Dominiert die Instrumentalmusik die Musik des 20. Jahrhunderts?

  • Im Hindemiththread stellte sich die Frage nach dem Verhältnis der Bedeutung von Instrumental- und Vokalmusik im 20. Jahrhundert:
    Paul Hindemith - Der bedeutendste deutsche Komponist des 20. Jahrhunderts - V.1 - Allgemeine Betrachtungen
    Folgendes ausführlichere Statement möge eine neue Diskussion eröffnen:

  • Fangen wir mal mit Berg an, bei dem in meinen Augen die Vokalmusik die größere Bedeutung hat:


    op. 2 - 4 Lieder
    op. 4 - Orchesterlieder nach Altenberg
    op. 7 - Wozzeck
    Schließe mir die Augen beide
    Der Wein
    Lulu


    op. 1 - Klaviersonate
    op. 3 - Streichquartett
    op. 5 - 4 Stücke für Klarinette und Klavier
    op. 6 - 3 Orchesterstücke
    Kammerkonzert
    Lyrische Suite
    Violinkonzert


    Das ist zwar zahlenmäßig ausgeglichen, aber für mich ist die Vokalmusik gewichtiger.
    Wenn man das Hauptwerk küren müsste, wäre es der Wozzeck.
    Lulu, Violinkonzert und Lyrische Suite mögen etwa gleichauf als weitere Hauptwerke gelten.
    Aber kann man dann "1 zu 2" zählen in Anbetracht der Dimensionen und des Reichtums der Musik und der Formen in den Opern?

  • Wegen der Übersichtlichkeit des Oevres nun Webern.


    Op. 2, Entflieht auf leichten Kähnen (1908), Gemischter Chor (A Cappella), Text: Stefan George
    Op. 3, Fünf Lieder aus Der Siebente Ring (1908–1909), Gesang und Klavier, Text: Stefan George
    Op. 4, Fünf Lieder zu Gedichten von Stefan George (1908–1909)
    Op. 8, Zwei Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke (1910)
    Op. 12, Vier Lieder für Gesang und Klavier (1915–17)
    Op. 13, Vier Lieder für Gesang und Orchester (1914–18)
    Op. 14, Sechs Lieder nach Gedichten von Georg Trakl (1917–21), Gesang und Kammerensemble
    Op. 15, Fünf geistliche Lieder (1917–22), Gesang und Kammerensemble
    Op. 16, Fünf Canons nach lateinischen Texten (1924), Gesang und Kammerensemble
    Op. 17, Drei Volkstexte (1924), Gesang und Kammerensemble
    Op. 18, Drei Lieder (1925), Gesang und Kammerensemble
    Op. 19, Zwei Lieder (1926), gemischter Chor und Kammerensemble, Text: („Chinesische-Deutsche Jahres- und Tageszeiten“), Zyklus – J. W. v. Goethe
    Op. 23, Drei Lieder aus „viae inviae“ (1934), Gesang und Klavier
    Op. 25, Drei Lieder nach Gedichten von Hildegard Jone (1934), Gesang und Klavier, Text: „Die Freunde“ Zyklus – Hildegard Jone
    Op. 26, Das Augenlicht („Durch unsre offnen Augen“) (1935), gemischter Chor und Orchester, Text: „viae inviae“ – Hildegard Jone
    Op. 29, Erste Kantate (1938–1940), Sopran Solo, gemischter Chor und Orchester
    Op. 31, Zweite Kantate (1943), Sopran Solo, Bass Solo, gemischter Chor und Orchester


    Op. 1, Passacaglia für Orchester (1908)
    Op. 5, Fünf Sätze für Streichquartett (1909)
    Op. 6, Sechs Stücke für großes Orchester (1909)
    Op. 7, Vier Stücke für Geige und Klavier (1910)
    Op. 9, Sechs Bagatellen für Streichquartett (1911)
    Op. 10, Fünf Stücke für Orchester (1911)
    Op. 11, Drei kleine Stücke für Violoncello und Klavier (1914)
    Op. 20, Streichtrio (1926–1927), in zwei Sätzen
    Op. 21, Symphonie (1927–1928), in zwei Sätzen
    Op. 22, Quartett (1928–1930), Geige, Klarinette, Tenorsaxophon, Klavier, in zwei Sätzen
    Op. 24, Konzert (1931–1934), Kammerensemble, in drei Sätzen
    Op. 27, Variationen für Klavier (1935–1936), in drei Sätzen
    Op. 28, Streichquartett (1936–1938), in drei Sätzen
    Op. 30, Variationen für Orchester (1940), in einem Satz


    Hier ist das Vokalwerk zahlenmäßig etwas stärker, die berühmtesten Stücke sind aber eher die instrumentalen, wie die Bagatellen.

