Gustav Mahlers 2. Sinfonie - Geschichte eines Suizids?

  • Liebe Taminos,
    Gustav Mahlers 2. Sinfonie ist ein gewaltiges Werk und im Laufe der Beschäftigung mit ihr kamen mir einige Gedanken und Überlegungen in den Sinn. Überlegungen, die mir ziemlich plausibel scheinen, denen ich aber umso zaghafter begegne, da ich sie noch nirgends ausformuliert fand, so dass ich fürchte, mich auf einem gedanklichen Holzweg zu befinden.
    Vielleicht ist es möglich, meine These hier zu formulieren und zu diskutieren. Sei es, um sie als längst bekannt zu bestätigen oder als unsinnig zu verwerfen.


    These: Mahlers 2. Sinfonie erzählt die Geschichte eines Selbstmordes.


    1. Satz:
    Im Januar 1888 dirigierte Mahler die Premiere der von ihm vollendeten Weber-Oper „Die drei Pintos“. In der folgenden Nacht wurde er von einer Todesvision heimgesucht, in der er sich selbst auf seiner von Blumen umgebenen Todenbahre sah. Wenig später vollendete er seine 1. Sinfonie und trug deren Helden kurz darauf in dem sinfonischen Fragment Todtenfeier (dem späteren Kopfsatz der 2. Sinfonie) zu Grabe.


    Mahler äußerte sich selbst zum Inhalt: "Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Mal an unserem geistigen Auge vorüber."* "[...]es ist der Held meiner D-Dur-Symphonie, den ich da zu Grabe trage, und dessen Leben ich in einem reinen Spiegel auffange. Zugleich ist es die große Frage: Warum hast du gelebt?"**


    Als Hörer darf man neben dieser von Mahler explizit aufgeworfenen Frage auch die nach der Todesursache des Helden stellen. Zur Beantwortung bedarf es einiger Schritte zurück, die Mahler kompositorisch durch die folgenden Sätze tut.


    2. Satz
    Für den 2. Satz skizzierte Mahler zunächst einen Ländler in As-Dur, „eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorne Unschuld“*, „ein Sonnenblick aus dem Leben dieses Helden.“** Wenn die Vergangenheit einen Sonneblick darstellt, darf gemutmaßt werden, dass die späteren Zeiten als dunkel und düster empfunden wurden. Warum? Erhält man eine Antwort im dritten Satz?


    3. Satz
    Für den dritten Satz greift Mahler auf seine Vertonung des Wunderhorn-Liedes „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ zurück. In dem Lied wird die Geschichte des Heiligen Antonius erzählt, der, nachdem er die Kirche leer findet, den Fischen eine Predigt hält. Diese hören zwar aufmerksam zu, machen anschließend aber weiter wie immer. Antonius’ Wirken war also, mit einem Wort, sinnlos. Was bedeudet dies für den Helden der Sinfonie?
    „Die Verneinung hat sich seiner bemächtigt, er blickt in das Gewühl der Erscheinungen und verliert mit dem reinen Kindersinn den festen Halt, den allein die Liebe gibt; er verzweifelt an sich und an Gott.“* Das Leben als „grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels auffahren.“**


    Am Ende des dritten Satzes finden wir den Helden also mit Verzweiflung und Ekel über die Sinnlosigkeit des Lebens vor, musikalisch ausgedrückt durch rauhe Ausbrüche und den dissonanten Höhepunkt gegen Schluss des Satzes.


    4. Satz
    Im vierten Satz findet wir den Helden angesichts des Vorangegangen in niedergeschlagener, ja depressiver Gemütsverfassung wieder. Der Text des „Urlichts“ verdeutlicht die Todessehnsucht angesichts der Unbill des Lebens.


    Der Mensch liegt in grösster Not,
    Der Mensch liegt in grösster Pein,
    Je lieber möcht' ich im Himmel sein.


    Der Wunsch nach dem Himmel bzw. dem Jenseits wird offen ausgesprochen. Der unmittelbare Weg ins Jenseits führt über den Suizid. Doch nichts davon wird explizit. Stattdessen erfolgt eine inhaltliche Zäsur nach der Äußerung des Todeswunsches und das lyrische Ich befindet sich plötzlich auf einem Weg, auf dem ihm ein Engel begegnet.


    Da kam ich auf einen breiten Weg,
    Da kam ein Engelein und wollt' mich abweisen.


    Die Vorstellung, dass sich das lyrische Ich im Jenseits befindet, ist angesichts der Begegnung mit einem Engel alles andere als abwegig. Stellt sich aber die Frage, aus welchem Grunde dieser Engel das lyrische Ich abweisen sollte. Unter Berücksichtigung der damals m.W.n. geläufigen Vorstellung, dass Suizid eine große Sünde sei und zum Ausschluss aus dem Himmel führe, wäre dies als Ursache für die Abweisung naheliegend. Das lyrische Ich protestiert:

    Ich bin von Gott und will wieder zu Gott,
    Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
    Wird leuchten mir bis an das ewig selig' Leben!


