geprägte Rezeptionshaltung.


    Man muss kein "Antimodernist" sein, um die Idee von der Emanzipation der Töne und das Dogma, dass kein Ton vorkommen darf, bevor die elf anderen dran waren, nicht eben für den hellsten musikalischen Einfall unter der Sonne zu halten.


    Aber um das Klischee zu bedienen: Ich würde die ganze Zwölftonmusik für eine einzige Mozartarie hergeben.


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Man muss kein "Antimodernist" sein, um die Idee von der Emanzipation der Töne und das Dogma, dass kein Ton vorkommen darf, bevor die elf anderen dran waren, nicht eben für den hellsten musikalischen Einfall unter der Sonne zu halten.

    Das Dogma wurde auch nie für Kompositionen nutzbar gemacht, glaube ich.

  • Auch Debussys Musik

    Debussy ist nicht atonal.

    Ich habe einen japanischen (!) Kollegen, der mir bewegter Stimme erzählte, wie sehr ihn gerade die Musik von Pärt emotional mitnahm.


    Kein Wunder, es ist Pseudo-Tonalität, eine Art Avant-Garde für die breite Masse

    Hier spielt Maurizio Pollini Stockhausens Klavierstück IX, also Zwölftonmusik abstraktester Art, hochemotional - wie man es seinem Gesicht auch ansieht.


    Hochemotional heißt nicht freudig

    Als Vorschlag für lustige Avantgardemusik würde ich einmal vorschlagen:
    Gerard Pesson - Récréations Françaises
    (siehe youtube)


    Das ist sozusagen aus der Lachenmann-Richtung.
    Passt auch zu Vivaldis Frühling, da es am Beginn zwitschert und zirpt.


    Komisch oder lustig heißt nicht freudig! Und siehe da, welches Rhythmus hört man dauernd am Anfang? Das Amboß-Rhythmus von Wagner (19. Jahrhundert!). Und wenn wirkliche Dichte kommt (05:50) Angst und Schrecken!
    Viele Grüße
    Jacques

  • Nur nebenbei für Interessierte, weil Debussy angesprochen wurde:


    Debussys Musik ist nicht immer tonal im klassischen Sinne, wenngleich er nicht die Zwölftontechnik anwendete.
    Neulich analysierten wir ein Klavierstück, dass aus dem Material der symmetrischen Ganztonskala besteht (ich kann das Stück bei Interesse herausfinden)
    In jenem Klavierwerk gibt es keine klassische Funktionsharmonik mit Tonika, Dominante, Subdominante, Tonika-Submediant usw. auch kein Befolgen der alten Regeln, wonach Dissonanzen vorbereitet werden sollen und immer aufgelöst werden müssen (Septimen z.B. immer nach "unten")
    sondern man hört eine vieldeutige, ganz dem jeweiligen Eindruck (Impressionismus) verschriebene Harmonik. Es fehlen typisch-tonale Elemente, wie z.B. ein Quartauftakt (Quinte-> Prime) oder typisch tonale einfache Dur- bzw. Mollarpeggien. Ebenso weiss man eigentlich erst nach Ende des Stückes, ob und wo es überhaupt einen Höhepunkt in dem Werk gab. Bei klassischer Literatur ist dieser meistens nach den Regeln des Goldenen Schnitts installiert und auch eindeutig als solcher zu erkennen.


    Bei dem Klavierstück Debussys ist es hingegen wie in der Natur: Man weiss als Beobachter nicht, ob die Wellen im Laufe des Nachmittags noch höher klatschen werden, und eine schöne Lichtstimmung am Meer ist urplötzlich da und verschwindet auch - oder sie verändert sich.
    Dem trägt auch Debussys Harmonik mit einer gewissen Mehrdeutigkeit Rechnung. Er hat natürlich auf tonale Sachen geschrieben, wie etwa die "Petite Suite" für Klavier vierhändig. Manches hingegen möchte ich eher als modal bezeichnen, im Sinne des Ausnutzens des Materials einer Ganztonstkala, bzw. auch schon als freitonal.
    Atonal wäre hier jedoch ein irreführender Ausdruck für das Nicht-Tonale bei Debussys Musik. Zum Glück schreiben die guten Komponisten nicht so, dass man sie immer so leicht in irgendeine Schublade wegstecken kann. Debussy war m.E. nicht ein typischer Regelbefolger sondern ein genialischer Ausprobierer, vor allem in Sachen Harmonik und Satz, auch Figuren (im Orchester, siehe "La Mer")


    Ich schiebe das nur mal eben ein, weil ich die Sachen von Debussy oft gerne mag.
    [...]