  • Die Instrumentalmusik dominiert im 20. Jahrhundert ganz klar - vor allem im Bewusstsein der Menschen. "Wozzeck" ist gemäß der Statistik auf operabase.com, die am häufigsten gespielte Oper der Moderne (55 x auf die Bühne gebracht) und landet auf Platz 68 in der Gesamtzählung. Zum Vergleich die Traviata: 553 x. Die Lady Macbeth von Schostakowitsch kommt auf Platz 96 mit 40 x.


    Ich glaube zumindest was "Beliebtheit" angeht, ist somit alles klar.

  • ?(
    Klar ist gar nichts.
    Dass frühere Jahrhunderte eigentlich fast nur Vokalmusik bieten (vor der Renaissance) spielt ja hier keine Rolle.


    ?( Renaissance? Es geht hier einmal nur um Opern, wohl die wichtigste Gattung der Vokalmusik, und da steht die Moderne verhältnismäßig viel schlechter da als im Instrumentalbereich.

  • Zitat

    Im Hindemiththread stellte sich die Frage nach dem Verhältnis der Bedeutung von Instrumental- und Vokalmusik im 20. Jahrhundert:


    Ich behaupte, die Vokalmsuik der Moderne ist den Menschen weniger wichtig als die Instrumentalmusik der Moderne. Die Aufführungszahlen der Opern untermauern das. Was ist daran schwer zu verstehen?

  • Dem kann ich bei Berg gerne zustimmen. Es gab vermutlich auch nach wie vor das Bestreben vieler Komponisten, eine "große Oper" als gewichtiges Werk zu schaffen (Extremfall Stockhausen mit "Licht").
    Gleichzeitig gibt es einige sehr wichtige Stücke unkonventioneller Form, die nur schlecht in traditionelle Kategorien passen: Pierrot Lunaire und Geschichte vom Soldaten als eine Art Bühnenwerke mit Sprechgesang bzw. Rezitation, Erwartung als eine Art einzelne Opernszene, Gesang in Schönbergs 2. Streichquartett.


    Vermutlich ist das auch keine systematische Dominanz, auch wenn man m.E. kaum bestreiten kann, dass die Oper überhaupt im 20. Jhd. nicht mehr den Stellenwert hatte wie im 18. und 19. und das Oratorium schon gar nicht. Bei Liedern und kleineren Formen sieht es wohl anders aus. Die oben skizzierte Dominanz des Instrumentalen bei Bartok, Strawinsky, Schönberg, Schostakowitsch würde ich aber weiterhin verteidigen wollen.


    Wenn man sich den deutsch-österreichischen Hauptstrang von Vorklassik bis Spätromantik ansieht, könnte man auch den Eindruck erhalten, dass Opern (und teils auch andere Vokalmusik) insgesamt randständig sind: CPE Bach, Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Reger haben keine, wenige oder wenig erfolgreiche Opern komponiert (allerdings teilweise gewichtige andere Vokalmusik).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich behaupte, die Vokalmsuik der Moderne ist den Menschen weniger wichtig als die Instrumentalmusik der Moderne. Die Aufführungszahlen der Opern untermauern das. Was ist daran schwer zu verstehen?

    Ah, OK, aber bezüglich Beliebtheit ist natürlich Orff 10.000x so wichtig wie Webern, und zwar genau mit einem (Vokal-)Werk.

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  • Wenn man Vokalmusik jenseits der Oper betrachtet, was wären relevante und/oder populäre Werke? Es gibt ein paar, aber m.E. nicht allzu viele, so bedeutend etwa Lieder der 2. Wiener Schule oder auch von Schoeck, Krenek u.a. in der entsprechenden Nische gesehen werden.


