Da es in diesem Forum schwerpunkthaft um Musik geht, die im 18. und 19. Jahrhundert geschrieben wurde, darf die Frage gestellt werden, wie nah und nachvollziehbar die Gefühlswelten, die in diese Kompositionen eingeflossen sind, für uns Heutige eigentlich noch sind? Sprechen uns diese wirklich unmittelbar an, können wir unmittelbar anknüpfen? Oder gelingt uns mitunter nur ein gelehrt-wissendes Nachvollziehen? Oder ist das, was wir hinein hören, mitunter gar ein Missverständnis?
Die Frage ist entstanden in dem Thread zu vermeintlich überbewerteten Kompositionen, in dem ich einige Passagen aus Sibelius 1. Sinfonie als für mich trivial klingend bezeichnet habe. Was vielleicht daran liegt, dass die Tonsprache dieser Passagen mittlerweile durch ähnlich klingende Filmmusik trivialisiert ist - und damit überdeckt, sodass ein ursprünglicher Zugang für mich nicht mehr möglich ist.
Wie ist es mit Gefühlswelten wie zum Beispiel in Schumanns Liedzyklus "Frauenliebe und -leben", dem vorgeworfen wird, dass er das Glück des weiblichen lyrischen Ichs vollkommen an der Existenz als Liebende, Ehefrau und Mutter festmacht? Wie ist es mit der Komposition "Ein Heldenleben" von Richard Strauss, in dem er sich selbst zum Helden wilhelminischer Prägung stilisiert? Mit Tschaikowskis "Pathetique"? Sind solche Werke noch unmittelbar zugänglich, oder können sie bestenfalls noch als "Orchesterspektakel" gehört werden?
Was ist mit den zahlreichen Tränen, die in Liedern des 19. Jahrhunderts vergossen werden? Mit den "Blümelein", "Rößlein" und "Feinliebchen" in der Lyrik? - Ausdrucks- und Sprachformen, die uns fremd geworden sind? Wie hört/lest ihr das heute?
Um ein Beispiel aus der Literatur zu verwenden: Über Thomas Mann sagte jemand, dass die Ironie, die in seinem Werk ein wichtiges Element sei, bald für Leser nicht mehr nachzuvollziehen ist, weil das Wertesystem, welches sie ironisiert, schlicht nicht mehr geläufig sei.
Ist das eventuell sogar die größte Gefahr für die klassisch-romantische Musik, viel gefährlicher als Musikindustriekrise und Tonträgerfraß - dass sie vielleicht zukünftig nicht mehr ausreichend verstanden wird?
Christian