[timg]http://operaplus.cz/wp-content…e.jpg;l;350;497;*;Ludmila Dvořáková[/timg]
Die Frage ist so alt wie die Schallplatte selbst: Kann das Medium die Ausstrahlung von Sängern bewahren oder gar wiederherstellen, die einst das zeitgenössische Publikum ergriff? Bereiten uns die Töne aus Lautsprechern dieselbe Erschütterung, das gleiche Glücksgefühl wie einst? Erleben wir noch einmal jenes Staunen, das uns vor dreißig Jahren ergriff und das von vielen anderen Eindrücken offenbar nur überlagert, nicht aber wirklich getilgt ist? Ich trete in den Zeugenstand und schwöre, daß dies im Falle von Ludmila Dvořáková so ist – zumindest in jener Aufnahme, die im Zentrum dieser Betrachtung stehen soll: der „Lohengrin“ aus Bayreuth, mitgeschnitten am 26. Juli 1968, erschienen bei Golden Melodram. 1923 im tschechischen Kolin bei Prag geborenen, stieg die Dvořáková in den frühen sechziger Jahren an der Ostberliner Staatsoper Unter den Linden zu Weltruhm auf. Nach einem Gastspiel als Fidelio-Leonore hatte sie der Dirigent Franz Konwitschny aus dem Stand als Octavian im „Rosenkavalier“ engagiert. Damit zeichnete sich nach ersten Ausflügen ins jugendlich-dramatische Fach noch in der Tschechoslowakei (Rusalka, Figaro-Gräfin, Aida) zunächst eine Mezzo-Karriere ab. Ihre in die Tiefe neigende Stimme hätte das hergegeben. Es sollte anders kommen, weniger aus künstlerischen, denn – das dürfte einmalig sein – aus politischen Gründen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 setzte eine Zäsur im Leben der aufstrebenden Sängerin. Mehrere im Westen beheimatete hochdramatische Kolleginnen hatten Ostberlin den Rücken gekehrt und Ludmila Dvořáková sah sich plötzlich mit der Herausforderung konfrontiert, diese schmerzliche Lücke zu füllen – voller Selbstzweifel, die schwierige Aufgabe bestehen zu können. Sie bestand und eroberte sich in diesem Fach alsbald alle führenden Opernhäuser Europas, Nord- und Südamerikas.
Ihre Bühnenpräsenz war umwerfend. Eine schöne Frau von scheinbar ewiger Jugend - blond, natürlich, gertenschlank. Sie gab der Brünnhilde oder der Isolde nicht nur die angemessene Stimme sondern auch die einzig mögliche Gestalt. Wenn sie die Bühne betrat, kamen Ohr und Auge des Publikums gleichermaßen auf ihre Kosten. Es grenzte immer an Wunder, mit welcher Kraft sie selbst den größten Raum erfüllte, das größte Orchester übertrumpfte. Die Dramatik ihres auch höhensicheren Organs kannte scheinbar keine Beschränkungen. Das Letzte, was man sich bei ihren Auftritten vorstellen konnte, waren Lampenfieber und Nervosität, die sie nach eigenem Bekunden vor jedem Auftritt fast um den sprichwörtlichen Verstand gebracht haben sollen.
Trotz ihrer Vielseitigkeit machte sie um bestimmte Rollen einen großen Bogen und unterlag beispielsweise der Verlockung nicht, an der Metropolitan Opera die Turandot zu singen. Hätte sie das nicht doch gekonnt? Das ist die typische Frage der Fans, die sich gern nach dem verzehren, was nicht ist. Ludmila Dvorakova hat anders entschieden und damit ohne Zweifel ihre Karriere verlängert, die an ihrem Stammhaus, der Deutschen Staatsoper Berlin, 1987 endete, ohne dass sie sich dort zum Abschied eine Traumrolle verwirklichen konnte, die ihr ohne Zweifel zugestanden hätte – die Küsterin in der Oper „Jenufa“ ihres Landmannes Leos Janacek. Aber in der DDR mangelte es auch bei solchen Gelegenheiten an Stilempfinden.
Auf den Grünen Hügel kam sie erstmals 1965 und trat dort in insgesamt fünf Sommern in Folge als Venus, Ortrud, Kundry, Brünnhilde und auch als Gutrune in Erscheinung. Offiziell ist nur die Gutrune in der legendären bei Philips erschienen Gesamtaufnahme des „Ring des Nibelungen“ unter Karl Böhm überliefert. Das ist wenig, wenngleich diese an sich undankbare Partie nie eindringlicher als durch sie gegeben worden ist. Aber es war über Jahre ja immer Bayreuther Besetzungspolitik, daß sich beispielsweise die Kundry von heute bereits morgen als Norn oder eben Gutrune wiederfand. MARTHA MÖDL hat das ebenso völlig uneitel praktiziert wie Astrid Varnay, und die Botschaft ist, daß es in den Werken Richard Wagners keine sogenannten unwichtigen Rollen gibt. Diese Art von Ensemblegeist wurde nirgends sonst so konsequent gepflegt wie in Bayreuth zu Zeiten von Wieland Wagner und noch einige Zeit danach. Und die Künstlerin selbst erzählt gern, daß in einer „Götterdämmerung“ gleich vier Brünnhilden auf der Bühne versammelt waren: Birgit Nilsson, die Varnay als dritte Norn, die Mödl als Waltraute und sie selbst als Gutrune.