    Orff: Carmina Burana (weitere Carmina u.ä. Werke dieses Komponisten fristen ein Nischendasein)
    Schönberg: Ein Überlebender aus Warschau: Kurz, beeindruckend und historisch relevant, aber auch ein zentrales Vokalwerk?
    Britten: War Requiem wäre wohl auch noch ein Kandidat, ebenso Strawinskys Psalmensinfonie


    Die bombastischen Oratorien der Spätromantik und Frühmoderne wie Gurre-Lieder, "Von deutscher Seele", "Buch mit sieben Siegeln" scheinen mir alle randständig und auch eher der Nachromantik zugehörig.


    Es gibt natürlich gar nicht wenig interessante Vokalmusik, sowohl geistlich als auch weltlich. Aber denkt selbst ein Hörer, der viel im 20. Jhd. unterwegs ist, bei Musik dieser Zeit eher an Psalmensinfonie, Cantata profana, Reisetagebuch aus den österreichischen Alpen usw. als an Instrumentalmusik?

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  • Bei Britten und Schönberg sehe ich die Vokalmusik schon als sehr bedeutenden Anteil des Werks an. Bei Britten auch die Opern und bei Schönberg neben dem Überlebendem aus Warschau auch Moses und Aron und Pierrot Lunaire. Vor allem letzterer ist ein Schlüsselwerk. Bei Strawinsky, Bartók, Ravel, Schostakowitsch, Prokofjew, etc.. sind Vokalwerke weniger zentral (natürlich nicht ohne Bedeutung).

  • "Ich behaupte, die Vokalmsuik der Moderne ist den Menschen weniger wichtig als die Instrumentalmusik der Moderne."


    Und ich behaupte, die Vokalmusik des 20. Jahrhunderts ist den meisten Menschen weit wichtiger als die Instrumentalmusik der Moderne.
    Weder die Oper noch das Kunstlied haben aufgehört zu existieren. Vokalmusik scheint mir für bestimmte musikalische Entwicklungen weg von der traditionellen Tonalität sperriger zu sein als reine Instrumentalmusik, weshalb die Instrumentalmusik für einige Kenner und Experten spannender sein mag, aber vielleicht stürzt sich gerade deshalb der überwiegende Teil der Menschen viel lieber auf Vokalmusik, ist die "Carmina burana" vielleicht gerade deshalb so populär.


    Versuchen wir doch mal für einen Moment die strikte Trennung zwischen U- und E-Musik aufzugeben: Die Arbeitermusikbewegung lebte musikalisch primär von den seinerzeit ungeheuer populären Arbeiterkampfliedern als einer Spezialform des bis weit ins 20. Jahrhundert äußerst populären Volksliedes, darunter Arbeits- und Wanderlieder, geistliche Lieder, wie Spirituals und und und. Bis zu den 1960er Jahren sang fast jeder, nur die wenigsten spielten selbst ein Instrument.


    Und wie ist es bei den reinen Musikhörern? Die meisten hören Schlager oder Pop-Hits, die wenigsten reine Instrumentalmusik. Die Erben eines Phänomens wie Mozart waren viel eher die Beatles als irgendein klassischer Komponist mit Schwerpunkt Instrumentalmusik (den ein Mozart so einseitig ja auch nicht hatte).


    In dem Moment, wo sich die E-Musik deutlich von der U-Musik unterscheiden wollte (bei Verdi gibt es diese deutliche Trennung noch nicht), erreichte sie einen immer kleineren Hörerkreis. Mein spezialisierte sich zunehmend auf die Instrumentalmusik und überließ das Theater immer mehr den Operettenkomponisten (von denen es musikalisch großartige gibt, aber natürlich nicht nur) und das Feld des Liedes immer mehr dem Pop-Schlager. Andererseits behaupte ich, dass gerade die E-Vokalmusik des 20. Jahrhunderts die E-Musik des 20. Jahrhunderts vor der völligen Sackgasse und Isolation bewahrt hat. Sonst wäre man vielleicht nur noch bei Musik für Kammermusikensembles angekommen, die dennoch mehr Musizierende als Zuhörer haben. Aber schon wer für Chöre schreibt, muss anders komponieren als für kleine Instrumentalensembles mit lauter Spezialisten.