    5. Satz
    Die abschließende Entscheidung fällt schließlich beim Jüngsten Gericht, dem monumentalen Schlusssatz der 2. Sinfonie:


    Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du,
    mein Herz, in einem Nu.



    Dass Mahler sich mit solch existenziellen Fragen beschäftigte, halte ich für sehr wahrscheinlich; und erwähnenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die Tatsache des Suizids seines Bruders Otto, der sich 1895 im Alter von 21 Jahren erschoss. Laut Alma Mahler habe er in seinem Abschiedsbrief angegeben, dass ihn das Leben nicht mehr erfreue. Möglich also, dass Gustav Mahler selbst in seinen zwanzigern mit trübsinnigen Gedanken rang.


    Was haltet Ihr von dieser Interpretation?



    Quellen:
    Die kursiv gedruckten Zitate stammen aus Mahlers eigener Hand und wurden aus den Booklets folgender Veröffentlichungen entnommen.


    * Richard Osborne: Rattle dirigiert Mahler
    ** Robin Golding: Klemperer dirigiert Mahler

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Lieber Lynkeus,


    Mahler hat viel das Thema "Tod" thematisiert, aber sicher keinen Suizid im Sinne gehabt. Dafür gibt es auch biographisch keinen Beleg. In den Symphonien geht es um das Verhältnis des Menschen zur Welt:


    „Wahrscheinlich empfangen wir die Urrhythmen und -themen alle aus der Natur, die sie schon in jedem Tierlaut in großer Prägnanz uns bietet. Wie ja der Mensch und der Künstler im besonderen jeden Stoff und jede Form der Welt, die ihn umgibt, annimmt, freilich in ganz anderem, erweitertem Sinne. Sei es nun, dass er sich in harmonisch-glücklichen Einklange mit der Natur befindet oder sich zu ihr in schmerzvoll-leidenden oder
    feindlich-verneinenden Gegensatz stellt, sei es, daß er von überlegener Warte aus in Humor und Ironie mit ihr fertig zu werden sucht: womit die Grundlagen zu dem schön-erhabenen, sentimentalen und tragischen und humoristisch-ironischen Kunststil im engsten Sinne gegeben sind.“


    Mahler unterscheidet hier drei Kunststile. Und man kann die Symphonien diesen zuordnen: Der 1. Satz der 1. Symphonie ist der "schön-erhabene" Kunstil, wo sich der Mensch im Einklang mit der Natur befindet. Das zeigt auch die Parallele zu den "Liedern eines fahrenden Gesellen" - "Ging heut morgen übers Feld..." ist das Hauptthema des 1. Satzes. In Satz 3 kommt dann aber das böse Erwachen. Mit der schönen Naturnaivität ist es schlagartig vorbei. Im Finale prallen dann die Welten aufeinander. Das ist der sentimentalisch-tragische Kunststil. Die 3. und 4. Symphonie gehören zum humoristisch-ironischen Kunststil und die 2. ist eindeutig der "tragische", wo sich der Mensch im "schmerzvoll-leidenden" Konflikt mit der Welt befindet. Die menschliche Welt ist eine "Lügenwelt" (wie Mahler sie in seinen Briefen bezeichnet). Dafür steht vor allem das Scherzo - die symphonische Variante von "Des Antonius von Padua Fischpredigt" - eine nutzlose Predigt. Der entscheidende Gedanke der 2. ist, daß das Jüngste Gericht ausbleibt und die Auferstehung zu neuem Leben führt "sterben um zu leben" (die Passage zitiert Mahler dann in seiner 10. Symphonie als Reminiszenz an die 2.). Das ist die Verkündigung einer besseren Welt, welche die Daseinsmisere erträglich machen soll.


    Die Geschichte mit dem Urlicht ist hochinteressant. Da will das Subjekt vorzeitig in den Himmel und wird abgewiesen. Es spricht viel dafür, daß hier die Problematik von Wagners Judentum "durchbricht". Ich erinnere hier gerne an Franz Kafka "Vor dem Gesetz" - da will auch einer durch das Himmelstor und wird nicht eingelassen. Diese Erfahrung hat Mahler selber zum Ausdruck gebracht:


    „Ich bin dreifach heimatlos: als geborener Böhme in Österreich, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall bin ich ein ungerufener Gast, überall unerwünscht.“


    Wenn man in dieser - menschlichen - Welt überall unerwünscht ist, dann sucht man in einer besseren sein Glück und Heil - das ist entweder die Natur, die allen Menschen offen steht oder eine jenseitige Welt.


