Louis Vierne - Organist von Notre-Dame de Paris

  • Hallo!


    Da nun schon vermehrt Beiträge um Vierne im Forum auftauchten, eröffne ich mal einen Louis Vierne-Orgel-Thread. Er hat es (meiner bescheidenen Ansicht nach) verdient. Petemenovas Vierne-Anfrage soll der "Aufhänger" sein (s.u.).


    Zuvor aber kurz zu Person und Künstler:


    Louis Vierne wurde 1870 in Poitiers geboren und litt seit seiner Geburt an einem Grauen Star. Durch eine Operation in seiner Kindheit erhielt er zumindest etwas Sehkraft. Er besuchte das Blindeninstitut und studierte von 1890-98 am Pariser Conservatoire Orgel bei César Franck, Charles-Marie Widor und Alexandre Guilmant. 1984 gewinnt er den 1. Preis für Orgel.
    1892 ernannte ihn Widor zu seinem Stellvertreter an St. Sulpice (Paris). 1900 gewann Vierne den legendären Wettbewerb um die Organistenstelle an der Kathedrale Notre-Dame de Paris.
    Vierne unterrichtete als Assistent von Guilmant am Conservartoire, später auch an der Schola Cantorum. Sein Schülerkreis umfasst namhafte Musiker wie Joseph Bonnet, Marcel Dupré, Maurice Duruflé u.v.a.m.
    Er unternimmt ausgedehnte Konzerttourneen in Europa und den USA.
    Sein Leben ist gezeichnet von zahlreichen schweren Schicksalschlägen, angefangen von seinem unrobusten Gesundheitszustand, seinen Augenkrankheiten, die ihn zu einem mehrjährigen Kuraufenthalt zwangen und letztendlich zu seiner vollständigen Erblindung führten, Geldsorgen und diverse Intrigen und Affairen im Privat- und Berufsleben.
    1937 stirbt er während eines Orgelkonzertes am Spieltisch "seiner" Orgel in Notre-Dame an einer Embolie.


    Weiter Infos unter http://www.louisvierne.net/


    - - -





    Vierne, Louis (1870-1937)
    Orgelsymphonien Nr. 1-6
    Jeremy Filsell / Cavaille-Coll-Orgel St. Ouen Rouen
    Signum
    DDD, 2004


    Zitat

    Original von petemonova
    Karsten: Deine Einschätzung zum Vierne?


    Zum (noch aktuellen) Sonderpreis ist die Aufnahme wirklich ein Schnäppchen.


    Jeremy Filsell spielt technisch sehr souverän und es macht ihm sichtlich Spass, diese Literatur an der berühmten Orgel in St. Ouen, Rouen einzuspielen. Wobei allerdings diese Wahl des legendären Instrumentes wirklich nicht sonderlich "spannend" ist.


    Im Vergleich zu anderen Aufnahmen (und es gibt mittlerweile SEHR viele Aufnahmen von St. Ouen) gefällt mir das Klangbild nicht ganz. Zwar steht im (leider nur englischsprachigen, aber durchaus informativen) Booklet, dass die Mikrofone relativ nahe an den Orgelgehäusen platziert wurden, um die musikalischen Strukturen besser zur Geltung zu bringen, aber für meinen subjektiven Eindruck ist gerade das akustische Einfangen der Orgel anderen Labels (zB MDG) "besser" gelungen. Das ist allerdings nur mein persönlicher Eindruck, der an dem insgesamt sehr positiven Eindruck der Aufnahme nichts ändert.


    Das Booklet (wie schon erwähnt nur in englischer Sprache) enthält neben allgemeinen Abschnitten über Vierne und seine Musik Werkerläuterungen zu den sechs Sinfonien, eine Künsterlbiografie, Standardinfos zur Orgel und Gedanken des Interprten zur vorliegenden Aufnahme.


    Gruß
    Karsten

  • Bemerkenswert, dass der Kerl, Jahrgang 1870 dann im Jahre 1984, also im zarten Alter von hundertvierzehn Jahren, noch Orgelwettbewerbe gewinnen kann.