    Das sind so meine Gedanken zu diesem Thema, die man natürlich nicht teilen muss, die mich aber zu dem Ergebnis kommen lassen, dass die Vokalmusik des 20. Jahrhunderts mindestens ebenso wichtig ist wie die Instrumentalmusik des 20. Jahrhunderts.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Das sind so meine Gedanken zu diesem Thema, die man natürlich nicht teilen muss


    Da bin ich ja beruhigt! ;) Mir geht es hier jedenfalls nur um die "klassische" Musik, also die Kunstmusik des europäischen bzw. amerikanischen Kulturkreises. Die Carmina burana gestehe ich Dir gerne zu, halte Dir aber dafür den Sacre von Strawinsky, den Bolero von Ravel, den Säbeltanz von Chatschaturjan, die Jazz-Suiten von Schostakowitsch und Romeo und Julia von Prokofjew entgegen. Mit ein, zwei Minuten Nachdenkzeit fallen mir sicherlich noch mehr Hits aus der Instrumentalmusik des 20. Jahrhunderts ein.

  • ES ist natürlich eine Frage der Betrachtung. Eigentlich wurde - von Paris des 18. und 19 Jahrhunderts abgesehen - die Intrumentalmusik immer über die Volkalmusik gestellt. Natürlich muß man hier differenzieren: Welche Werke sind beim Publikum beliebt, welche haben die Zeit überdauert, welche sind musikhistorisch relevant.


    Kehren wir zurück ins 20. Jahrhunder. Wenn man den Harenberg Opernführer kurz überfliegt, dann gibt es jede Menge Opern im 20. Jahrhundert - mit der kleinen Einschränkung vielleicht, daß sie zumeist kurz nach der Uraufführung des Auftragswerkes in der Versenkung verschwanden. Denn kürzere zeitgenössische Instrumentalwerke kann man in ein bestehendes Konzertprogramm einschwindeln, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen - Der Konzertbesucher begibt sich dann beispielsweise in der Pause ans Buffet - und von dort geradewegs nach hause. Ist das Stück sehr kurz nimmt man es in Kauf und applaudiert aus Freude das das Stück so kurz war - lächelnd. Im Falle der Oper ist das jedoch anders - Sie ist in der Regel abendfüllend - aber zumeist nicht kassenfüllend, da viele Opernbesucher zeitgenössische Opern boykottieren. Somit finden sich Komponisten oft nur bereit eine neue Oper zu schreiben wenn ein konkreter gut dotierter Auftrag winkt. Feindlich gegenüber zeitgenössischen Opern sind jedoch auch die Sänger. Eine Strasdivari - für extreme moderne Kompositionen mißbraucht - kann sich nicht wehren - ein Sänger in der Regel schon .....
    So gesehen muß man in Titel gestellte Frage durchaus mit JA beantworten....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Mir geht es hier jedenfalls nur um die "klassische" Musik, also die Kunstmusik des europäischen bzw. amerikanischen Kulturkreises.

    Ich weiß! ;)


    Wobei Weill und Eisler im "amerikanischen Kulturkreis" immerhin eine Rolle spielten! ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Eigentlich wurde - von Paris des 18. und 19 Jahrhunderts abgesehen - die Intrumentalmusik immer über die Volkalmusik gestellt.

    Eine erstaunliche Feststellung! Was ist mit Italien??? Was ist mit dem England zur Zeit Händels? Was ist mit Zeiten wie dem Mittelalter, wo es kaum eine eigenständige Instrumentalmusik gab?

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Feindlich gegenüber zeitgenössischen Opern sind jedoch auch die Sänger.

    Auch das ist viel zu pauschal, inzwischen kommt kein Sänger im Studium an zeitgenössischer Musik vorbei, was auch gut so ist. Es gibt auch einige, die sich sehr gerne darauf spezialisieren.


    So gesehen muß man in Titel gestellte Frage durchaus mit JA beantworten....