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Komisch oder lustig heißt nicht freudig! Und siehe da, welches Rhythmus hört man dauernd am Anfang? Das Amboß-Rhythmus von Wagner (19. Jahrhundert!). Und wenn wirkliche Dichte kommt (05:50) Angst und Schrecken!

    Es sind ja mehrere kurze Stücke - insofern lasse ich mal das erste als Kandidaten aufrecht.
    ;)
    Nun etwas serialistisches Urgestein:
    Karel Goeyvaerts: Komposition n. 5 (1953)
    (auch auf youtube zu finden)
    Fröhliches elektronisches Tuten. Würde man heute mit Säuglingen assoziieren.
    Optimistisch war damals dabei zumindest die Fortschrittsgläubigkeit der Reihen-Techniker.
    Ich mag das Stück sehr.

  • Dass atonale Musik tendenziell die Schattenseiten der Emotionalität bevorzugt, will ich nicht in Abrede stellen.
    Anton Webern charakterisierte die Orchesterstücke op. 6 folgendermaßen:

    Zitat

    Um den Charakter der Stücke – sie sind rein lyrischer Natur – kurz zu beschreiben: das erste drückt die Erwartung eines Unheils aus, das zweite die Gewissheit von dessen Erfüllung; das dritte die zarteste Gegensätzlichkeit; es ist gewissermaßen die Einleitung zum vierten, einem Trauermarsche; fünf und sechs sind ein Epilog: Erinnerung und Ergebung.

    Also 4x Trauer/Verzweiflung, einmal "Ergebung", einmal ein kontrastierendes Aufatmen.


    Andererseits geht es auch oft "abstrakt" zu. Musik nicht als Ausdrucksmittel sondern als etwas, das man betrachten möge wie einen verwitterten Stein, besonders prominent wäre hier Iannis Xenakis. Verwandt ist dann die meditative Richtung, "Musik der Stille", mit Morton Feldman als Galionsfigur. Beides könnte man mit einer Spiritualität in Verbindung bringen, die sich von Konfessionen gelöst hat. Die Figur mit der stärksten Strahlkraft ist John Cage.


    Musikalischen Ausdruck des Optimismus zu finden, tue ich mich auch schwer. Andererseits kann tonale Musik nicht so gut Katastrophe und Entsetzen. Oder?

  • Man sollte jedenfalls unterscheiden:
    1) Musikrichtung X kann/will "keine Emotionen ausdrücken"
    2) Musikrichtung X kann bestimmte Emotionen weniger gut ausdrücken (oder will das gar nicht).


    Es ist dann immer noch die Frage, ob das beim Hörer auch entsprechend ankommt.
    Es gibt von Stravinsky relativ deutliche Äußerungen (vermutlich allerdings polemisch überspitzt), dass er Musik als Ausdruck von Emotionen abgelehnt habe. Und es gibt jedenfalls eine Reihe von Werken in der Moderne, von Satie bis zum Neoklassizismus Stravinskys und anderer, die sich sehr bewusst gegen die spätromantische Emotionalität wenden, während es bei den Zwölftönern eher die Tendenz zu einer übersteigerten Weiterführung der Sehnsuchts- und Wahnsinns-Emotionen der Spätromantik gibt.


    So ähnlich gibt es auch ziemlich viele Hörer, die Wagners Versuche, Humor oder Komik auszudrücken (Meistersinger, einige Passagen in Siegfried) für ziemlich wenig überzeugend halten. Man würde sich wohl nicht allzuweit aus dem Fenster lehnen, wenn man behauptet, dass Wagners Stil Komik nicht so überzeugend umsetzen kann wie Rossinis. Aber umgekehrt kann Wagner halt andere Dinge unübertroffen ausdrücken. Insofern sehe ich das nicht unbedingt als ein Manko von Wagners Stil


    Die ersten atonalen Werke scheinen mir oft mit extremen emotionalen Zuständen, in der Nachfolge von Wagners Tristan (und Amfortas) verknüpft zu sein. Allerdings auch mit skurril-groteskem Humor in Pierrot Lunaire zum Beispiel.
    Insgesamt habe ich aber einfach nicht genügend Werke im Sinn, um ggf. weitere Beispiele zu finden.


