Alban Berg ist keiner der wirklich großen Liedkomponisten. Damit sind jene gemeint, die in der Geschichte des Kunstliedes maßgebliche und progressive Akzente gesetzt und ein diesbezüglich großes Werk hinterlassen haben. Immerhin hat er achtundachtzig Lieder komponiert, und das ist durchaus eine bemerkenswerte Hinterlassenschaft und ein quantitativ „großes Werk“. Er selbst aber hat sie so geringeschätzt, dass er nur einen sehr kleinen Teil davon für publizierbar und einer Opusziffer für würdig hielt.
Nicht einmal die „Sieben frühen Lieder“, die in den Jahren 1905 bis 1908 entstanden und erst 1928 veröffentlicht wurden, tragen eine Opusziffer. Allein die „Vier Lieder nach Gedichten von Friedrich Hebbel und Alfred Mombert“ aus dem Jahr 1910 hielt Berg für würdig, die Opusziffer 2 zu tragen, - nach seiner Klaviersonate, an der er vier Jahre arbeitete, bevor sie 1908 vollendet war. Dann sind da noch die „Fünf Orchester-Lieder nach Ansichtskarten von Peter Altenberg“, die er im Jahre 1912 komponierte und mit der Opusziffer 4 versah. Danach vergingen viele Jahre, ohne dass Berg noch ein einziges Lied komponierte. Erst 1925 gab es eine Art liedkompositorischen Nachklang: Die Neufassung des Liedes „Schließe mir die Augen beide“ auf ein Gedicht von Theodor Storm, die auch von ihm selbst publiziert wurde.
Was aber ist mit all den anderen Liedern, die sich in seinem Nachlass fanden? Darf man sich auf sie in Gestalt einer sängerischen Interpretation und einer rezeptiven Auseinandersetzung mit ihnen überhaupt einlassen, wenn der Autor dies nicht wollte?
Zunächst einmal zu den Fakten. Auf dem Alban Berg-Konvolut der Österreichischen Nationalbibliothek findet sich der Vermerk: „Lieder Alban Bergs aus seiner frühesten Jugend, autodidakt komponiert. Er wünschte, daß sie n i e veröffentlicht werden. Ich bitte, diesen Wunsch zu respektieren!“. Berg begann im Jahr 1901, das heißt als Schüler, mit der Komposition von Liedern. Angeregt wurde er dazu, nach Meinung seiner Biographen, von seinem Freund Hermann Watznauer, aber der entscheidende Impuls dürfte aus seiner intensiven Beschäftigung mit Lyrik gekommen sein, die ihrerseits in seiner damals hoch problematischen Seelenlage wurzelte. Er verspürte wohl – als in seinem Elternhaus musikalisch hoch gebildeter junger Mensch – das Bedürfnis, das, was ihm da als lyrische Aussage begegnete und worin er sich emotional wiederfand, in Musik zu setzen. Entsprechend vielfältig ist die Auswahl der Gedichte: Es sind damals vorwiegend zeitgenössische Lyriker, deren Werke ihn unmittelbar angesprochen haben müssen.
Der entscheidende Einschnitt im Leben des werdenden Komponisten Alban Berg ist die Begegnung mit Arnold Schönberg. Sein Bruder Charly legte diesem – auf Veranlassung der Schwester Smaragda – einige Lieder des jungen Berg vor, und Schönberg entschloss sich spontan, diesem – zunächst kostenlosen – Unterricht zu erteilen. Das Studium bei Schönberg dauerte von 1904 bis 1911. Seine Auswirkungen auf Bergs Liedkomposition sind deutlich fassbar, - im Sinne einer wachsenden Professionalität im Satz, einer größeren Komplexität im Zusammenspiel von Melodik und Klaviersatz und einer langsamen Befreiung von der Bindung an die strenge Tonalität, die seinen frühen Liedern eigen ist.
In den Jahren 1901 bis 1904, dem Jahr seines Eintritts in das Studium bei Schönberg entstanden – offensichtlich eher spontan als gezielt angestrebt – knapp vierzig Lieder, die vielerlei Inspiration durch die Liedkomponisten des romantischen Klavierliedes erkennen lassen, durch Schubert, Schumann und vor allem Johannes Brahms und Hugo Wolf. Berg imitiert aber nicht, sondern findet – bei aller noch vorhandenen kompositorischen Unbeholfenheit - alsbald einen eigenen Stil. Man kann sehr wohl vernehmen, dass er musikalisch etwas zu sagen hatte.
Arnold Schönbergs „Zeugnis“ aus dem Jahre 1936 ist dafür ein guter Beleg:
„Schon aus Bergs frühesten Kompositionen, so ungeschickt sie auch gewesen sein mögen, konnte man zweierlei entnehmen: Erstens, daß Musik ihm eine Sprache war und daß er sich in dieser Sprache tatsächlich ausdrückte; und zweitens, überströmende Wärme des Fühlens.“
Von Oktober 1904 bis Ende 1906 komponierte Berg etwas mehr als dreißig Lieder, in den beiden Jahren danach noch einmal knapp zwanzig. Zwar schlug sich darin nieder, was er bei Schönberg ganz allgemein über Musik und ihre Komposition lernte, aber nur die letzte Gruppe scheint unter dessen unmittelbarer Aufsicht entstanden zu sein. Berg konnte nun nicht nur die Formprobleme bewältigen, denen er sich in seinen frühen Liedern oft gegenüber sah – insbesondere das Zusammenspiel von Melodik und Klaviersatz und den Schluss der Lieder betreffend -, er vermochte nun auch die melodische Linie der Singstimme in ihrem Bezug zur lyrischen Aussage und den Klaviersatz als eigenständigen Faktor in souveräner Weise zu gestalten. Mit den Liedern seines Opus 2 von 1910 lieferte er dafür ein liedkompositorisch bedeutendes Zeugnis ab.
Der Einfluss von Schönberg lässt sich auch an der Wahl der lyrischen Texte erkennen, die nun Grundlage der Liedkomposition wurden. Nun spielt der Aspekt der allgemeinen literarischen Qualität und der dichterischen Gegenwartsrelevanz eine größere Rolle als bei den Liedern vor 1904. Jetzt greift er u.a. zu Goethe, Mörike, Lenau, Mombert und Altenberg.
Nach dem Opus 2 kam in Sachen Klavierlied nichts mehr, - mit Ausnahme jener Neufassung des Liedes „Schließe mir die Augen beide“ im Jahre 1925, - als Zwölfton-Komposition angelegt. Das Klavierlied war wohl nie das zentrale kompositorische Anliegen Alban Bergs, und man hat den Eindruck, dass es dies in der Lehrzeit bei Schönberg immer weniger wurde. Das hing aber wohl auch damit zusammen, dass Ende des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts die Popularität des Kunstliedes als Gattung mehr und mehr zurückging. Es schien ganz einfach nicht mehr in die Zeit zu passen. Aber auch die hohe Komplexität der Musik der Schönberg-Schule stand sozusagen quer zum Geist und zur kompositorischen Gestalt des Klavierliedes. Es ist insofern alles andere als ein Zufall, dass sich Berg im Jahre 1912 dem Orchesterlied auf Texte von Peter Altenberg zuwandte, - auf die er zuvor auch Klavierlieder komponiert hatte.
Er wünschte freilich, „daß sie nie(!) veröffentlicht werden“.