    Man muss es aber nicht so sehen! :)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Bis Ende des 18. Jhds. dominiert die Vokalmusik.
    Es gibt zwar schon im Barock einen wichtigen Instrumentalmusikstrang von den Orgelmeistern und Virginalisten wie Frescobaldi, Sweelinck, Byrd usw. bis zu JS Bach und auch den Violinvirtuosen wie Corelli, Biber, Tartini usw. aber fast alle "großen" Werke sind Vokalwerke, Opern oder Oratorien (oder was ähnliches: Ode, Anthem, Masque, Serenata etc.). Erst mit den reifen Werken Haydns und Mozarts haben Sinfonien u.a. die "Erhabenheit" erreicht, die vorher nur der ernsten Oper und dem Oratorium zukam. Wie ich oben schon schrieb, kann man aber von dieser Zeit an tatsächlich beim deutsch-österreichischen Mainstream den Eindruck gewinnen, dass Instrumentalmusik dominiert. In der Romantik wird zwar das Lied ((ggf. als Zyklus) zusätzlich wichtig, ebenso aber auch das "kleine/freie" Klavierstück. Und sind Wagners Opern nicht vielleicht Instrumentalmusik, zu der Stimmen ein paar Worte deklamieren? ;)
    Selbstverständlich kann man die Oper des 19. Jhds. nicht ignorieren. Aber der Eindruck, dass die "ernste" Musik und ihr Fortschreiten instrumental dominiert ist, ist wohl nicht völlig falsch, oder?


    Im 20. Jhd. gibt es ohne Zweifel einige Schlüsselwerke mit Vokalmusik: Erwartung, Pierrot Lunaire, Wozzeck, vielleicht auch "Les Noces", später Le Marteau sans Maitre und vermutlich ein paar mehr. Selbst ein elektronisches Stück wie "Gesang der Jünglinge" ist cum grano salis "vokal". Andererseits teile ich nach wie vor wie Felix Meritis den Eindruck, dass die Vokalwerke in der Minderheit sind. Und nicht nur bei Musik, die so avantgardistisch ist, dass der Stimmeneinsatz aus welchen Gründen auch immer schwierig ist (was letztlich keine Hinderung darstellt, Stockhausen, Berio u.a.).
    Es mag ja sein, dass mein Eindruck nach wie vor wegen meiner persönlichen Vorlieben täuscht, aber auch bei vielen "gemäßigt" modernen Komponisten, wie etwa Schostakowitsch dominiert für mich das Instrumentale. Britten ist unter den sehr bekannten die Ausnahme, dann auch Weill.


    Ein Faktor kann freilich auch sein, dass viel weniger Opern sich im Repertoire durchgesetzt haben oder wegen des Aufwandes nur selten produziert werden. Es gibt ja Opern von Holst und Vaughan Williams, nur stehen die meinem Eindruck nach sehr deutlich im Schatten ihrer Instrumentalmusik (um mal zwei nicht der radikalen Avantgarde verdächtige Namen zu nennen.)

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  • Meiner Meinung nach fand im 20. Jhd ganz klar eine Vernischung der klassischen Vokalmusik ein (von Arbeiterliedern etc.. abgesehen), da z.B. das Kunstlied immer mehr vom Amateurniveau auf Professionistenniveau angehoben wurde. Dasselbe gilt im wesentlichen für die Chormusik. Ab dem 20. Jhd ist die Vokalmusik kaum mehr in der breiteren Bevölkerung verankert. Das stimmt teilweise natürlich auch für die Intrumentalmusik, wobei es hier mehr Ausnahmen gibt (vor allem für Klavier).

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  • Selbstverständlich kann man die Oper des 19. Jhds. nicht ignorieren.

    Das ist sehr freundlich, danke! ;)


    Aber der Eindruck, dass die "ernste" Musik und ihr Fortschreiten instrumental dominiert ist, ist wohl nicht völlig falsch, oder?


    Ist nicht völlig falsch, richtig, wobei in Italien noch für die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts das Primat der Stimme in der Oper gilt, selbst wenn das Orchester schon etwas "emanzipierter" wird.