    Man muss sich eben auch ein wenig in einen Stil einhören. Ich kenne zB Hauer nicht gut genug (obwohl ich eine CD habe und auch schon gehört), aber der klingt erheblich entspannter als Berg oder Schönberg, obwohl er sich vorgeblich ähnlicher "atonaler" Techniken bedient. Wenn man mit dem Werk vertraut ist, klingt zB auch der erste Satz der "Lyrischen Suite" Bergs "heiter und entspannt" verglichen mit den hochemotionalen und teils düsteren späteren Sätzen.


    Messiaen klingt für viele Hörer zunächst "atonal", auch wenn religiöse hochoptimistische Emotionen ausgedrückt werden.


    Für viele Hörer klingt Renaissance-Polyphonie "meditativ", egal ob es ein Hallelujah oder eine Lamentatio ist. Das entspricht sicher nicht dem intendierten Ausdruck der jeweiligen Musikstücke.


    Das ist, bei allem Respekt, oft so ähnlich wie wenn für einen Pop/Rock-Hörer alle Klassik klingt "wie Mozart" oder eben auch distanziert und unemotional gegenüber den unmittelbaren Rocksongs, die er kennt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Der priesterähnliche Sonderling Josef Matthias Hauer ist natürlich ein hervorragendes Beispiel für die meditative Richtung, die der Angst- und Schreckensästhetik gegenübersteht. Ähnlich wie später Cage ist er stark von asiatischen Weltanschauungen geprägt.


    Dass die Zwölftöner die "Sehnsuchts- und Wahnsinns-Emotionen" weiterführen wollten, glaube ich nicht ganz. Schönbergs Klaviersuite als erstes vollständig zwölftöniges Werk von ihm ist stark klassizistisch mit seinen Barocksätzen und Adorno verglich es mit den funktionalistischen Stahlrohrmöbeln. Was ist der Gefühlsausdruck von Weberns "Schatzerl klein"-Vertonung?


    Ein Komponist, der recht ähnlich wie Schönberg klingt, ist der amerikanische gleichaltrige Carl Ruggles. Sein Hauptwerk trägt den Namen Sun-Treader, also etwa "Lichtbringer". Man spürt hinter diesen Extasen durchaus eine Art Sendungsbewusstsein, das ich nicht als satanistisch einschätzen würde (um mal an Skriabin zu erinnern). Auch Dane Rudhyars wilde atonale Klaviermusik klingt "wie von der Kanzel deklamiert" (lt. Wikipedia ist er der Begründer der humanistischen Astrologie). Überwältigung, Ergebung - alles nicht so unähnlich dem Anliegen barocker geistlicher Musik.

  • o.k., "Sehnsucht und Wahnsinn" bzw. allgemeiner "emotionale Ausnahmezustände" gilt für ein paar prominente atonale Stücke, allen voran "Erwartung", evtl. auch Wozzeck, Lulu, Lyrische Suite, natürlich nicht für die gesamte Zwölftonmusik und schon gar nicht für die Musik jüngerer Komponisten wie Messiaen, Stockhausen usw.


    Und die spätromantischen Sachen von Schönberg wie Verklärte Nacht oder Gurrelieder gehen eben auch schon in solch eine Richtung hochemotionaler Musik, das deutet darauf hin, dass das mit der Kompositionsweise tonal, frei atonal, zwölftönig nicht direkt korreliert ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe kürzlich die ersten zwei Sätze von Schönbergs Bläserquintett gehört und nun nochmal in den Anfang hinein, um mich zu fragen, welchen Gefühlsausdruck es da gibt.
    Die Bezeichnung ist "schwungvoll", es geht durchaus munter aber auch beschaulich zu, eigentlich verglichen zu der Schreckens- oder Meditationsmusik durchaus "unterhaltend", mal tut sich was (Aufregendes), mal wird es gemütlicher. Wenn ich dazu ein Bild assoziieren müsste, wäre es ein reicher Gebildeter, der in seinem Armlehnstuhl sitzt und durch das Villenfenster in den Garten blickt, vielleicht so etwas wie geistig rege "Zufriedenheitsmusik", auch insofern zu den Stahlrohrmöbeln der 20er passend, als sie das Ideal des sportlich trainierten gesunden Menschen unterstützen, wenn man das Umfeld der Fitnessraumatmosphäre berücksichtigt, in der sie damals zum Teil präsentiert wurden, im Gegensatz zur Plüschästhetik der Absynthsüffler in der Dekadenzzeit.

