Der Unbekannte: GABRIEL CHODOS

  • Liebe Forianer,


    Zhu Xiao-Mei macht in ihrer sehr lesenswerten Autobiographie "Von Mao zu Bach: Wie ich die Kulturrevolution überlebte" auf ihren Lehrer, den Pianisten Gabriel Chodos aufmerksam. Seine Art zu unterrichten und seine originellen Gedanken über Klaviermusik - so wie Xiao-Mei sie beschreibt - haben mich neugierig gemacht. Auch Chodos' rigorose Konzentration auf Bach, Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms finde ich interessant - anderes Komponisten spielt er in der Öffentlichkeit wohl nicht. Viele Informationen über ihn gibt es nicht, sein Lehrer war ein Student von Arthur Schnabel.


    Und es gibt einige wenige Aufnahmen. Aber die haben es in sich und ich möchte sie Euch ans Herz legen. Mir ist seit Jahren keine intensivere Einspielung von Schubert c-Moll Sonate D.958 begegenet, weiter dürfte er einer der wenigen Pianisten sein, bei denen die B-Dur Sonate D.960 nicht in zwei Teile zerfällt. Sein Spiel ist unverbraucht und ohne jede Routine - das aber im besten Sinn. Man meint diese bekannten Stücke wie zum ersten Mal zu hören. Ein Highlight ist auch die schwer zu bewältigende Sonate G-Dur D. 894. Im Vergleich zur jüngsten Aufnahme von Paul Lewis, der hier sehr stürmisch und oberflächig vorwärts drängt, ist das eine ganz andere Welt. Chodos lässt sich Zeit und lotet die expressive Seite der Stücke maximal aus. Wie nur wenige hat er in der G-Dur Sonate im ersten Satz die Unabhängigkeit von rechter und linker Hand begriffen. Das ist eben kein vorwärtsdrängender Satz, wie Lewis (den ich ansonsten schätze) und auch sein Lehrer Alfernd Brendel meinen (Molto moderato e cantabile!). Chodos verfügt über ein immenses Spektrum an Klangfarben und Anschlagsvarianten. Aber nichts wirkt gewollt, alles ergibt sich organisch aus der Musik.


    Hier die erwähnten Aufnahmen:



    Es gibt noch eine Aufnahme von Beethovens op. 111 und 106, ergänzt jeweils mit Stücken von Brahms und Schumann. Das wars. Die Hörbeispiele aus dem ersten Satz von op. 106 lassen eine sehr leidenschaftliche Aufnahme vermuten. Ich werde sie mir noch besorgen. Wie oft sind diese Aufnahmen am günstigsten als mp3-Download bei Saturn zu bekommen. Dies nur als Hinweis.


    Hat jemand Gabriel Chodos schon einmal live erlebt?


    Viele Grüße,


    Christian

  • Lieber Christian,


    mit war Gabriel Chodos bisher auch kein Begriff! Heute habe ich die Schubert-Sonaten von ihm gehört: D 958-960. Wenn man mit der D 958 beginnt, erschreckt man ja zunächst ein bisschen. Das ist sehr forsch - für meinen Geschmack zu forciert. In den schnellen Sätzen vermisse ich dann doch die Fähigkeit, die Musik selber laufen und aus sich heraus sich organisch entwickeln zu lassen. Allerdings die langsamen Sätze sind grandios! Besonders der aus D 959 ist wirklich überragend gespielt! Und die B-Dur-Sonate? Er nimmt das langsame Tempo von Svjatoslav Richter. Das liegt ihm. Hier kommt ihm seine Fähigkeit zur expressiven Phrasierung zugute. Der zweite Satz gefällt mir dann nicht ganz so gut. Da sind mir die rhythmischen Strukturen nicht streng genug - die vielen kleinen Rubatis stören etwas die Konzentration. Das Finale ist mir dann wieder ein kleines bisschen zu direkt. Da fehlt dann doch so etwas wie Gebrochenheit. Insgesamt bin ich ein bisschen hin- und hergerissen zwischen den unglaublich eindringlich gestalteten langsamen Sätzen und den etwas zu positivistisch vordergründigen schnellen Sätzen. Deswegen habe ich mir danach die B-Dur-Sonate mit Sergio Fiorentino angehört... Was es doch alles für interessante Pianisten gibt, die man nicht kennt! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • ... Insgesamt bin ich ein bisschen hin- und hergerissen zwischen den unglaublich eindringlich gestalteten langsamen Sätzen und den etwas zu positivistisch vordergründigen schnellen Sätzen.