    Aber die entscheidende Frage ist doch: Wie verstehe ich die Rubrikfrage? Als "Dominiert die Instrumentalmusik die E-Musik des 20. Jahrhunderts?" (Diese Frage könnte man vielleicht bejahen, wobei ich dann eher das Wort "Dominiert" durch "Überwiegt" ersetzen würde) oder aber als die Frage, wie formuliert wurde, nämlich: "Dominiert die Instrumentalmusik die Musik des 20. Jahrhunderts?", und da ist meine Antwort, die ich argumentativ auch schon begründet habe, ganz klar: Nein. Ich finde diese strikte Trennung zwischen E- und U-Musik (auch mitgedacht in Richtung wertvolle versus weniger wertvolle Musik) zutiefst problematisch, da eine solche Scheidung gerade Komponisten wie Orff, Weill oder Eisler nicht gerecht wird und auch nicht gerecht werden kann. Letztlich glaube ich, dass diese eigentlich erst am Beginn des 20. Jahrhunderts gedanklich einsetzende strikte Trennung in E- und U-Musik der "klassichen" Musik weit mehr geschadet als genützt hat - sie hat sie vor allem elitär gemacht, und damit für immer weniger Menschen interessant.

    Und sind Wagners Opern nicht vielleicht Instrumentalmusik, zu der Stimmen ein paar Worte deklamieren? ;)

    Ein schönes "Bonmot", aber ich glaube Wagner zeigt gerade besonders deutlich, wie wichtig in der Vokalmusik die immer stärkere Verzahnung von Wort und Ton wurde - in Gegensatz etwa zur Barockoper, wo Arien in Opern (ja noch bei Rossini!) beliebig ausgetauscht und in andere Opern eingesetzt werden konnten.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • op. 1 Zwei Gesänge für eine Baritonstimme und Klavier (1898)
    op. 2 Vier Lieder für eine Singstimme und Klavier (1899)
    op. 3 Sechs Lieder für eine mittlere Singstimme und Klavier (1899–1903)
    Gurre-Lieder (1900–1911). Kantate für Soli, Chor und Orchester.
    op. 6 Acht Lieder für eine Singstimme und Klavier (1903–1905)
    op. 8 Sechs Orchesterlieder (1903–1905)
    op. 10 Zweites Quartett (fis-Moll) für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme (1907–1908)
    op. 12 Zwei Balladen für Gesang und Klavier (1907)
    op. 13 Friede auf Erden für gemischten Chor a cappella (1907)
    op. 14 Zwei Lieder für Gesang und Klavier (1907–1908)
    op. 15 15 Gedichte aus »Das Buch der hängenden Gärten« von Stefan George für eine Singstimme und Klavier (1908–1909)
    op. 17 »Erwartung« Monodram in einem Akt, Dichtung von Marie Pappenheim (1909)
    op. 18 »Die glückliche Hand« Drama mit Musik (1910–1913)
    op. 20 »Herzgewächse« (Maurice Maeterlinck) für hohen Sopran, Celesta, Harmonium und Harfe (1911)
    op. 21 Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds »Pierrot lunaire« (1912) (Deutsch von Otto Erich Hartleben) für eine Sprechstimme, Klavier, Flöte (auch Piccolo), Klarinette (auch Bassklarinette), Geige (auch Bratsche) und Violoncello
    op. 22 Vier Lieder für Gesang und Orchester (1913–1916)
    Die Jakobsleiter (1915–22). Oratorium (Fragment)
    op. 24 Serenade für Klarinette, Bassklarinette, Mandoline, Gitarre, Geige, Bratsche, Violoncell und eine tiefe Männerstimme (4. Satz: Sonett von Petrarca) (1920–1923)
    op. 27 Vier Stücke für gemischten Chor (1925)
    op. 28 Drei Satiren für gemischten Chor (1925–1926)
    op. 32 »Von heute auf morgen« Oper in einem Akt Libretto: Max Blonda [Gertrud Schönberg] (1928–1929)
    op. 35 Sechs Stücke für Männerchor (1929–1930)
    Moses und Aron (1923–1937). Oper in 3 Akten (Fragment)
    op. 39 Kol nidre für Sprecher (Rabbi), gemischten Chor und Orchester (g-Moll) (1938)
    op. 41 Ode to Napoleon Buonaparte (Lord Byron) for String Quartet, Piano and Reciter (1942)
    op. 44 Prelude for Mixed Chorus and Orchestra (zur Genesis Suite, 1945)
    op. 46 A Survivor from Warsaw for Narrator, Men's Chorus and Orchestra (1947)
    op. 48 Drei Lieder für tiefe Stimme (und Klavier) (1933)
    op. 49 Drei Volksliedsätze für gemischten Chor a cappella (1948)
    op. 50A Dreimal tausend Jahre für gemischten Chor a cappella (1949)
    op. 50B Psalm 130 for Mixed Chorus a cappella (six voices) (1950)
    op. 50C Moderner Psalm für Sprecher, gemischten Chor und Orchester (unvollendet) (1950)