    Chapeau


    :jubel: :jubel: :jubel:


    :D


    Flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

  • Zitat

    Original von pianoflo
    Bemerkenswert, dass der Kerl, Jahrgang 1870 dann im Jahre 1984, also im zarten Alter von hundertvierzehn Jahren, noch Orgelwettbewerbe gewinnen kann.


    Man muss ja nicht alles glauben und zum Anlaß eines eigenen Beitrags nehmen, was in Internetforen geschrieben steht, selbst wenn es das Tamino-Klassik-Forum ist....
    Wie auch immer: Es muss natürlich 1894 (nicht 1984) heißen, ich bitte vielmals um Vergebung für diesen unzumutbare Zahlendreher ;)


    Übrigens, der Orgelbank, auf der Vierne starb, ist immer noch auf der Empore in Notre-Dame zu sehen...


    Gruß
    Karsten

  • Hallo Karsten,


    danke für die Einschätzung. Bei der nächsten Bestellung ist die Aufnahme sicher mit dabei!


    Von Viernes Lebenslauf bin ich wirklich beeindruckt. Es war ja schon einmal Thema hier im Forum.
    Wieviele Schicksalsschläge man in einem Leben durchmachen kann ist einfach sagenhaft.



    Gruß, Peter.

  • Hallo,


    eine als gelungen zu betrachtende Aufnahme gilt die von Ben van Oosten eingespielte CD.



    van Oosten besitzt das technische Rüstzeug Vierne virtuos darzustellen.



    Grüsse
    reklov29

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.

  • Eine meiner schönsten Orgel-CDs ist eine Aufnahme mit Simon Preston an der Orgel von Westminster Abbey (DG).


    Er spielt darauf das "Carillon de Westminster" von Louis Vierne, das das berühmte Glockengeläut zum Thema nimmt, sowie die bekannte 5. Orgelsinfonie von Widor.
    Fulminanter und weiträumiger Orgelklang mit außergewöhnlich kräftigem Tiefbass.

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

  • Habe schon unter "Neuerscheinungen Orgelmusik" auf diese CD aufmerksam geacht, aber doppelt genäht hält bekanntlich besser:


    Daniel Roth spielt an "seiner" Orgel in St. Sulpice, Paris die zwei ersten Sinfonien von Vierne. Diese CD ist die erste Folge einer geplanten Gesamteinspielung und man darf gesannt sein, wer noch seine Beiträge zu dieser Reihe beisteuern wird und natürlich von wo.


    Die erste Sinfonie Viernes wurde übrigns von eben dieser Orgel in St. Sulpice inspiriert (Vierne war damals dort Assistent seines Lehrers Widor).



    Vierne, Louis (1870-1937)
    Orgelsymphonien Nr. 1 & 2
    Daniel Roth
    / Cavaille-Coll-Orgel Saint-Sulpice Paris
    Sound:stereo & multichannel (Hybrid)
    Aeolus
    1 CD
    DDD


    Top-Interpret, Top-Instrument, Top-Klangqualität - was will man mehr?


    Klangbeispiele gibt's unter http://www.aeolus-music.com/deutsch.htm


    Gruß
    Karsten

  • Ich muss gestehen, dass mich die Klangbeispiele nicht überzeugt haben - wenn man die Orgel original gehört hat, ist es etwas TOTAL anderes.... Schade

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

  • Zitat

    Original von sebastian
    Ich muss gestehen, dass mich die Klangbeispiele nicht überzeugt haben - wenn man die Orgel original gehört hat, ist es etwas TOTAL anderes.... Schade


    Natürlich, das ist doch bei JEDER CD-Aufnahme so. Ich habe jedenfalls noch kein "natürliches" Instrument gehört, das aus der "Retorte" besser klingt als live. ;)


    Gruß
    Karsten

  • Wenn du Ferdinand Moosmann, Leiter der Schramberger Orgelkonzerte hörst, dann geht das bei "seiner" Walcker - man nimmt sie immer sehr hoch im Gewölbe auf, einem Platz, an dem sie wirklich authentisch klingt (wie er meint). Nur: hatte Walcker ein Gerüst, um die Orgel an dieser Stelle abhören zu können? ^^