  • Ihr bewegt die ganze Musikgeschichte, die Entwicklung der Rezeption und die Intentionen der Komponisten. Musik ist aber eine direkte Sprache, die unmittelbarste aller Künste, und Konsonanz und Dissonanz werden sofort ohne historischem Kontext aufgefaßt und lösen bestimmte Gefühle oder Emotionen aus. Deswegen behaupte ich weiter, daß es nicht möglich ist, Freude auszudrücken wenn man, als Komponist, keine Dreiklänge mehr benutzen darf. Es hat nichts mit dem Komponisten zu tun , sondern es hängt direkt und nur von der Musiksprache selbst ab. Ein Klima der Freude kann sich eben nicht entfalten, wo nur Spannungen (= Dissonanzen) sind.
    Bisher konnte mich niemand mit einem Werk überzeugen. Entweder sind die Akkorde nicht dicht genug oder Ihr sprecht von Spannungsunterschieden. Da die Instrumentation eine wichtige Rolle spielt, könnt Ihr vielleicht die Suche auf das Genre des Streichquartetts begrenzen. Erstens weil es die Musik in ihrer reinsten Erscheinung verkörpert , ohne jedes andere Hilfsmittel. Zweitens weil es in der Klassik und Romantik eine Fülle von fröhlichen Sätzen gibt für diese Formation. Ich habe nie behauptet, daß die Neue Musik nicht expressiv sei, sondern lediglich, daß es ihr eine wichtige Art des Ausdrucks fehlt, nämlich die der Freude. Die tonale Musik konnte dagegen alles ausdrücken, sogar Angst und Schrecken.
    Viele Grüße
    Jacques

  • Man muss kein "Antimodernist" sein, um die Idee von der Emanzipation der Töne und das Dogma, dass kein Ton vorkommen darf, bevor die elf anderen dran waren, nicht eben für den hellsten musikalischen Einfall unter der Sonne zu halten.

    Nach diesen Maßstäben ist die grammatische Vorschrift, dass ein Urteils-Satz von der Form S ist p nicht mehr als ein Satzsubjekt haben darf, auch nicht der hellste Einfall der Welt. Zu jeder Sprache gehört, dass es ein grammatisches Regelwerk gibt, das Grenzen setzt. Aber niemand kommt doch wohl auf die Idee, die Leistungs- und Ausdrucksfähigkeit einer Sprache allein und ausschließlich nach der Engmaschigkeit ihrer grammatischen Vorschriften zu beurteilen.


    Musik ist aber eine direkte Sprache, die unmittelbarste aller Künste, und Konsonanz und Dissonanz werden sofort ohne historischem Kontext aufgefaßt und lösen bestimmte Gefühle oder Emotionen aus. Deswegen behaupte ich weiter, daß es nicht möglich ist, Freude auszudrücken wenn man, als Komponist, keine Dreiklänge mehr benutzen darf. Es hat nichts mit dem Komponisten zu tun , sondern es hängt direkt und nur von der Musiksprache selbst ab. Ein Klima der Freude kann sich eben nicht entfalten, wo nur Spannungen (= Dissonanzen) sind.

    Von Rousseau gibt es die schöne Bemerkung, dass es Melodien gibt, die nur Italiener verstehen. Und Eduard Hanslick bestreitet ganz generell, daß es zwischen der Harmonik eines Tonstücks und einem "Gefühl", das sie auslöst, irgendeinen notwendigen und gesetzlichen Zusammenhang gibt. Die Zuordnung hält er für subjektiv und absolut beliebig. In der Musikpsychologie wird diese Problematik bis heute heiß diskutiert und ist ziemlich dubios geblieben. Darauf sollte man sich also nicht unbediingt verlassen. Ich würde sagen, dass die Musik eine Sprache ist und wie bei einer Sprache muß man sowohl die Grammatik als auch die Semantik "lesen" können, um sie zu verstehen. Sonst ist sie halt wie eine Fremdsprache, wo wir nur noch Lautfolgen hören ohne Sinn. Und da liegt es nahe: Für wen die Zwölftonmusik eine Fremdsprache bleibt, der wird ihren Ausdruck und ihre Wirkung auch nicht richtig deuten können. Und ein konsonanter Dreiklang ist so ziemlich die langweiligste Sache der Welt. Die Dissonanzen bringen die Würze in die Musik - und dazu gehört auch die freudige Erregung, sie ist von höchster Spannung und Anspannung.