    Quartett (D-Dur) für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello (1897)
    op. 4 »Verklärte Nacht« Sextett für 2 Violinen, 2 Violen und 2 Violoncelli (1899)
    op. 5 Pelleas und Melisande (nach dem Drama von Maurice Maeterlinck) Symphonische Dichtung für Orchester (1902–1903)
    op. 7 Quartett (d-Moll) für 2 Violinen, Viola und Violoncello (1904–1905)
    op. 9 & op. 9b Kammersymphonie für fünfzehn Soloinstrumente (großes Orchester) (1906)
    op. 10 Zweites Quartett (fis-Moll) für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme (1907–1908)
    op. 11 Drei Klavierstücke (1909)
    op. 16 Fünf Orchesterstücke in der Originalfassung für großes Orchester (1909, revidiert 1922)
    Drei Stücke für Kammerensemble (1910)
    op. 19 Sechs kleine Klavierstücke (1911)
    Die eiserne Brigade (1916). Marsch für Streichquartett und Klavier
    op. 23 Fünf Klavierstücke (1920–1923)
    op. 24 Serenade für Klarinette, Bassklarinette, Mandoline, Gitarre, Geige, Bratsche, Violoncell und eine tiefe Männerstimme (4. Satz: Sonett von Petrarca) (1920–1923)
    op. 25 Suite für Klavier (1921–1923)
    op. 26 Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott (1923–1924)
    op. 29 Suite für Kleine Klarinette, Klarinette, Bassklarinette, Geige, Bratsche, Violoncello und Klavier (1925–1926)
    op. 30 Drittes Streichquartett (1927)
    op. 31 Variationen für Orchester (1926–1928)
    op. 33a & op. 33b Klavierstücke (1929/1931)
    op. 34 Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe) (1929–1930)
    Suite im alten Stile (G-Dur) für Streichorchester (1934)
    op. 36 Concerto for Violin and Orchestra (1934–1936)
    op. 37 Fourth String Quartet (1936)
    op. 38 & op. 38b Kammersymphonie Nr. 2 (in es-Moll) für kleines Orchester (1906–1939)
    op. 40 Variations on a Recitative for Organ (in D) (1941)
    op. 42 Concerto for Piano and Orchestra (1942)
    op. 43a & op. 43b Theme and Variations for Full Band (Orchestra) (1943)
    op. 45 String Trio (1946)
    op. 47 Phantasy for Violin with Piano Accompaniment (1949)


    Ich habe uneindeutige Werke (opp. 10 und 24) in beiden Gruppen. Zahlenmäßig haben wir wie bei Berg und Webern etwa Gleichstand. Es muss also anhand des "Gewichts" der Hauptwerke entschieden werden.
    Das Hauptwerk wäre mE Pierrot lunaire. Es dominiert aber natürlich nicht so wie der Wozzeck bei Berg.


    Gurre-Lieder, Lieder op. 15, Erwartung, Moses und Aron, Überlebender aus Warschau
    kontra
    Verklärte Nacht, Kammersymphonie, 5 Orchesterstücke, Klavierstücke, Bläserquintett, Streichtrio


    Ich würde sagen: unentschieden.

  • Ab dem 20. Jhd ist die Vokalmusik kaum mehr in der breiteren Bevölkerung verankert.