    Von Klemperer habe ich die Aufnahme mit Kathleen Ferrier und Jo Vincent - die ist wirklich sehr gut. Meine sogenannte Lieblingsaufnahme ist die mit Vaclav Neumann und der Tschechischen Philharmonie - natürlich habe ich unzählige andere als bekennender "Mahlerianer".
    :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Für mich ist das "Urlicht" ganz klar ein gnostischer, also kein christlicher, Text. Die Gnosis sieht ja vor, dass es am Anfang den Schöpfergott, einen Urmenschen, den Licht - Menschen, und die Dämonen gab. Die Dämonen haben sich des Ur-Licht-Menschen bemächtigt, um eine eigene Schöpfung zu machen. Aber die Sache ging schief, es reichte nur zur Erde (deren Elend damit erklärt ist). Der Ur-Licht-Mensch wurde zertrümmert, und die Lichtfunken kamen als einzelne Teile in jeden Menschen. Alle Menschen werden so von den Dämonen hier auf der Erde gefangen gehalten, bis "der Erlöser" (in der christlichen Gnosis: Jesus) die Dämonen besiegt, die Urlichter befreit, damit sie sich wieder zum Ur-Licht-Menschen vereinen können. Allerdings muss jeder Mensch erkennen (Gnosis - griech. die Erkenntnis), dass er diesen Lichtfunken in sich trägt. Dass in dem Gedicht der gnostische Lichtfunke abgewiesen wird, ist logisch, da sich erst am Ende, bei der Zertrümmerung der Welt, alle Lichtfunken zum ursprünglichen Ur-Licht-Menschen vereinen. Interessant ist natürlich hier die Frage, wieweit in Mahlers Kulturkreis die Gnosis bekannt war.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Zitat

    Der Wunsch nach dem Himmel bzw. dem Jenseits wird offen ausgesprochen. Der unmittelbare Weg ins Jenseits führt über den Suizid.


    Ins jenseits - Ja - aber mit Sicherheit nicht in den Himmel.
    Sowohl die jüdische, als auch die christliche (Mahler war zum Katholizismus konvertiert) Religion betrachteten Selbstmord als Verbrechen und verweigerte Selbstmördern sogar die Bestattung in geweihter Erde.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Für mich ist das "Urlicht" ganz klar ein gnostischer, also kein christlicher, Text. Die Gnosis sieht ja vor, dass es am Anfang den Schöpfergott, einen Urmenschen, den Licht - Menschen, und die Dämonen gab. Die Dämonen haben sich des Ur-Licht-Menschen bemächtigt, um eine eigene Schöpfung zu machen. Aber die Sache ging schief, es reichte nur zur Erde (deren Elend damit erklärt ist). Der Ur-Licht-Mensch wurde zertrümmert, und die Lichtfunken kamen als einzelne Teile in jeden Menschen. Alle Menschen werden so von den Dämonen hier auf der Erde gefangen gehalten, bis "der Erlöser" (in der christlichen Gnosis: Jesus) die Dämonen besiegt, die Urlichter befreit, damit sie sich wieder zum Ur-Licht-Menschen vereinen können. Allerdings muss jeder Mensch erkennen (Gnosis - griech. die Erkenntnis), dass er diesen Lichtfunken in sich trägt. Dass in dem Gedicht der gnostische Lichtfunke abgewiesen wird, ist logisch, da sich erst am Ende, bei der Zertrümmerung der Welt, alle Lichtfunken zum ursprünglichen Ur-Licht-Menschen vereinen. Interessant ist natürlich hier die Frage, wieweit in Mahlers Kulturkreis die Gnosis bekannt war.


    Das ist sehr interessant! Da die Ausgabe von Arnim und Brentano keine historisch-kritische im modernen Sinne ist, lassen sich diese Spuren nur schwer verfolgen. (Mahler hat diesen Wunderhorn-Text diesmal unverändert übernommen, andere hat er selber bearbeitet.) Hier müßte man in die Literatur schauen - da bin ich aber im Moment nicht im Bilde. Mahler war eine "Leseratte", es kann auch gut sein, daß er solche Literatur gelesen hat. Wenn man sich den Text anschaut, dann ist doch ein gewisser Optimismus zu spüren. Es herrscht ein ungebrochenes Vertrauen auf Gott vor, daß er dem armen Menschen ein "Lichtlein" in die Hand geben wird, das ihm den Weg in den Himmel - zum ewigen Leben - zeigt (leuchtet). Dieser Optimismus und dieses Gottvertrauen ist dann bei Mahler seit den Kindertotenliedern verflogen. Der Mensch findet sich nun ganz allein und allein gelassen in der Welt vor.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mahler hat viel das Thema "Tod" thematisiert, aber sicher keinen Suizid im Sinne gehabt.

    Lieber Holger,
    das wollte ich auch nicht unterstellen. Meine Überlegung war, ob der Held der Sinfonie den Schritt zum Suizid vollzieht. Nach wie vor halte ich das für eine statthafte Les-/Hörart. Bei meiner Recherche, ob es bereits diesbezügliche Aussagen gibt, fand ich einzig folgende Bemerkung:

    Zitat

    Seine Zweite entwickelt sich [...] aus einer ursprünglich wilden, quasi-symphonischen Dichtung, "Todtenfeier" genannt und mit literarischen Vorlagen als erstem Satz über die "Wunderhorn"-Welten des Antonius zu Padua, der vergeblich den Fischen predigt (ein ziemlich transzendenter Fatalismus), sowie der Orchesterversion des Liedes "Urlicht" (eigentlich ein auskomponierter Selbstmord) in ein Monsterfinale mit Riesenchor und zwei Solostimmen hinein.