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

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  • Zitat

    Original von sebastian
    Wenn du Ferdinand Moosmann, Leiter der Schramberger Orgelkonzerte hörst, dann geht das bei "seiner" Walcker - man nimmt sie immer sehr hoch im Gewölbe auf, einem Platz, an dem sie wirklich authentisch klingt (wie er meint). Nur: hatte Walcker ein Gerüst, um die Orgel an dieser Stelle abhören zu können? ^^


    Also nur weil ein Organist glaubt(!), dass gerade seine Orgel von einer bestimmten (ansonsten unzugänglichen) Stelle aufgenommen auf CD (einigermaßen) "authentisch" klinge, lege ich doch noch lange nicht für alle anderen (Orgel-)CDs meine Anspruch dermaßen (unrealistisch) hoch... Ich spiele die CDs ja auch nicht in einem Kirchenraum ab, sondern daheim... ;)


    Viel interessanter wäre es zu erfahren, wieweit dich die Aufnahme künstlerisch/interpretatorisch überzeugt. Das hört man "auch so"...


    Gruß
    Karsten

  • An der Stelle möchte ich mal etwas sagen.


    Ich persönlich halte es für unsinnig Orgelmusik auf CD zu hören.
    Sie wird dem echten Orgelklang nie gerecht.
    Wer schonmal die Vibrationen einer 32" Akustikflöte am eigenen Leib gespürt hat wird wissen was ich meine :D


    Aber zu Vierne.
    Ich muss sagen es macht einen mords Spaß Vierne zu spielen.
    Besonders die Toccata aus den Piece de fantaisie bringt mich jedes mal in einen regelrechten Spielrausch.
    Für mich neben Widor der größte Orgelkomponist der letzten 150 Jahre

  • Diese Frage MUSS jetzt einfach kommen:


    Wie stehst du zu Max Reger? Spielst du seine Werke, wenn ja, welche, wie spielst du sie und wie findest du sie?

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

  • Ich will es mal so ausdrücken.


    Gegenüber Reger habe ich einen großen Respekt was sein Schaffen und seine kompositorischen Fähigkeiten angeht (vorallem was der alles modulieren konnte, Wahnsinn!).
    Aber leider hat er im "falschen" Stil komponiert.
    Ich spiele und höre Reger nicht gerne. Das gleiche gilt für Bach.
    Orgelmusik von Bach macht mir keinen Spaß, es liegt mir einfach nicht, es gefällt mir nicht.

  • Das klingt für mich etwas harsch - er hat im "falschen" Stil komponiert (ebenso wie Bach?!). Daraus schließe ich, dass du den Franzosen (Couperin, Franck, Widor, Tournemire, Messiaen, Hakim etc) wesentlich mehr abgewinnen kannst - stimmt das?
    Und was gefällt dir an Regers Stil nicht?
    Kann es vielleicht sein, dass du durch irgendwelche Aufnahmen "verschreckt" wurdest?

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

  • Es ist nur so:
    Ich kann mich nicht für Kontrapunktik und regersche Harmonik begeistern. Die Musik berührt mich einfach nicht.
    Ich verstehe durchaus die Genialität seiner Werke, aber seine Musik wirkt bei mir nicht.


    Verschreckt durch eine Aufnahme wurde ich nicht.
    Ich besitze die Gesamteinspielung von Rosalinde Haas, außerdem musste ich schon so manches Werk von Reger während meiner Ausbildung spielen.


    Es ist einfach so dass ich die französische Orgelmusik der deutschen vorziehe. Ich fühle mich da einfach eher zu Hause.
    Ich würde fast sagen dass der große Teil der deutschen Orgelmusik (Bach, Buxtehude, Reger, etc pp.) auf mich sehr kalt und "vergeistigt" wirkt.