    Diese Feststellung halte ich nun wirklich für falsch, wenn man daran denkt, dass Singen noch etwas ganz Selbstverständliches war und die Mitgliedschaft in Chören ebenso. Gerade im Gegenteil würde ich behaupten, dass de Vokalmusik im 20. Jahrhundert viel stärker in der breiten Bevölkerung verankert war als die Instrumentalmusik.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Als erstes Kapitel habe ich wegen der übersichtlichen Werklisten die Wiener Schule gewählt.
    (Und weil ich hier anteilsmäßig viel kenne.)
    Die drei "Götter" Schönberg, Webern und Berg haben meines Erachtens ein Werk hinterlassen, in dem sich betreffs Bedeutung Vokal- und Instrumentalmusik die Waage halten.


    Wenn man sich die Liste von Schönbergs Schülern durchsieht, wundert man sich, wen man noch alles dazuzählen könnte - daher belasse ich es mal bei den 3.

  • In der alten rhetorischen, auf Platon zurückgehenden Tradition wurde Musik ja als "Melos", Gesang, d.h. Vokalmusik, definiert. Mit der Romantik vollzog sich dann ein Paradigmenwechsel hin zur Instrumentalmusik - das ist die Idee der "absoluten Musik". Dies hat natürlich auch die Komposition von Vokalmusik nachhaltig beeinflußt, die von daher oft einem symphonischen Ideal folgt. Beispiel: Schönbergs Chorlieder. Die Problematik ist also etwas verwickelter. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Diese Feststellung halte ich nun wirklich für falsch, wenn man daran denkt, dass Singen noch etwas ganz Selbstverständliches war und die Mitgliedschaft in Chören ebenso. Gerade im Gegenteil würde ich behaupten, dass de Vokalmusik im 20. Jahrhundert viel stärker in der breiten Bevölkerung verankert war als die Instrumentalmusik.


    Noch mal: es geht hier um klassische Musik - auch wenn ein paar Komponisten am Rand wie Kálmán und Weill da Federn lassen müssen. Bleiben wir doch zunächst mal bei den zentralen Komponisten des 20. Jhd (und zwar nicht nur für Dich und Deine Hörgewohnheiten zentral, sondern allgemeiner betrachtet).

  • Du betrachtest mit deiner Einengung auf die "klassische" Musik (gerade im 20. Jahrhundert sehr problematisch zu definieren, ist die "Zweite Wiener Schule" wirklich "klassische Musik" oder ist eine Bezeichnung wie "Musikalische Moderne" nicht viel angemessener?) aber nicht "allgemeiner", im Gegenteil! Und von der von dir vorgenommenen Verengung (oder von mir aus "Verallgemeinerung") auf "klassische Musik" ist in der Rubrik-Überschift keine Rede - ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Du betrachtest mit deiner Einengung auf die "klassische" Musik (gerade im 20. Jahrhundert sehr problematisch zu definieren, ist die "Zweite Wiener Schule" wirklich "klassische Musik" oder ist eine Bezeichnung wie "Musikalische Moderne" nicht viel angemessener?) aber nicht "allgemeiner", im Gegenteil! Und von der von dir vorgenommenen Verengung (oder von mir aus "Verallgemeinerung") auf "klassische Musik" ist in der Rubrik-Überschift keine Rede - ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen!


    Vielleicht, aber dieses Forum heißt "Tamino -Das Klassikforum".

  • Es gibt in diesem Forum aber auch Jazz-, Lyrik- und Malerei-Rubriken. Und es gibt auch Musik neben dem, was du als "klassisch" definierst. Du bist nun der Meinung, dass ma diese in dieser Rubrik auslammern kann und soll, ich bin dieser Meinung nicht, und der Rubriktitel besttigt meine Auffassung dazu mindest so sehr wie deine. Ich finde diese E-Musik-Scheuklappen eher verzerrend als hilfreich.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es gibt in diesem Forum aber auch Jazz-, Lyrik- und Malerei-Rubriken. Und es gibt auch Musik neben dem, was du als "klassisch" definierst. Du bist nun der Meinung, dass ma diese in dieser Rubrik auslammern kann und soll, ich bin dieser Meinung nicht, und der Rubriktitel besttigt meine Auffassung dazu mindest so sehr wie deine. Ich finde diese E-Musik-Scheuklappen eher verzerrend als hilfreich.


    Bitten wir doch einfach Threadstarter Kurzstückmeister um ein Statement. Sollen wir Spirituals und Didgeridoo mithineinenhmen oder nicht?

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