Liebe Taminos,
Gustav Mahlers 2. Sinfonie ist ein gewaltiges Werk und im Laufe der Beschäftigung mit ihr kamen mir einige Gedanken und Überlegungen in den Sinn. Überlegungen, die mir ziemlich plausibel scheinen, denen ich aber umso zaghafter begegne, da ich sie noch nirgends ausformuliert fand, so dass ich fürchte, mich auf einem gedanklichen Holzweg zu befinden.
Vielleicht ist es möglich, meine These hier zu formulieren und zu diskutieren. Sei es, um sie als längst bekannt zu bestätigen oder als unsinnig zu verwerfen.
These: Mahlers 2. Sinfonie erzählt die Geschichte eines Selbstmordes.
1. Satz:
Im Januar 1888 dirigierte Mahler die Premiere der von ihm vollendeten Weber-Oper „Die drei Pintos“. In der folgenden Nacht wurde er von einer Todesvision heimgesucht, in der er sich selbst auf seiner von Blumen umgebenen Todenbahre sah. Wenig später vollendete er seine 1. Sinfonie und trug deren Helden kurz darauf in dem sinfonischen Fragment Todtenfeier (dem späteren Kopfsatz der 2. Sinfonie) zu Grabe.
Mahler äußerte sich selbst zum Inhalt: "Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Mal an unserem geistigen Auge vorüber."* "[...]es ist der Held meiner D-Dur-Symphonie, den ich da zu Grabe trage, und dessen Leben ich in einem reinen Spiegel auffange. Zugleich ist es die große Frage: Warum hast du gelebt?"**
Als Hörer darf man neben dieser von Mahler explizit aufgeworfenen Frage auch die nach der Todesursache des Helden stellen. Zur Beantwortung bedarf es einiger Schritte zurück, die Mahler kompositorisch durch die folgenden Sätze tut.
2. Satz
Für den 2. Satz skizzierte Mahler zunächst einen Ländler in As-Dur, „eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorne Unschuld“*, „ein Sonnenblick aus dem Leben dieses Helden.“** Wenn die Vergangenheit einen Sonneblick darstellt, darf gemutmaßt werden, dass die späteren Zeiten als dunkel und düster empfunden wurden. Warum? Erhält man eine Antwort im dritten Satz?
3. Satz
Für den dritten Satz greift Mahler auf seine Vertonung des Wunderhorn-Liedes „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ zurück. In dem Lied wird die Geschichte des Heiligen Antonius erzählt, der, nachdem er die Kirche leer findet, den Fischen eine Predigt hält. Diese hören zwar aufmerksam zu, machen anschließend aber weiter wie immer. Antonius’ Wirken war also, mit einem Wort, sinnlos. Was bedeudet dies für den Helden der Sinfonie?
„Die Verneinung hat sich seiner bemächtigt, er blickt in das Gewühl der Erscheinungen und verliert mit dem reinen Kindersinn den festen Halt, den allein die Liebe gibt; er verzweifelt an sich und an Gott.“* Das Leben als „grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels auffahren.“**
Am Ende des dritten Satzes finden wir den Helden also mit Verzweiflung und Ekel über die Sinnlosigkeit des Lebens vor, musikalisch ausgedrückt durch rauhe Ausbrüche und den dissonanten Höhepunkt gegen Schluss des Satzes.
4. Satz
Im vierten Satz findet wir den Helden angesichts des Vorangegangen in niedergeschlagener, ja depressiver Gemütsverfassung wieder. Der Text des „Urlichts“ verdeutlicht die Todessehnsucht angesichts der Unbill des Lebens.
Der Mensch liegt in grösster Not,
Der Mensch liegt in grösster Pein,
Je lieber möcht' ich im Himmel sein.
Der Wunsch nach dem Himmel bzw. dem Jenseits wird offen ausgesprochen. Der unmittelbare Weg ins Jenseits führt über den Suizid. Doch nichts davon wird explizit. Stattdessen erfolgt eine inhaltliche Zäsur nach der Äußerung des Todeswunsches und das lyrische Ich befindet sich plötzlich auf einem Weg, auf dem ihm ein Engel begegnet.
Da kam ich auf einen breiten Weg,
Da kam ein Engelein und wollt' mich abweisen.
Die Vorstellung, dass sich das lyrische Ich im Jenseits befindet, ist angesichts der Begegnung mit einem Engel alles andere als abwegig. Stellt sich aber die Frage, aus welchem Grunde dieser Engel das lyrische Ich abweisen sollte. Unter Berücksichtigung der damals m.W.n. geläufigen Vorstellung, dass Suizid eine große Sünde sei und zum Ausschluss aus dem Himmel führe, wäre dies als Ursache für die Abweisung naheliegend. Das lyrische Ich protestiert:
Ich bin von Gott und will wieder zu Gott,
Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
Wird leuchten mir bis an das ewig selig' Leben!
5. Satz
Die abschließende Entscheidung fällt schließlich beim Jüngsten Gericht, dem monumentalen Schlusssatz der 2. Sinfonie:
Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du,
mein Herz, in einem Nu.
Dass Mahler sich mit solch existenziellen Fragen beschäftigte, halte ich für sehr wahrscheinlich; und erwähnenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die Tatsache des Suizids seines Bruders Otto, der sich 1895 im Alter von 21 Jahren erschoss. Laut Alma Mahler habe er in seinem Abschiedsbrief angegeben, dass ihn das Leben nicht mehr erfreue. Möglich also, dass Gustav Mahler selbst in seinen zwanzigern mit trübsinnigen Gedanken rang.
Was haltet Ihr von dieser Interpretation?
Quellen:
Die kursiv gedruckten Zitate stammen aus Mahlers eigener Hand und wurden aus den Booklets folgender Veröffentlichungen entnommen.
* Richard Osborne: Rattle dirigiert Mahler
** Robin Golding: Klemperer dirigiert Mahler