  • Ok - mit "verschrecken" meinte ich Haas....
    Kann es vielleicht auch noch sein, dass du ein irgendwie "falsches" Klangbild von Bach hast? Denn den auf einer mitteldeutschen oder süddeutschen Orgel gespielt - ich kenne wenig, was mehr leuchtet als das.
    Aber ok - über Geschmack lässt sich nicht streiten

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik


  • Wie ich gerade gesehen habe, wird die Box jetzt von Brilliant vermarktet und kostet nur noch 10 Euro. Erscheinungsdatum bei jpc ist der 22.06. und bei dem Preis sollte man dann erst recht zuschlagen...



    Gruß, Peter.

  • Hallo,


    ich möchte anmerken, daß die Aufnahmen von Viernes Orgelwerken mit Pierre Cochereau an der Orgel in Notre Dame just auf CD wiederveröffentlicht wurden.


    http://www.jpc.de/jpcng/classi…71183/rk/home/rsk/hitlist


    Das Instrument erscheint mir geeigneter, als das in der Kirche St. Ouen (Rouen). Letzteres stammt zwar auch von Cavaillé-Coll, ist aber m.W. nur ein Umbau eines älteren Instrumentes, in dessen Disposition mir u.a. die Zungenpfeiffen zu wenig repräsentiert erscheinen (oder die Organisten der Tonaufnahmen, die ich kenne, haben sie nie benutzt? - die Disposition müßte ich nochmal nachsehen).
    Zudem scheint die Hallbalance in St. Ouen ein Problem, bei vielen Tonaufnahmen geht das Instrument m.E. geradezu im Hall unter, eine nähere Mikrofonierung, als dies z.B. bei MD&G üblich ist, erschiene mir daher sehr erstrebenswert. So erlebe ich Aufnahmen aus St. Ouen regelmäßig als zu wenig transparent, zu weich und zu hallig. Die für diese Art von Musik m.E. wichtige Phrasierung geht ebenfalls oft im Hall unter.


    Allerdings war auch die Orgel in Notre Dame zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht mehr im Zustand wie unter Vierne, es sind einige scharfe Mixturen hinzugekommen, die Cochereau nach meinem Höreindruck auch nutzt (was mir bei aller Wertschätzung etwas fragwürdig und nicht immer angenehm erscheint).Das Klangbild ist allerdings direkter und transparenter als das aus St. Ouen, obwohl Notre Dame ebenfalls recht viel Nachhall hat.


    Für mich, der quasi mit Manfred Brandstetters (Marktkirche Hannover) Spiel großgeworden ist, hat Cochereau natürlich etwas gewohntes, denn Brandstetter hat nach eigener Aussage viel von Cochereau abgeschaut.


    Gruß


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Hallo!


    Ja, Cochereaus Aufnahmen, immer wieder interessant anzuhören, besonders seine Impros. Allerdings so richtig "Spass" machen bzw. interessant sind seine Literatureinspielungen erst, wann man das jeweilige Stück entweder selber oder durch etwas weniger "extravagante" Aufnahmen kennengelernt hat.


    Was die Klangbalance von Orgelaufnahmen angeht, da gibt es so viele Ansichten und Meinungen - im Endeffekt kann man es als Toningenieur niemanden Recht machen. Interessanterweise sind ja gerade die neuen Möglichkeiten mit SACD , 5.1 etc. gerade für Orgelaufnahmen ideal. Leider werden sie nicht immer ausgenutzt...


    Was aber die Aufnahmen in Notre-Dame angeht, so ist man sich da so ziemlich einig, dass diese Aufnahmen rein klang- und aufnahmetechnisch zu den schlechtesten Orgelaufnahmen auf dem Markt gehören. Das liegt einmal an der "Hardware", also den Mikrophonen und deren Positionierung und zum anderen an der umgebauten Orgel an sich.
    Für die Aufnahmen wurden die Mikrophone verwendet, die auch sonst ständig vor der Orgel positioniert waren um all die Gottesdienst-Improvisationen, Konzerte oder ähnliches (auch ad hoc) aufzunehmen. Diese Mikros waren sehr direkt vor der Orgel positioniert, die legendären Cochereau-Chamaden "plärrten" direkt in sie hinein. Dementsprechend ist auch insbesondere das Tutti der Orgel alles andere als ausgewogen. Man hört die donnernden 32-Fuss-Zungen und die obertonreichen Chamaden. Sonst nix. Dass es dann gelegentlich zu Übersteuerungen kommt, ist eine andere Sache.