    Quelle: 'http://oe1.orf.at/programm/275137
    Hervorhebung von mir


    Lieber Dr. Pingel,
    deine Bemerkungen sind sehr erhellend und decken sich mit dem, was im Anmerkungsapparat meiner Wunderhornausgabe steht. Da heißt es, dass der Titel "Urlicht" den Aspekt der neuplatonisch-gnostischen Emanationslehre akzentuiere, der in den letzten drei Versen angesprochen werde. Zudem wird darauf hingewiesen, dass Brenano den Text des "Urlichts" in einer Handschrift Wilhelm Grimms erhielt, dort aber mit der Überschrift Todesgebät . Des Weiteren findet sich, bezugnehmend auf den Vers "Da kam ich auf einen breiten Weg", ein Hinweis auf Matthäus 7,13:

    Zitat

    Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • das wollte ich auch nicht unterstellen. Meine Überlegung war, ob der Held der Sinfonie den Schritt zum Suizid vollzieht. Nach wie vor halte ich das für eine statthafte Les-/Hörart.


    Lieber Lynkeus,


    das verstehe ich ehrlich gesagt nicht! Wieso bedeutet an die Auferstehung zu glauben Selbstmord? Mahler selbst hat gerade die 2. Symphonie ausführlich programmatisch erläutert (überliefert von Natalie Bauer-Lechner) - und da ist nirgendwo davon die Rede, daß der Held der Symphonie Selbstmord begeht. Mahler war ein Mensch, der das Leben bejahte und auch zum Ausdruck gebracht hat, daß man sich nicht vom Schicksal unterkriegen lassen darf. Selbstmord lag ihm völlig fern. In einem Brief heißt es: "Wie unsinnig ist es nur, sich vom brutalen Lebensstrudel so untertauchen zu lassen! Sich selbst und dem Höheren über sich selbst auch nur eine Stunde untreu zu sein!" (1909 an Bruno Walter)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich bin fündig geworden: wenn man bei Google "Mahler Gnosis" eingibt, erscheint ein Titel der Reihe "Musik-Konzepte", Nr. 91 Gustav Mahler. Dort findet sich ab S. 34 ein Aufsatz (15 Seiten) von Claus-Steffen Mahnkopf: "Mahlers Gnosis", in dem über Mahlers allgemeine Religiosität berichtet wird, die nicht christlich, sondern eher pantheistisch war und in Teilen halt, wie eben im Urlicht", gnostisch genannt werden muss. Ich muss den Artikel noch lesen, er ist halt auf adornisch geschrieben, was mir nicht so liegt. Aber ich wollte schon mal die Quelle hier angeben.
    Ansonsten würde ich Holger Kaletha unbedingt zustimmen: für Gnostiker wie für Pantheisten ist Selbstmord überhaupt keine Option.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich bin fündig geworden: wenn man bei Google "Mahler Gnosis" eingibt, erscheint ein Titel der Reihe "Musik-Konzepte", Nr. 91 Gustav Mahler. Dort findet sich ab S. 34 ein Aufsatz (15 Seiten) von Claus-Steffen Mahnkopf: "Mahlers Gnosis", in dem über Mahlers allgemeine Religiosität berichtet wird, die nicht christlich, sondern eher pantheistisch war und in Teilen halt, wie eben im Urlicht", gnostisch genannt werden muss.


    Besten Dank für den Hinweis - ich erinnere mich jetzt , den Text vor Urzeiten mal angeschaut zu haben. Da schaue ich mal nach, ob ich ihn irgendwo in meinen Akten habe und zum Programm der 2. werde ich noch einiges heraussuchen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich habe den Aufsatz von Mahnkopf jetzt gelesen, wobei ich mit den musiktheoretischen Ausführungen etwas überfordert war. Der Rest aber ist gut verständlich. Allerdings löst Mahnkopf unser Problem auch nicht, nämlich dass wir wissen, ob Mahler die klassische Gnosis kannte. Mahnkopf spricht ständig von "Mahlers Gnosis" wie von einer festen Größe, erklärt aber nicht, was darunter versteht. Ich habe den Verdacht, dass Mahnkopf eher eine allgemeine pantheistische Religiosität mit der Gnosis verwechselt. Den klassischen Gnosis - Mythos vom Urmenschen und Erlöser habe ich in Text 3 dargestellt. Ich folge darin den Ausführungen des berühmten protestantischen Theologen Rudolf Bultmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments". Der klassische Text der christlichen Gnosis ist das Johannesevangelium, das sich ja radikal von den drei synoptischen Evangelien unterscheidet. Hier wird zum ersten Mal der gnostische Erlöser mit Jesus gleich gesetzt.

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  • Lieber Lynkeus,


    Gustav Mahlers 2. Sinfonie ist ein gewaltiges Werk und im Laufe der Beschäftigung mit ihr kamen mir einige Gedanken und Überlegungen in den Sinn.

    Gewaltig, ja. Aber für meine Begriffe im letzten Satz ausufernd.



