Liebe Taminos,
es ist doch sehr interessant, wie hoch es wieder her geht bei der Frage, ob Richard Wagner nun der Größte der Größten sei, oder Josef Grün den Singvogel schlechthin abgeschossen habe. Bei der Frage, welche Maßstäbe eigentlich für derartige Aussagen maßgeblich sind, und vor allem bei der Frage, warum großartige Opern (vorwiegend aus dem slawischen Bereich, nach meiner Befürchtung) nicht den Weg in den Westen finden, kam mir des Öfteren der Gedanke, dass es bei einer Oper, der (im besten Sinne des Wortes) merkwürdigsten Kunstgattung, möglicherweise drei verschiedene Naturen im Opernpublikum geben könnte. Eventuelle leichte Polemik ist gewollt, und falls jemand von Euch Ironie findet, darf er sie behalten:
Gruppe I: Die Theaternaturen. Die Inszenierung muss "stimmen", die Handlung sollte fesselnd, vielleicht auch dramatisch, sein. Und wenn die Musik der Diener der Handlung ist, um so besser: so ist sie auch dem Ganzen dienlich. Das Gesamte setzt sich zusammen aus einer Dichtung, die eigentlich keine sein darf (im Sinne Oskar Werners kann der Zuhörer "durch die Jalousie schauen, und sehen, wie das Ganze gemacht ist", was bei einer echten Dichtung nicht möglich ist), weil die Musik ebenfalls ihren Raum beansprucht, einerseits weil sie ergänzen muss, was "undicht" ist, und andererseits zwei Paralleluniversen von Dichtung und Tondichtung dem Gesamtkunstwerk nicht unbedingt zuträglich ist. Das Ergebnis ist eine hervorragende Schauspielmusik mit harmonischen Neuerungen, einigen großartigen formalen Details -- nur eben kein "musikalisches" Kunstwerk im "eigentlichen" Sinne.
Gruppe II: Die Zirkusnaturen und die kulinarischen Genießer. Auch das hat seine volle Berechtigung! Welche Koloratur ist die schwierigste der Welt, wer meistert sie heutzutage am Besten? Die Handlung muss nicht gerade in Gestalt einer Norne aus einer verstaubten Kiste entsteigen und sich Gnitaheides Staub aus dem Gewande klopfen. Die Musik ist das Entscheidende. Eine Ouvertüre, die der Meister gleich dreimal verwendet, gleichgültig, ob für eine komische Oper oder für eine tragische -- egal! Der Genuß ist entscheidend. Wenn die Musik in mir etwas verändert -- um so besser. Aber das Ergötzen ist ebenso wichtig.
Gruppe III: Besucher, die eine Oper in erster Linie als musikalisches Kunstwerk betrachten (leider fällt mir keine einzelne Bezeichnung dafür ein, die passend wäre). Das Problem: Für derartige Werke ist nicht unbedingt eine Bühne nötig. Die Geschichten müssen nicht unbedingt "dramatsich" sein oder in dem Sinne aristotelische Tiefe aufweisen, als dass die Erde nur durch den Menschen mitsamt seinem Wohl und Wehe ausgetauscht wurde. Entscheidend ist die Frage, ob die Verse musikabel sind und eine in allen Details feine Charakterzeichnung zulassen. Das wartende Mütterchen an der Bushaltestelle ist ja schließlich schon Drama genug.
Alle drei Gruppen haben ihre Berechtigung, meine ich, aber so unterschiedlich wie die Naturen sind natürlich auch ihre Maßstäbe, was die Größe eines entsprechenden Meisters betrifft. Könnte es sein, dass eine beträchtliche Zahl slawischer Werke gerade zu dritten Gruppe gehören? Was meint Ihr? Die westliche Oper hat ja durchaus ihre Mühen, junge Ohren anzulocken. Aber noch vor nicht allzu langer Zeit gingen in Russland und in Tschechien (immer noch) Kinder, sogar sehr junge, in die Oper; Volkstheater im besten Sinne des Wortes (?).
Gruß an alle
Heiko