    Zu Rouen:
    Dass diese Orgel für Vierne "weniger geeignet" sein soll als die Orgel in Notre-Dame-de-Paris höre ioch zumersten mal. Einhellige Meinung bei Organisten ist, dass die Orgel in Rouen aufgrund ihrer Klangschönheit und zudem unverändertem Zustand für Orgelmusik der französischen Romantik bis Moderne (Franck, Guilmant, Widor, Vierne, Torunemire, Messiaen...) allererste Wahl ist und es als besondere Ehre und Auszeichnung gilt, dort mal CDs aufzunehmen. Die Diskografie der Orgel allein spricht für sich.


    Im übrigen sei angemerkt, dass Cavaillé-Coll so oft es irgend ging, bei Neubauprojekten qualitativ gutes altes Pfeifenmaterial wiederverwendete. Dies tat er nicht nur aus Kostengründen (er war so oder so nicht der billigste Orgelbauer), sondern auch aus Respekt vor der Tradition, auf die er ja aufbaute. Nicht nur in Rouen, sondern vor allem in St. Sulpice und auch Notre-Dame de Paris verwendete er alte Register wieder. In Notre Dame zB vonThierry (1733) und Clicquot (1788). So ist es zB in St.Sulpcie möglich, eine französische Barocksuite (z.B. von Couperin, d'Aaquin etc.) ausschließlich mit originalen Registern diese Zeit zu spielen.


    Desweiteren ist anzumerken, dass die Orgelmusik gerade der französischen Kathedralorganisten mit entsprechend halliger Akustik rechnen und die Musik für solche Räume geschrieben wurde. Wie schon erwähnt: das ist dann auf einer Aufnahme schwer zu realisieren und man kann es niemanden recht machen.


    Bisher hatte ich die Erfahrung gemacht, dass MD&G jedenfalls nicht die schlechtesten Aufnahmen in Rouene auf den Markt gebracht hat...


    Gruß
    Karsten

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  • Hallo Karsten,


    über die Hallbalance von Orgelaufnahmen kann man sicher lange und ergebnisoffen diskutieren, hier vermischen sich die (oft historisch bedingten) Anforderungen des jeweiligen Genres, die ästhetischen Vorstellungen des Orgelbauers (der seine Orgel ja auch für den gegebenen Raum konzipiert hat), des Organisten und des Tontechnikers.
    Über die Aufnahmen von MD&G aus Rouen ist meine persönliche Meinung: Zuviel Hall und daher zuwenig Musik.


    Zitat

    Einhellige Meinung bei Organisten ist, dass die Orgel in Rouen aufgrund ihrer Klangschönheit und zudem unverändertem Zustand für Orgelmusik der französischen Romantik bis Moderne (Franck, Guilmant, Widor, Vierne, Torunemire, Messiaen...) allererste Wahl ist


    Diese Auffassung kenne ich, schließe mich ihr aber nicht an. Leider ist mir das Instrument nur von Tonaufnahmen her bekannt (es gibt ja geradezu eine Schwemme), aber seine "Klangschönheit" ist m.E. genau sein Problem, welches zu einer gewissen Uniformität führt. Eine große Bandbreite zwischen "schönen" und "häßlichen" Registrierungen scheint bei diesem Instrument schwer möglich, so daß die nach meiner Ansicht durchaus vorhandenen häßlichen Seiten von Viernes Musik nicht vollständig zur Geltung kommen können.


    Ich bin mir auch ziemlich sicher, daß die Orgel in Notre-Dame vor dem Umbau in den 60er Jahren (?) nicht so harmlos-schön geklungen hat, wie das Instrument in St. Ouen.


    Gruß


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Zitat

    Original von AH.
    Über die Aufnahmen von MD&G aus Rouen ist meine persönliche Meinung: Zuviel Hall und daher zuwenig Musik.


