Peter Iljitsch Tschaikowski (1840-1893):
SCHWANENSEE
(Лебединое Озеро, Swan Lake, Le Lac des cygnes)
Ballett in vier Akten von Wladimir P. Begitschew und Wassilij Geltzer nach deutschen Märchenmotiven
Uraufführung am 20. Februar 1877 im Moskauer Bolschoi-Theater, Erstaufführung der revidierten Fassung am 15. Januar 1895 im St. Petersburger Marijnskij-Theater
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Prinz Siegfried: auf Brautschau
Odette: Echte Schwanenkönigin in Weiß
Odile: Falsche Schwanenkönigin in Schwarz
Rotbart: Zauberer, der auch als Eule auftritt
Benno: Freund von Siegfried
Weitere: Königinmutter, sechs Heiratskandidatinnen, Schwäne
Ort und Zeit der Handlung: Deutschland im Mittelalter
ERSTER AKT
Nach der Introduktion werden die Zuschauer in den Schlosspark geführt, wo Siegfried, der Kronprinz eines imaginären Königreiches, mit seinen Freunden seine Volljährigkeit in ausgelassener Stimmung feiert. Das ruft die Königin auf den Plan, die ihren Sohn ermahnt, jetzt Verantwortung zu übernehmen und nicht nur unbeschwert den Tag zu lgenießen. Sie erinnert ihn an seine Pflicht, für den Fortbestand der Dynastie zu sorgen. Da könnte der am kommenden Tag stattfindende Hofball, so meint sie, eine gute Gelegenheit sein, unter den jungen Damen der Gesellschaft eine geeignete Braut zu finden.
Zunächst lässt sich das junge Volk aber nicht den Spaß an der Freude verderben und tanzt einfach weiter - hier erklingt als ein erster Höhepunkt des Balletts der berühmte Walzer. Die Mahnung der Mutter hat Siegfried so ein wenig die Stimmung verdorben, er reagiert mit Melancholie auf ihre Ansage. Als in diesem Augenblick am Himmel stolze Schwäne vorüberfliegen, blickt er ihnen nach, und sicherlich hätte er den Vorschlag gemacht, den jedoch sein Freund Benno ausspricht: gemeinsam einen Jagdausflug zu machen. Siegfrieds Melancholie ist schnell wieder verflogen.
ZWEITER AKT
Das Bild hat zum Schwanensee gewechselt, der in der Nähe des Schlosses liegt. Auf dem stillen See, den die Geburtstagsgäste um Mitternacht erreicht haben, ziehen im Mondlicht die Schwäne ruhig ihre Bahn, angeführt von ihrer Königin Odette. Genau in dem Moment, da Siegfried auftaucht, kommen die wunderschöne Schwanenmädchen aus dem Wasser. Siegfried vergisst sein Jagdfieber, als eine wunderschöne Fee vor ihn tritt und ihm erzählt, dass sie in Wirklichkeit eine Prinzessin sei, die von dem Zauberer Rotbart entführt und in einen Schwan verwandelt wurde. Mit großem Interesse hört Siegfried, dass sie von dem bösen Zauberspuk nur derjenige erlösen kann, der ihr ewige Liebe und Treue schwört. Des Prinzen Entschluss ist ebenso schnell gefasst, wie seine Liebe zu Odette entbrannt ist: er schwört, vom Liebreiz der Schwanenkönigin überwältigt, der Prinzessin ewige Treue. Und er bittet sie für den nächsten Tag zum Hofball um dort die Hochzeit zu verkünden. Doch der Tiefschlag kommt für Siegfried sofort: Odette gesteht, dass der Zauber, in ihrer wahren Gestalt zu erscheinen, nur in der der Zeit von Mitternacht bis zur Morgendämmerung wirkt.
In ihrem Verliebtsein haben beide nicht die Eule bemerkt, die sie belauscht hat: es ist der Zauberer Rotbart. Die Liebenden verlassen die Lichtung, denn die anderen Schwäne, ebenfalls von Rotbart verzauberte Menschen wie Odette, sind durch die Jagdgesellschaft in Gefahr. Siegfried gelingt es aber noch rechtzeitig , seine Freunde vom Töten abzuhalten.
Als tänzerische Höhepunkte dieses Aktes muss man den bewegenden „Pas de deux“ (auch Weißer-Schwan-Pas-de-deux benannt) für Odette und Siegfried, den „Pas de quatre“ der vier kleinen Schwäne und den „Schwanentanz“ Odettes anführen.