    Lieber Holger,


    ich stimme Dir weitgehend zu, nur verstehe ich nicht, was Du mit den "etwas zu positivistisch vordergründig [gestalteten] schnellen Sätzen" meinst. Gerade die schnellen Sätze der Sonaten spielt er ja eher langsam, bohrend und lotet sie in ihrer expressiven Wucht aus - ohne dass sich dabei jedoch der natürliche Spielfluss verlieren würde - finde ich zumindest. Das ist im Unterschied zu den gewollten Manierismen, wie sie Tzimon Barto bei der G-Dur Sonate zelebriert, eben doch noch alles im Fluss. Leider habe ich von D. 958 keine Noten, sonst würde ich da gerne ins Detail gehen. Da gibt es im ersten Satz Passagen, die sind geradezu bestürzend abgründig, - Du schreibst "forciert", was jedoch bedeutend würde, dass er da übertreibt. Ist das wirklich so? Ich meine vielmehr, dass er die vorhandenen disharmonischen Kontraste nicht wie sonst gerne üblich einebnet. Muss mir doch die Noten besorgen...


    Hier noch das Cover von Zhu Xiao-Meis Autobiographie, in der sie von Chodos erzählt:



    Viele Grüße,
    Christian

  • Leider habe ich von D. 958 keine Noten, sonst würde ich da gerne ins Detail gehen.


    Lieber Christian,


    ich habe natürlich die Noten :) - und bin ihm auf die Schliche gekommen - habe deshalb nochmals gezielt nachgehört. Es gibt zwei Aufnahmen, die sich vorbildlich am Notentext orientieren - das sind Wilhelm Kempff und Maurizio Pollini. Ganz offensichtlich hat Chodos sich aber an der alten Philips-Gesamteinspielung von Alfred Brendel aus den 70igern orientiert. Brendel wollte sich damals offenbar deutlich von Kempffs melodischem Stil absetzen und beginnt sehr forsch - der Schubert klingt auf einmal wie derb-deutscher, fast schön bäuerlicher, stürmender und drängender Beethoven. Dabei werden Schuberts Notierungen im "leisen" Bereich schlicht ignoriert. Takt 21, wenn das fließende Hauptthema beginnt, steht p - Brendel spielt sehr vordergründig mf. Dann kommt das Seitenthema Takt 39 ff. Da soll man nach Schubert p und pp spielen. Bei Brendel ist das unglaublich hölzern - fast schon f !!! Was dagegen Brendel und Pollini da "zaubern" im Pianobereich, ist einfach aufregend. Schon der Einsatz im Forte wirkt bei Kempff höchst eindrucksvoll, wie er hier nämlich charakterisiert, einen sogar leicht tänzelnden Marschduktus heraushört - das hat genialische Züge! Bei Brendel ist das einfach nur unwirsch und sonst nichts - ein polterndes, häßliches Forte. Bei Chodos geht das dann in genau diese Richtung - nur noch schlimmer als bei Brendel! Brendel phrasiert nämlich zumindest präziser, daß es nicht ganz so lärmig klingt wie bei Chodos. Leider habe ich die späte Einspielung Brendels nicht - es könnte sein, daß er das auch deutlich anders spielt als in jungen Jahren.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    der Blick in die Noten ist doch immer wieder überraschend - tatsächlich sind im ersten Satz der c-Moll Sonate viel mehr p und pp notiert, als ich es bei diesem stürmischen Werk je vermutet hätte! Kempff und Pollini setzen das genau um, wobei ich Kempff insgesamt etwas zu harmlos finde. Die alte Brendel-Aufnahme hat mir eigentlich immer gut gefallen, besser jedenfalls als die neue, und Brendel betont hier ganz klar das Stürmische. Richter wäre hier auch spannend, haben ihn forsch in Erinnerung. Chodos betont bei dieser Sonate das Vorwärtsdrängende und weniger das Lyrische. Gerade deshalb mag ich diese Aufnahme sehr, aber Du hast schon Recht, er geht über das eine oder ander p hinweg. Trotzdem gehören diese Schubert-Aufnahmen für mich zu den große Entdeckungen der letzten Zeit. In der G-Dur Sonate wählt er ja wie gesagt einen völlig anderen Ansatz als Brendel, ich glaube auch nicht, dass er sich bei der c-Moll Sonata etwas abgeschaut hat.


    Viele Grüße,
    Christian

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