    Diese Meinung sei Dir unbenommen. Mir reicht die Musik, die auf der CD "rüberkommt", aus.


    Zitat

    Original von AH.
    Diese Auffassung kenne ich, schließe mich ihr aber nicht an. Leider ist mir das Instrument nur von Tonaufnahmen her bekannt (es gibt ja geradezu eine Schwemme), aber seine "Klangschönheit" ist m.E. genau sein Problem, welches zu einer gewissen Uniformität führt. Eine große Bandbreite zwischen "schönen" und "häßlichen" Registrierungen scheint bei diesem Instrument schwer möglich, so daß die nach meiner Ansicht durchaus vorhandenen häßlichen Seiten von Viernes Musik nicht vollständig zur Geltung kommen können.


    Diese Argumentation verstehe ich nicht. Beide Instrumente stammen von Cavaillé-Coll und stehen ion seiner mehr oder weniger typischen Klangtradition. Klanglich gibt es bei den Instrumenten natürlich Unterschiede, aber "unter'm Strich" sind sie vom Klangkonzept so ähnlich, dass es mir abwegig erscheint zu vermuten, eine bestimmte Registrierung klinge an der einen Orgel "häßlich", an der anderen wiederum "schön".


    Zitat

    Original von AH.
    Ich bin mir auch ziemlich sicher, daß die Orgel in Notre-Dame vor dem Umbau in den 60er Jahren (?) nicht so harmlos-schön geklungen hat, wie das Instrument in St. Ouen.


    Auf Grundlage welcher Erfahrungen oder Aussagen bist du zu dieser Meinung/Vermutung über die Notre-Dame-Orgel vor 1960 gekommen?!
    Desweiteren: Klangschön muss noch lange nicht "harmlos" bedeuten. Ich kann beispielsweise in den Aufnahmen der Symphonie-Passion oder Evocation von Dupré beim besten Willen nichts "harmloses" finden.


    Gruß
    Karsten

  • Hallo Karsten,


    woran es liegt, daß das Instrument St. Ouen doch immer recht sanft klingt, kann ich nicht sicher sagen. Seine Disposition wirkt nicht besonders ungewöhnlich, aber v.a. der ganze Zungenchor hat nach meinem Eindruck recht wenig Durchschlagskraft und hebt sich zuwenig von den Labialregistern ab, verglichen mit anderen Cavaillé-Coll-Instrumenten. Das Instrument läßt zwar äußerst farbenreiche Registrierungen zu (z.B. Susan Landale, "livre du saint-sacrement"), starke Kontrastwirkungen dagegen eher weniger.


    Bei der Orgel von Notre-Dame liegt mir die Veränderung der Disposition in den 60er Jahren vor. Was von Cavaillé-Coll erhalten ist, scheint mir (soweit zu beurteilen) mehr "Biß" zu haben, als St Ouen.


    Gruß


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Zitat

    Original von AH.
    woran es liegt, daß das Instrument St. Ouen doch immer recht sanft klingt, kann ich nicht sicher sagen. Seine Disposition wirkt nicht besonders ungewöhnlich, aber v.a. der ganze Zungenchor hat nach meinem Eindruck recht wenig Durchschlagskraft und hebt sich zuwenig von den Labialregistern ab, verglichen mit anderen Cavaillé-Coll-Instrumenten.


    Auch hier würde mich interessieren, welche Cavaillé-Coll-Orgeln (im Originalzustand!) Du zum Vergleich gehört hast.


    Zitat

    Original von AH.
    Das Instrument läßt zwar äußerst farbenreiche Registrierungen zu (z.B. Susan Landale, "livre du saint-sacrement"), starke Kontrastwirkungen dagegen eher weniger.


    Auch hier wären einige konkrete Beispiele, was du genau meisnt, sehr hilfreich. Was meinst du mit "Kontrast"? In der Lautstärke? In der Klangfarbe? ...