    Mahlers 2. Sinfonie erzählt die Geschichte eines Selbstmordes.

    Ich glaube nicht, dass es möglich ist, auf diese Weise mehr von der Musik zu erfassen. Wer will, könnte Schuberts Streichquintett auch auf diese Weise umdeuten, glaube ich. Ich fürchte, es bringt nichts. Wahrscheinlich geht hier Mahler seinem Prinzip "die Sinfonie müsse sein wie die Welt; allumfassend" nach. Es ist ein großartiges Werk zu einer "verrückten" Idee; kein Kunstwerk kann "allumfassend" sein. Aber ein "Programm" im eigentlichen Sinne hat es wohl (im Gegensatz zur ersten Sinfonie) nie gegeben. Gott sei Dank ;).


    Die 3. und 4. Symphonie gehören zum humoristisch-ironischen Kunststil

    Sagt Mahler das? Die Dritte ist ironisch? Auch hier sehe ich wieder den Versuch, die "ganze Welt" einzuschließen. Aber auch dieses Werk ufert für meine Ohren im letzten Satz aus (nicht aber im großartigen ersten).



    Zu Holger Kaletha:


    Der 1. Satz der Ersten ist der "schön erhabene Kunststil" -- ja, die Musik ist sehr zugänglich und den Satz durchzieht auch eine Dynamik und Mahler lässt sich Zeit mit dem Sonnenaufgang; aber dennoch passiert musikalisch trotz der "Waldatmosphäre" nicht allzuviel bei diesem etwas breit angelegten Stück. Der Mensch im Einklang mit der Natur -- für mich ein unglaublich wichtiges Thema -- aber da lassen sich etliche Werke von Komponsisten anführen, die etwas mehr zu sagen haben. Mit ist nicht klar, was Mahler mit "schön erhabener Kunststil" bezeichnen will. Soll der Satz ein Sonatensatz sein (was er sicherlich ist), hat die Durchführung im Vergleich zu Beethoven, Dvorak oder Brahms nicht allzu viel zu bieten.


    Der 3. Satz, böses Erwachen? Sehe ich nicht so. Beißender Sarkasmus, hat je ein Anderer eine derart fahle Karikatur hinbekommen? Soviel ich weiß geht es um des "Försters Leichenbegängnis"; und Tiere begleiten den schauerlichen Zug. Ein ganz großartiger Satz.


    Und das ist mein Problem mit Mahler: Fantastische Sätze stehen neben anderen, die ähnlich Wagners "unendlicher Melodie" als endlose Rede ohne Punkt und Komma, bewundernswert in vielen Details, bei dem getriebenen Aufwand einen vergleichsweise geringen Wirkungsgrad haben. Keine seiner Sinfonien ist davon ganz frei. Das ist für mich das Tragische.


    Gruß Heiko

    Heiko Schröder
    Ahrensburg


    "Wer sich im Ton vergreift, sucht nur in den glücklichsten Fällen nach neuen Harmonien."

  • Und das ist mein Problem mit Mahler: Fantastische Sätze stehen neben anderen, die ähnlich Wagners "unendlicher Melodie" als endlose Rede ohne Punkt und Komma, bewundernswert in vielen Details, bei dem getriebenen Aufwand einen vergleichsweise geringen Wirkungsgrad haben. Keine seiner Sinfonien ist davon ganz frei. Das ist für mich das Tragische.


    Lieber Heikos, bei dem "vergleichsweise geringen Wirkungsgrad" bleibe ich dann doch hängen. Was meinst Du damit? Ich wäre sehr dankbar für weiterführende Erklärungen. Danke und Gruß!


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Mich verwirrt ein wenig die Reihenfolge oder gesamte Dramaturgie, wenn man 1. und 2. Sinfonie zusammen betrachtet:
    Gesetzt, Todtenfeyer, also der Kopfsatz der 2. ist das Begräbnis des "Helden" der ersten Sinfonie. Dann wären die drei mittleren Sätze der 2. Rückblenden und das Finale Tod/Auferstehung. Nun scheint mir aber aber der Held gewechselt zu haben. Denn, wie auch immer der Held des Finales der ersten zu Tode kommt, doch wohl kaum durch Selbstmord aus Depression oder Lebensüberdruss. Eher im Rahmen einer heldenhaften Tat (das Finale der 1. Sinfonie hatte früher einen dantesken Untertitel der Art "Vom Inferno ins Paradies").
    Also müsste im Laufe der Gesamtkonzeption der 2. zumindest die "Lebensgeschichte" des Helden geändert worden sein, damit würden sich die 1. und 2. entkoppeln.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dass es mit meiner Ausgangsidee nicht weit her ist, beginnt mir allmählich auch zu dämmern. Das kann passieren, wenn man allzusehr ins Grübeln über musikalische Aussagen gerät. Meine Dramaturgie, wie Johannes es nennt, nahm ihren Ausgangspunkt vom Text des "Urlichts", bei dem ich mir die Frage stellte, wie jemand, der sich ins Jenseits wünscht, plötzlich auf einen Weg gelangt, dort aber abgewiesen wird. Aus dieser Keimzelle hab ich dann wohl die programmatischen Aussagen solange gedreht, bis sie ins Bild passten und dabei nur das gesehen, was ich selbst hinein legte. Aber schon die Hinweise auf die Gnosis zwingen zu einer Relativierung der Idee.