    Ich glaube, lieber Jacques, Du erliegst hier einer perspektivischen Täuschung. Die Zwölftonmusik entstand in einer Zeit, wo man diese "Jubel"-Finals von Symphonien nach dem Per aspera ad astra (durch Dunkel zum Licht)-Schema als abgenutzt, hohl und uneigentlich affirmativ empfand. Man hat sie deshalb gemieden und durch einen reflektierteren, gebrocheneren Ausdruck ersetzt. Mit der Methode mit zwölf Tönen zu komponieren hat das an sich nichts zu tun. Gerade Wagner (Tristan) ist selbst im Überschwang höchst "gebrochen". Bei Wagner ist die permanent und unersättlich sich steigernde Erregung wichtiger als das kurze erfüllende Glück der Freude - auch hier überwiegt die Dissonanz.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bisher konnte mich niemand mit einem Werk überzeugen. Entweder sind die Akkorde nicht dicht genug oder Ihr sprecht von Spannungsunterschieden.

    Vielleicht hörst Du Dir doch einmal Schönbergs Bläserquintett an. Dort geht es mE überhaupt nicht um harmonische Spannungen, obwohl es ständig sehr dicht gearbeitet ist. Der dissonante Klang ist omnipräsent und hat daher keine Spannungsaufladung mehr. Dabei ist die Reihe so konzipiert, dass ständig Ausschnitte aus Ganztonleitern kommen und dass manchmal ganz deutlich vierstimmige Quartenakkorde auftauchen (siehe erste Kammersymphonie). Wenn ich den Beginn etwa als "lyrisch" bezeichnen würde, wäre das Scherzando durchaus "anmutig und heiter" - das ist übrigens auch die Satzbezeichnung.
    Man kann das ganze Werk auf der Seite des Schönberg-Centers anhören:
    http://www.schoenberg.at/index…id=195&Itemid=371&lang=de
    Ich finde den Ausdrucksbereich eigentlich sehr ähnlich denjenigen von Haydns Streichquartetten.

  • Für wen die Zwölftonmusik eine Fremdsprache bleibt, der wird ihren Ausdruck und ihre Wirkung auch nicht richtig deuten können.

    Das ist wohl so. Und bei Mozart ist es genauso: Ich kenne eine Person, die den Kopfsatz von KV310 lustig fand. Ich fand das immer todtraurig. Und jetzt halte ich Schönbergs Bläserquintett für ein fröhliches Stück und Jacques hört da nur Katastrophen. Wir empfinden den Klang eines Streichquartetts als angenehm harmonisch, der Popmusikhörer als schrill und geräuschhaft.

  • Konsonanz und Dissonanz werden sofort ohne historischem Kontext aufgefaßt und lösen bestimmte Gefühle oder Emotionen aus.

    Das ist dann aber eher das Problem eines Hörers, der zu stark von der klassisch-romantischen Tradition geprägt ist und daher auf Konsonanz und Dissonanz anderer Epochen falsch reagiert. Die Musik zur Zeit der Gotik wird auf die Art auch ziemlich falsch rüberkommen. Man muss sich eben einhören. Auch der "Power-Chord" der Rockmusik ist keine entspannte Quint.

  • Gut, daß wir im Tamino-Forum zwei » Experten » haben, die die Neue Musik verstehen !

    Ich nehme doch an und hoffe, daß wir da noch etliche andere "Experten" haben. :) Kurzstückmeisters Beispiel des Bläserquintetts von Schönberg ist doch sehr instruktiv, finde ich. Zwölftonmusik als humoristischer Klassizismus. Der Ausdruck ist freilich nicht mehr romantisch-subjektiv. Aber das ist er bei Strawinsky auch nicht mehr.


    Schöne Grüße
    Holger

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