    Zitat

    Original von AH.
    Bei der Orgel von Notre-Dame liegt mir die Veränderung der Disposition in den 60er Jahren vor. Was von Cavaillé-Coll erhalten ist, scheint mir (soweit zu beurteilen) mehr "Biß" zu haben, als St Ouen.


    Zja, das ist ja das Problem: Das, was von Cavaillé-Coll erhalten blieb, wurde klanglich fast komplett umgearbeitet. Neben den ergänzten obertonreichen HD-Chamaden wurden vor allem die Mixturen komplett verändert und allein diese Maßnahmen warfen das originale Klangbild der Orgel komplett über den Haufen. Die Winderversorgung und der Winddruck wurden ebenfalls geändert. Kurz: das, was den "Biss" der Notre-Dame-Orgel in den damaligen Aufnahmen ausmachte, hat mit Cavaillé-Coll NICHTS zu tun und diesen Sound hatte Vierne für seine Orgelwerke defintiv nicht im Sinn/Ohr.


    Also nochmals meien Frage:

    Zitat

    Original von AH.
    Ich bin mir auch ziemlich sicher, daß die Orgel in Notre-Dame vor dem Umbau in den 60er Jahren (?) nicht so harmlos-schön geklungen hat, wie das Instrument in St. Ouen.


    Auf Basis welche Hörerfahrungen, Aussagen oder Quellen bist du Dir da "so "ziemlich sicher"?


    Gruß
    Karsten

  • Liebe Vierne-Freunde,


    damit der Vierne-Thread nicht einschläft - denn das hätte Vierne nicht verdient - möchte ich hier eine weitere CD vorstellen.



    Vierne
    4 Symphonies Pour Orgue
    Marie-Claire Alain
    an der großen Cavaille-Coll-Orgel
    de l'Abbatiale St.-Etienne de Caen
    aufgenommen 05/1989


    Diese 4 von ingesamt 6 Sinfonien entstanden in den Jahren 1898 bis 1914 und entstammen der frühen bis mittleren Schaffensphase Viernes. Verfolgt man die Entwicklung der französischen sinfonischen Orgelmusik, beginnend mit Franck über Widor zu Vierne, so stellt man fest, dass Vierne mit diesen Werken den Gipfelpunkt erreicht hat. Er nutzt die gesamte Bandbreite der technischen Möglichkeiten, die ihm die Cavaille-Coll-Orgeln bieten. Schließlich wurde auch hier der technische Höhepunkt des Orgelbaus erreicht.


    Die Orgelsinfonien Viernes erschließen sich dem Hörer allerdings nicht so leicht wie z.B. die 5. Sinfonie Widors. Eleganz steht bei Vierne nicht im Vordergrund. Seine Werke sind voll innerer Spannung, die er geradlinig zum Ausdruck bringt. Manches wirkt ungestüm, ja auf den ersten Blick (= beim ersten Hineinhören) mitunter sogar spröde. Und doch ist die Gesamtstruktur in sich stimmig und führt zu einem harmonischen Ganzen.


    Die Sinfonien 2, 1 und 4 (in dieser Reihenfolge) erschlossen sich mir erst durch mehrmaliges Hören. Die 3. ist eingängiger, voller ungestümer Dramatik und dann wiederum sehr getragen, meditativ, schwebend und harmonisch. Deshalb empfehle all denen, die die Sinfonien noch nicht kennen, zum anfreunden ganz klar die 3.


    Von Marie-Claire Alain ist man stets ein hohes Niveau gewohnt, ja man erwartet es ganz einfach von ihr. Ihr sicheres, flüssiges, packendes und ausdrucksstarkes Spiel bewundere ich immer wieder. In dieser Einspielung erreicht sie jedoch das sonst gewohnte hohe Niveau nicht ganz. Sie spielt zwar sehr packend und ausdrucksstark, so dass m. E. die Interpretation als solche gelungen ist. Aber das rein technische Spiel kann man nicht als perfekt bezeichnen. An einigen Stellen spielt sie nicht synchron und an anderen Stellen stockt der Spielfluss. Dies mag auch an der Produktion liegen. Die Aufnahme ist an vielen Stellen zusammen geschnitten, was über Kopfhörer deutlich zu hören ist. Es entsteht dann der Eindruck, dass der Satz nicht am Stück durchgespielt wurde.