DRITTER AKT
Das neue Bild führt das Publikum in den festlich erleuchteten Ballsaal des Schlosses. Das Fest wird von der Königin eröffnet, die zunächst die Botschafter der vielen fremden Länder begrüßt. Die Gesandten präsentieren sich in einem festlichen Reigen mit ihren bunten Trachten. Danach führt die Königin ihrem Sohn sechs standesgemäße junge Mädchen als Heiratskandidatinnen zu, mit denen Siegfried auch tatsächlich tanzt, von denen aber keine seinen Gefallen findet: er vermag Odette nicht zu vergessen. Siegfried lehnt daher alle Kandidatinnen ab - sehr zum Ärger seiner Mutter.
Da erscheint unerwartet ein neuer Gast mit einem wunderschönen Mädchen am Arm, die sofort Siegfrieds Aufmerksamkeit erregt: es ist der Baron Rotbart mit seiner Tochter Odile, die er in ein Double von Odette verwandelt hat, die zwar deren verführerisches Aussehen hat, und doch nur ihr negatives Ebenbild ist. Nur bemerkt Siegfried den Unterschied nicht, nimmt das schwarze Kleid von Odile nicht wahr; er ist überzeugt, seine geliebte Odette vor sich zu sehen.
Während die Botschafter der verschiedenen Nationen den Ball mit ihren Nationaltänzen, hier als Divertissements bezeichnet, bereichern, hat Siegfried nur Augen für seine vermeintliche Odette. Und obwohl die echte Odette zweimal versucht, Siegfried auf sich aufmerksam zu machen, damit ihr Prinz keinen Fehler begeht, bleibt er von ihren Ansprachen unberührt. Es kommt, wie es kommen muss: Siegfried bittet den Baron um die Hand seiner Tochter und schwört Odile/Odette, von Rotbarts Zustimmung angespornt, ewige Treue. Damit ist der der ursprüngliche, der echten Odette gegebene Treueschwur verfallen. In diesem Moment tritt die richtige Odette zum dritten Mal auf und Siegfried erkennt niedergeschlagen seinen folgenschweren Irrtum. Während Odettes Geist dem Prinzen erscheint, verlassen Rotbart und Odile mit offen zur Schau getragenem Triumph den Ball. Voller Verzweiflung, aber auch wütend über seine eigene Verblendung, rennt Siegfried zum See.
Zweifelsfrei ist der „Schwarze-Schwan-Pas-de-deux“ von Odile und Siegfried ein Höhepunkt dieses Aktes, aber auch die Nationaltänze sind musikalisch in jedem Fall und optisch je nach Inszenierung gleichermaßen interessant. Höchste Anforderungen an die Ballerina stellen auch die zweiunddreißig „Fouettés“*.
*Fouettés (von französisch „fouetter“, auspeitschen, im Ballett eine peitschend-rotierende Bewegung): Bei diesem Schritt steht der Ausführende auf einem Bein und peitscht mit dem anderen herum, um den Körper einmal zu drehen. Der Schritt kann sowohl aus der vierten Position oder von einem „Pas de bourrée en tournant" (Bourrée: französischer Hoftanz) beginnen. Eine Armhaltung ist für diese Übung nicht festgelegt. Sie kann daher variieren. (Zitat aus dem Ballettlexikon.) Für SCHWANENSEE wurde dieses Kunststück für Pierina Legnani in die Choreografie eingebaut, weil es ihre Spezialität war.
VIERTER AKT
Das Bild führt wieder zum See zurück. Hier warten die Schwanenmädchen auf Odettes Rückkehr, um von ihr die Neuigkeiten über den Ball im Schloss, vor allem aber auch die neuesten Nachrichten von Siegfried zu hören. Als Odette eintrifft, macht sie einen verstörten Eindruck, und der Bericht von Siegfrieds Treuebruch lässt die Mädchen entsetzt und ratlos zurück. Dann aber raffen sie sich auf, um Odette zu trösten; sie werden aber von Rotbart und seiner Entourage, den schwarzen Schwänen, in die Realität zurückgeholt: der Zauberer demütigt Odette vor den Schwanenmädchen.
Da kommt Prinz Siegfried hinzu und bittet zerknirscht Odette um Verzeihung, und sie verzeiht ihm tatsächlich seinen Fehler. Doch die schwarzen Schwäne zwingen Siegfried von Odette fort, verfolgt von einem rachsüchtigen Rotbart. Die Schwanenmädchen Odettes dringen in ihre Königin, Siegfried zu vergessen und sich lieber in Sicherheit zu bringen. Doch sie ist fest entschlossen, zu ihm zu halten.
In der Originalversion versucht der Zauberer nun, sowohl Odette und Siegfried als auch die Schwanenmädchen mit einer großen Wasserwelle zu ertränken. Doch Siegfried und seine Liebe siegen über Rotbart und das Böse: der Prinz rettet Odette - und die anderen Schwäne - aus den Fluten und trägt sie ans sichere Ufer; der Bann des Zauberers ist gebrochen. Petipa unternahm für seine Inszenierung jedoch eine Änderung: Odette ist überzeugt, dass nichts und niemand sie mehr retten kann und stürzt sich in die Fluten des Sees. Siegfried, der ohne Odette nicht mehr leben will, stürzt hinterher und stirbt ebenfalls. Aber zumindest für die Schwanenmädchen ist der Bann gebrochen, sie werden wieder zu Menschen.