    Aber ein "Programm" im eigentlichen Sinne hat es wohl (im Gegensatz zur ersten Sinfonie) nie gegeben.

    Meines Wissens ist Mahler zu einem Programm überredet worden, meine aber, dass sich diese Überredung nur auf die wörtliche Ausformulierung bezieht. Holger weist ja auch auf die diesbezüglichen Überlieferungen Bauer-Lechners hin. Also ein Programm hatte die Sinfonie wohl von Anfang an.


    [Ein gewaltiges Werk.] Aber für meine Begriffe im letzten Satz ausufernd.

    In einem anderen Thread schrieb ich zum Finalsatz: "Dennoch empfinde ich den Schlusssatz der Zweiten weniger als inspiriert, sondern vielmehr, als wolle Mahler letztlich - konfrontiert mit dem Rätsel Tod - bei sich selbst Trauer- und Überzeugungsarbeit leisten, indem er die inneren Zweifel und Zerissenheiten durch wuchtige Affirmation des Auferstehungsgedankens übertönt."
    In einem Text des mit Mahler bekannten Musikkritikers Ferdinand Pfohl fand ich eine Passage, die ich in diesem Zusammenhang bemerkenswert finde (Hervorhebung von mir):

    Zitat

    Ob Mahler wirklich geglaubt hat im tieferen religiösen Sinn? Ich möchte es bejahen. Der Himmel, das Gottesreich war ihm mehr als ein schöner Traum, war ihm Bedürfnis und Notwendigkeit, wie seine gesamte Kunst ein Schrei ist nach dem Glauben. Er übertäubt mit ihr die Skepsis, die an ihm nagt, ihn peinigt und unruhig macht. Die Musik, seine eigene Musik vor allem, wird ihm Narkotikum, Verzückung und Askese zugleich; er zerfleischt sich mit ihr, wie die Heiligen sich gegeißelt haben. Und sie wird ihm Balsam für seine Wunden.

    zitiert nach: Norman Lebrecht: Gustav Mahler im Spiegel seiner Zeit, S.105.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Ich habe den Aufsatz von Mahnkopf jetzt gelesen, wobei ich mit den musiktheoretischen Ausführungen etwas überfordert war. Der Rest aber ist gut verständlich. Allerdings löst Mahnkopf unser Problem auch nicht, nämlich dass wir wissen, ob Mahler die klassische Gnosis kannte. Mahnkopf spricht ständig von "Mahlers Gnosis" wie von einer festen Größe, erklärt aber nicht, was darunter versteht. Ich habe den Verdacht, dass Mahnkopf eher eine allgemeine pantheistische Religiosität mit der Gnosis verwechselt. Den klassischen Gnosis - Mythos vom Urmenschen und Erlöser habe ich in Text 3 dargestellt. Ich folge darin den Ausführungen des berühmten protestantischen Theologen Rudolf Bultmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments". Der klassische Text der christlichen Gnosis ist das Johannesevangelium, das sich ja radikal von den drei synoptischen Evangelien unterscheidet. Hier wird zum ersten Mal der gnostische Erlöser mit Jesus gleich gesetzt.


    Ich habe mir den Band gerade aus der Bibliothek geholt (der Internet-Link (PDF-Dokument) funktioniert bei mir nicht) - es sieht nach einem Anti-Adorno-Text aus. Ich werde mir das mal genauer anschauen und berichten! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Sagt Mahler das? Die Dritte ist ironisch? Auch hier sehe ich wieder den Versuch, die "ganze Welt" einzuschließen. Aber auch dieses Werk ufert für meine Ohren im letzten Satz aus (nicht aber im großartigen ersten).

    Lieber Lynkeus,


    die 3. und 4. sind Humoresken, hat Mahler gesagt. Hier zieht er humoristisch-ironisch zusammen: Ironie ist die "überlegene Warte".



    Der Mensch im Einklang mit der Natur -- für mich ein unglaublich wichtiges Thema -- aber da lassen sich etliche Werke von Komponsisten anführen, die etwas mehr zu sagen haben. Mit ist nicht klar, was Mahler mit "schön erhabener Kunststil" bezeichnen will. Soll der Satz ein Sonatensatz sein (was er sicherlich ist), hat die Durchführung im Vergleich zu Beethoven, Dvorak oder Brahms nicht allzu viel zu bieten.

    Im Kopfsatz passiert auch nicht viel im Vergleich mit Beethoven und Brahms - es gibt gar keinen dramatischen Konflikt und so auch keine Grundlage für eine Durchführung. Das hat seinen Grund: Bei Mahler verlagert sich das dramatische Zentrum der Symphonie vom Sonatenallegro auf das Finale. Mahlers Symphonien sind "Finalsymphonien".



    Der 3. Satz, böses Erwachen? Sehe ich nicht so.