    Ansonsten ist die Klangvielfalt des Instruments adäquat und mit nicht zu viel Nachhall eingefangen. Allerdings ist die Tonqualität ingesamt nicht unbedingt herausragend. Jedenfalls hatte die Tonmeisterin Yolanta Skura bei der Einspielung von


    Olivier Messiaen
    La Nativite du Seigneur, u.a.
    Marie-Claire Alain
    an der Hofkirche Luzern


    ein Jahr zuvor eine glücklichere Hand. Siehe hierzu meinen Beitrag im Thread "Olivier Messiaen - Seine Orgelwerke".


    Ingesamt möchte ich diese Doppel-CD trotz der genannten Einschränkungen empfehlen. Immerhin wird sie in den diversen Wikis erwähnt. Vergleiche zu anderen Interpreten kann ich leider nicht bieten.


    Gruß
    Tresor

    Diese Sprache, die wir Musik nennen, ist eine Sprache, die aus einem Raum kommt, den wir Seele nennen. GIORA FEIDMAN

  • Ich habe heute folgende CD-Box erhalten:


    Louis Vierne - L'Intégrales des symphonies pour orgue


    Martin Jean, Orgel
    Newberry Memorial Organ Woolsey Hall, Yale University


    Loft Recordings



    Ist diese Aufnahme den hier anwesenden Orgelspezialisten bekannt?


    Ich muss mich erst einmal durch das mir völlig unbekannt Repertoire hören. Die Fuge in der ersten Symphonie hat mir aber schon sehr gut gefallen.


    Davidoff

    Verachtet mir die Meister nicht

  • Daniel Roth spielt an "seiner" Orgel in St. Sulpice, Paris die zwei ersten Sinfonien von Vierne. Diese CD ist die erste Folge einer geplanten Gesamteinspielung ...


    Daniel Roth hat auch die 3. und 4. Orgelsinfonie von Vierne eingespielt. Die SACD erschien 2010.
    In diesem Jahr vollendet Daniel Roth sein 69.Lebensjahr und es ist zu hoffen,daß er mit der Einspielung der 5. und 6. Orgelsinfonie die geplante Gesamteinspielung auf SACD (Stereo und Surround) bald vollenden kann.

    mfG
    Michael


  • Diese Aufnahme besitze ich. Bin allerdings auch der Meinung, die hier schon vertreten wurde, dass man Orgelmusik eigentlich nicht zu Hause hören kann. Jedenfalls nicht mit einer Anlage, die in meinen finanziellen Möglichkeiten liegt. Kopfhörer? Es geht. Aber das Erlebnis, so etwas wirklich live zu hören, ist doch etwas ganz anderes. Leider wird in Aachen m.W. immer nur sehr alte Orgelmusik gespielt. Ein Konzert mit LIszt was da schon ziemlich revolutionär, aber auch nur in einer evangelischen Kirche mit einer recht kleinen Orgel.
    Glück hatte ich, als ich letztens in Heidelberg war, einen Tag vor dem Vierne-Konzert und der Organist war gerade am Üben. Das war schon toll.
    Insofern mag ich über diese CD auch gar nichts sagen.
    Die Musik aber ist, wie ich es von Vierne kenne, auf eine nun ja, grausame Art sehr schön. Manchmal lockt er mit sanften harmonischen Tönen und schon setzt es wieder was. Und gerade die Orgel ist ja das Instrument, das wohl am meisten angreifen kann. Wenn viele Register offen sind und ein Mann wie Vierne an die Grenzen des Tonalen gehen, dann ist der Schmerz nicht mehr weit.
    Ich schreibe jetzt von etwas, von dem ich keine Ahnung habe, aber ich habe so Assoziationen, dass es ein wenig SM-Musik ist, die eben auch mit dem SChmerz spielt.
    Wobei diese Sichtweise für Kirchenmusikfreunde vielleicht beleidigend sein kann, so ist es aber gewiss nicht gemeint.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.