Wer sich also für die Dvořáková interessiert – und das sind auch heute nicht wenige Musikfreunde, die ihre persönlichen Erinnerungen weitertragen und auf diese Weise der Künstlerin neue Fans zuführen – kann neben Ring und Lohengrin auf eine in Prag produzierte Wagner-Schallplatte von Supraphon (Elisabeth, Isolde, Sieglinde und Brünnhilde) zurückgreifen. Sie ist aus unerfindlichen Gründen bisher nicht auf CD veröffentlicht worden, in Antiquariaten oder auf Flohmärkten aber noch zu finden – auch als Ausgabe bei Ariola-Eurodisc. Ebenso längst vergriffen ist eine weitere frühe tschechische LP, auf der sich die Szene Senta-Erik aus dem „Fliegenden Holländer“ mit dem unvergessenen DDR-Heldentenor Ernst Gruber findet. Nicht zu reden von verschollenen Szenen aus der Dvorak-Oper „Dimitrij“ und einer kleinen Platte unter anderem mit der Arie der Santuzza. Greifbar als CD indessen ist der „Lohengrin“-Querschnitt von Eterna mit der Szene zwischen Ortrud und Telramund zu Beginn des zweiten Aufzugs. Mehr wäre nicht, wenn es da nicht das umsichtige Golden-Melodram-Label gäbe, das besagtem Lohengrin bereits die Bayreuther Venus von 1966 voranschickte. Wer sich aber als hartnäckiger musikalischer Pfandfinder betätigt, der stößt schon mal auf Radiobänder von „Götterdämmerung“ und „Tristan" unter GEORG SOLTI aus London, auf Brünnhilden aus Nizza, Düsseldorf oder Genf, die Ariadne aus San Francisco, die Sieglinde (erster Akt „Walküre") aus Budapest beziehungsweise Kopenhagen oder auf die Katerina Ismailowa aus Wien, die übrigens ihre erste Bühnenrolle nach dem Gesangsstudium war. Auch die Ortrud an der Metropolitan Opera New York von 1968 hat sich in den USA als Radiokonserve in privaten Sammlungen erhalten.
Doch kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt, den Bayreuther „Lohengrin“, zurück, der nicht nur wegen der „Dvorscha“, wie sie Fans gern nennen, die Anschaffung lohnt. Der von ALBERTO EREDE mehr bodenständig als übersinnlich dirigierte Mitschnitt bietet weitere große Namen der Zeit auf. Die Titelpartie gibt JAMES KING mit großem heldischem Zuschnitt, lyrische Töne spart er sich vor allem für die Gralserzählung auf. HEATHER HARPER ist als Elsa sehr reif und dramatisch, paßt dadurch aber gut zu King und kommt vor dem Münster und in der Brautgemachszene stimmlich nicht unter die Räder. KARL RIDDERBUSCH trumpft in gewohnter Zuverlässigkeit als König Heinrich gebieterisch und majestätisch auf. Der raue und körnige DONALD MCINTYRE ist ein nahezu idealer Partner der Dvorakova, die ihren üppigen dunklen Sopran, der auch in extremen Höhen triumphiert, ganz dem Drama unterwirft. Sie umhüllt die Außenseiterin Ortrud mit einem düsteren Geheimnis, zu dem niemand Zugang findet, schon gar nicht der einfältige Telramund. Und genau darauf beruht ihre Macht, die auch dann nicht eigentlich zerbrochen ist, wenn der verzauberte Gottfried durch den gottgesandten Gralsritter seine Menschengestalt zurückerlangt. Diese Ortrud – und dafür steht die Dvořáková mit unerschöpflichen stimmlichen Reserven - behält mit ihrem wilden Auftritt am Schluß das letzte Wort des Werkes. Sie überlebt. So hat man das selten gehört. Die CD gibt uns eine Sternstunde des Musiktheaters zurück.
Am 11. Juli hat Ludmila Dvořáková ihren 90. Geburtstag bei guter Gesundheit gefeiert. Sie lebt jetzt wieder in Prag, ihrer eigentlichen Heimatstadt.
In Verehrung und Dankbarkeit für diese wunderbare Frau
Rheingold