    Mahlers programmatische Erläuterung sagt: Der Held findet ein Haar in der Suppe und die Mahlzeit ist ihm schon verdorben.



    Und das ist mein Problem mit Mahler: Fantastische Sätze stehen neben anderen, die ähnlich Wagners "unendlicher Melodie" als endlose Rede ohne Punkt und Komma, bewundernswert in vielen Details, bei dem getriebenen Aufwand einen vergleichsweise geringen Wirkungsgrad haben. Keine seiner Sinfonien ist davon ganz frei. Das ist für mich das Tragische.

    Nicht tragisch, sondern einfach eine andere Konzeption von Symphonik, würde ich sagen.



    Aber ein "Programm" im eigentlichen Sinne hat es wohl (im Gegensatz zur ersten Sinfonie) nie gegeben. Gott sei Dank

    Mahlers Auffassung von Programmen deckt sich ziemlich genau mit der von Franz Liszt - sie sind Wegweiser zum Verständnis der poetischen Idee des Werks. Ausführliche Programme gibt es für die 1. bis 4. Symphonie - ab der 5. dann keine mehr. Da wird es dann schwierig mit programmatischen Deutungen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich habe mir den Band gerade aus der Bibliothek geholt (der Internet-Link (PDF-Dokument) funktioniert bei mir nicht) - es sieht nach einem Anti-Adorno-Text aus. Ich werde mir das mal genauer anschauen und berichten! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


    Es ist ein Anti-Adorno-Text, aber im Duktus und in der Sprache ähnlich gehalten. Außerdem habe ich mich sehr über die Musikologen - Lyrik dieses Textes amüsiert (etwas ausdrücken, was so noch niemand gesagt hat). Aber er erklärt nicht, was wir wissen wollen: was hat es mit der Mahler- Gnosis auf sich? Ich bin auf deinen Bericht sehr gespannt!

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Hallo,


    ich will mich nicht umfänglich beteiligen, sondern nur als Nicht-Theologe m. E. auf einige Ungereimtheiten in den Texten, bzw. dem was Mahler einbringt, hinweisen.


    Wenn es heißt, dass Mahler als konvertierter Katholik christlich gläubig war, so kann das nur römisch-katholisch religiös sein, denn die dort noch immer vertretenen Meinung über das Fegefeuer – wenn auch in geänderter Sicht – gibt es nur dort. Allein die Textstelle
    „Auferstehen, ja auferstehen wirst du,
    Mein Staub nach kurzer Ruh“**
    ist irrelevant, denn nach dem irdischen Tod sind Zeit und Raum aufgehoben (von der Rechtfertigungslehre ganz abgesehen).


    Was über den Suizid und seinen Folgen hier auf Erden im Forum geschrieben wurde, ist fälscher als falsch und dürfte sogar im Katholizismus einer anderen Sichtweise gewichen sein.


    Mahlers Liedvertonung „Des Antonius von Padua Fischpredigt “ wird im 3. Satz zum Hauptgegenstand, -thema. Es kann Zufall sein oder der seit der Renaissance üblichen Praxis entsprechen, ein musikalisches Thema in äußerst unterschiedlichem, musikalischem Umfeld zu verwenden. Es wäre aber auch möglich, dass Mahler damit die in den Predigten verkündete römisch-katholische Lehre der Lächerlichkeit preisgeben will. Dazu würde „Urlicht“ passen – die drei letzten Verszeilen - was wiederum zu** im Widerspruch steht und mehr noch „Mit Flügeln, die ich mir errungen...“.


    Der 3. Satz seiner unvollendeten 10. ist mit „Purgatorio“ (abschließende Läuterung) überschrieben – was auch ein auf die römisch-katholische Lehre begrenzter Vorgang ist.

    Jedem Menschen ist bis zur allerletzten Sekunde (wann ist die?) seines irdischen Lebens die Möglichkeit einer Änderung seiner Überzeugungen eingeräumt.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Es ist ein Anti-Adorno-Text, aber im Duktus und in der Sprache ähnlich gehalten. Außerdem habe ich mich sehr über die Musikologen - Lyrik dieses Textes amüsiert (etwas ausdrücken, was so noch niemand gesagt hat). Aber er erklärt nicht, was wir wissen wollen: was hat es mit der Mahler- Gnosis auf sich? Ich bin auf deinen Bericht sehr gespannt!