Für das Ende des Balletts gibt es jedoch noch weitere Varianten:
Siegfried stürzt sich zuerst in den See, Odette springt ihm nach, um ihn zu retten - dabei kommt entweder sie oder er ums Leben, der/die Überlebende verbringt den Rest des Lebens in Trübsal.
Eine weitere Möglichkeit: Zwischen Siegfried und dem Zauberer kommt es zu einem Zweikampf, den der Prinz gewinnt. Durch den Tod des Zauberers erlangen Odette und die Schwanenmädchen ihre menschliche Gestalt zurück. Siegfried und Odette besteigen als Königspaar den Thron und leben vergnügt bis an ihr Ende.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Tschaikowskis Ballett gehört heute zum Standardrepertoire diese Genres. Die Moskauer Uraufführung aber war ein katastrophaler Misserfolg. Nicht nur, dass Ausstattung und Kostüme zu wünschen übrig ließen, war auch die Choreographie völlig unprofessionell, hatte man die Partitur gekürzt und Musik von fremden Komponisten eingefügt. Insofern kann der Misserfolg nicht verwundern, und die Absetzung des Stücks nach nur wenigen Vorstellungen auch nicht. Für den Komponisten eine bittere Erfahrung. Der Musikkritiker und Leiter des Moskauer Konservatoriums, Nikolai D. Kaschkin, schrieb in seinen Memoiren (Zitat nach Wikipedia):
„Der Ersatz der ursprünglichen Nummern durch eingeschobene wurde in immer höherem Grade praktiziert, und schließlich war fast ein ganzes Drittel der Musik von SCHWANENSEE durch Einschübe aus anderen Balletten ersetzt, zudem meist nur durchschnittlichen.“
John Cranko hat für seine Stuttgarter Inszenierung im Programmheft die seinerzeitige Situation folgendermaßen gekennzeichnet (bei Wikipedia):
„...geschichtliche Ereignisse wurden völlig geändert, Nationaltänze wurden in ganz falschen Ländern und total unpassenden Kostümen getanzt (..) Danach wurde vom Komponisten verlangt, eine Anzahl allgemein beliebter Rhythmen wie Polka, Galopp, Walzer oder Mazurka zu liefern.(...) Auch musste die Primaballerina von den Nummern befriedigt sein, und war sie es nicht, war es leicht, die Stücke zu streichen - unbekümmert darum, ob die musikalische Sequenz unterbrochen wurde oder nicht.“
Der große Umschwung kam mit der Inszenierung von Marius Petipa (verantwortlich für den 1. und 3. Akt) und Lew Iwanow (zuständig für den 2. und 4. Akt) am St. Petersburger Marijnskij-Theater im Jahre 1895. Tschaikowskis Bruder Modest hatte die Partitur im Auftrag des Theaterdirektors Iwan Wesewoloschki überarbeitet. Allerdings war auch dieser Fassung zunächst nur ein mäßiger Erfolg beschieden, galt sie doch als unautorisiert. Aber diese Arbeit beeinflusste die weitere Aufführungspraxis, was insofern verwunderlich ist, da Petipa nicht mit einem Erfolg gerechnet hatte. Er hinterließ weder Skizzen für seine Choreographie noch für den Umgang mit ihr nach seinem Tod irgendwelche Verfügungen. Die erste als einigermaßen vollständig zu bezeichnende Aufführung brachte ein Emigrant 1934 nach London: Nikolai Sergejew, und 1969 erst lernte der Westen die Inszenierung des Kirov-Balletts kennen.
Neben John Cranko (Stuttgart 1972/1973) gibt es noch eine vielbeachtete Inszenierung von George Balanchine (New York). Zu den bekanntesten Neuinterpretationen dieses Balletts gehört John Neumeiers „Illusionen - wie Schwanensee“, das seine Uraufführung 1976 in Hamburg erlebte. Noch erfolgreicher war allerdings „Matthew Bourne's Swan Lake“, 1995 im Londoner „Sadler's Wells Theatre“ uraufgeführt; der Choreograph ließ die Schwäne ausschließlich von Männern tanzen. Diese Interpretation feierte große Erfolge auf Tourneen durch Europa, Nordamerika und Japan.
© Manfred Rückert für Tamino-Ballettführer 2013
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Reclams Ballettführer von Horst Koegler und Helmut Günther
Tschaikowski-Biographie von Nina Berberova (Rowohlt)
Wikipedia