    Ich finde, daß der Text von Mahnkopf einfach das hochgesteckte Ziel nicht einlöst, die "negativistische Rezeptionskonstante zu bannen", wie er beansprucht. Es bleibt bei der "adornisierenden" Rhetorik - ein Stil von damals, der einem Leser von heute doch schwer erträglich ist. Die Intention verstehe ich: Das Gnostische soll das "Positive" und "Affirmative" bei Mahler fassen, das sich in Adornos "negative Dialektik" nicht einfügen läßt. Es fehlt ihm dafür aber schlicht ein alternatives philosophisches Konzept - so bleibt das Gnostische bei Mahnkopf mehr als vage, schablonenhaft und ohne Konkretion. Das "emphatische Adagio" soll "gnostisch" sein im Sinne von "objektivierender Subjektivität". Das wird einfach nicht erläutert und bleibt mir letztlich unverständlich. Die Rede von "gnostischer Kantabilität" und auch "gnostischer Ästhetik" erscheint ziemlich seltsam. Das sind alles uneingelöste Schecks - zuviel Rhetorik und zu wenig Substanz und von der philosophischen Präzision bei Adorno selbst um einiges entfernt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn es heißt, dass Mahler als konvertierter Katholik christlich gläubig war, so kann das nur römisch-katholisch religiös sein, denn die dort noch immer vertretenen Meinung über das Fegefeuer – wenn auch in geänderter Sicht – gibt es nur dort.

    Lieber Horst,


    es spricht viel dafür, daß Mahler in seinem Herzen Jude geblieben ist - die Konvertierung also letztlich nur eine Form gesellschaftlicher Anpassung war. Bernstein in seinen Vorlesungen weist sehr schön darauf hin, daß an entscheidender Stelle des Finales der 2., wo es um die christliche Auferstehung geht, ein jüdisches Schofar-Horn ertönt, das zum Sabbat bläst (die Tonfolge ist identisch, bei Bernstein mit dem Film eines Schofar-Bläsers belegt). In seinem Programm betont Mahler, daß mit dem strafenden Gott und dem Ausbleiben des Jüngsten Gerichts jedes "kirchliche" Verständnis von Religion überwunden sei. Und in Briefen warnt er vor der Abnutzung der Auferstehungsidee.



    Mahlers Liedvertonung „Des Antonius von Padua Fischpredigt “ wird im 3. Satz zum Hauptgegenstand, -thema. Es kann Zufall sein oder der seit der Renaissance üblichen Praxis entsprechen, ein musikalisches Thema in äußerst unterschiedlichem, musikalischem Umfeld zu verwenden. Es wäre aber auch möglich, dass Mahler damit die in den Predigten verkündete römisch-katholische Lehre der Lächerlichkeit preisgeben will. Dazu würde „Urlicht“ passen – die drei letzten Verszeilen - was wiederum zu** im Widerspruch steht und mehr noch „Mit Flügeln, die ich mir errungen...“.

    Bemerkenswert ist, daß es zwei programmatische Deutungen dieses Satzes von Mahler selbst gibt. In keinen von beiden nimmt er auf die Fischpredigt überhaupt Bezug - sondern es geht um das Allgemein-Menschliche, das Portrait der Menschenwelt als einer absurden und verkehrten.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • sondern es geht um das Allgemein-Menschliche, das Portrait der Menschenwelt als einer absurden und verkehrten.


    Lieber Holger,
    was den religiösen Lehren und Verkündigungen welches Zeugnis ausstellt?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • was den religiösen Lehren und Verkündigungen welches Zeugnis ausstellt?


    Lieber Horst,


    in Mahlers Erläuterung geht es gar nicht um Religion :) :


    "Das im Scherzo Ausgedrückte kann ich nur so veranschaulichen: Wenn du aus der ferne durch ein fenster einem Tanze zusiehst, ohne daß du die Musik dazu hörst, so erscheint dir Drehung und Bewegung der Paare wirr und sinnlos, da dir der Rhythmus als Schlüssel fehlt. So mußt du dir denken, daß einem, der sich und sein Glück verloren hat, die Welt wie ein Hohlspiegel, verkehrt und wiedersinnig erscheint. - Mit dem furchtbaren Aufschrei der so gemarterten Seele endet das Scherzo."


    Wenn man auf die Musik achtet, dann kommen im Trio die Engelstrompeten sozusagen als göttlicher Ordnungsruf. Die bewirken aber einfach nichts. Beim zweiten Mal klingen sie deshalb richtig zornig - passend zu der Dies irae-Leitmotivik, die in der 2. omnipräsent ist.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    willst Du damit sagen, dass Mahler die "Fischpredigt" als Thema des 3. Satzes rein zufällig gewählt hat, ohne seinen (vorhandenen?!) eigenen inneren Bezug zum Text?


    Wenn er konvertierter Katholik war, weil er sich gesellschaftlich anpassen wollte, wäre ein "offener" Textbezug wohl kontraproduktiv gewesen.


    Ich sehe in den von ihm verwendeten (und ergänzten) Texten an machen Stellen einen für mich nicht lösbaren Widerspruch (siehe meinen 1. Beitrag hier). Für mich war er entweder religiös und nicht gläubig oder gläubig, aber dann passt die Fischpredigt ganz hervorragend, auch wenn er das Thema "rein zufällig" wählt - was ich bei seiner ganz außergewöhnlich hohen Intelligenz für ausgeschlossen halte.
    Für mich ist "Tag der Rache, Tag der Sünden" eine religiöse Aussage - das "Dies irä..." bei Berlioz ist zwar musikalisch äußerst beeindruckend, höre ich aber ohne Text, bzw. höre die Musik als hervorragende Textverdeutlichung, dessen Text ich aber ablehne.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler