"Ein Komponist findet sich in einem Dichter.“
Es gibt bereits einen Thread zu den Liedern Hugo Wolfs. Ausweislich seiner Zielsetzung ist er allgemein-deskriptiver Art, weist also keine zentrale Fragestellung und keinen thematischen Schwerpunkt auf. Hier aber soll es genau darum gehen: Ein Sich-Einlassen auf die Lied-Komposition Hugo Wolfs unter einer ganz spezifischen Fragestellung. Das rechtfertigt – aus meiner Sicht – die Einrichtung eines Parallel-Threads. Er hat eine den bereits bestehenden Thread ergänzende, ihn inhaltlich und perspektivisch erweiternde Funktion.
Diese den Thread inhaltlich und strukturell prägende, zentrale Fragestellung ist komplexer Art. Bringt man sie auf ihren Kern, so wäre sie sprachlich so zu fassen:
Welche Auswirkungen und welche Folgen hat die Begegnung Wolfs mit dem lyrischen Werk Mörikes für die musikalische Substanz und die spezifische kompositorische Faktur seiner Lieder?
Diese Fragestellung lässt erkennen: Der Thread ist in seinem Ansatz zweipolig. Es soll dabei sowohl um Hugo Wolf und damit um die musikalische Dimension des Themas gehen, als auch soll die literarische, die speziell lyrische Komponente eine angemessene Berücksichtigung finden.
Von Hugo Wolfs erstem Biograph, Ernst Decsey („Hugo Wolf. Das Leben und das Lied“, Berlin 1919), stammt die Feststellung: „Wolf hat Mörike von der Literatur erlöst … der unbekannte Wolf hat den unbekannten Mörike entdeckt“. Das ist sprachlich ein wenig pointiert, aber es trifft den Kern der Sache.
Und ich würde hinzufügen: Hugo Wolf hat Mörike als lyrischen Dichter nicht nur „entdeckt“ und ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, er hat sich in ihm als Liedkomponist auch gefunden, - gefunden in dem Sinne, dass er sein genialisches Potential als Liedkomponist auf dem Weg einer Art Initialzündung in Form einer Begegnung mit einem wesensverwandten Lyriker zu entfalten vermochte.
Neben Hugo Wolf gibt es nur noch einen Komponisten, der sich in vergleichbarem Umfang und ähnlicher Intensität auf das lyrische Werk Mörikes eingelassen hat: Das ist Othmar Schoeck. Zu Lebzeiten Mörikes ließen sich – auf musikalisch unzulängliche Art – die schwäbischen Komponisten Ernst Friedrich Kauffmann und Louis Hetsch auf Mörikes Gedichte ein. Von Schumann gibt es sieben Vertonungen in Form von Liedern und Chören, von Johannes Brahms nur drei. Othmar Schoeck kommt in der Zahl seiner Lieder auf Gedichte Mörikes zwar beinahe an Hugo Wolf heran: Dieser dreiundfünfzig, jener sechsundvierzig.
Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied in der kompositorischen Intention, die beiden Wolf-Vertonungen zugrundeliegt. Ich brachte ihn im Thread zu den Liedern Othmar Schoecks auf den Nenner:
Während Hugo Wolf in gnadenloser, aber überaus beeindruckender musikalischer Deutlichkeit die tiefen Brüche in Mörikes Lyrik aufdeckt, will Schoeck mit seinen Mörike-Vertonungen hörbar werden lassen, dass der Riss zwischen Welt und Ich, der sich durch Mörikes Lyrik zieht, nicht endgültig ist, vielmehr überwunden werden kann.
Dieser „Riss zwischen Ich und Welt“ ist tatsächlich der tiefe Untergrund, in dem Mörikes Lyrik wurzelt, und aus dem sie entspringt. Man hat das lange gar nicht wahrgenommen und in seinen Gedichten die Ausgeburt eines die biedermeierliche Idylle pflegenden Dorfpastors gesehen, dessen dichterische Perspektive von dem Turmhahn gegenüber seinem Fenster ganz und gar ausgefüllt wurde.
Nur wenige haben zunächst erkannt, dass dies eine geradezu groteske Verkennung der Größe von Mörikes Lyrik ist. Hermann Hesse, einer der ersten, merkte hierzu in seiner Ausgabe von Mörike-Gedichten 1913 an:
„Er lebte in der manchmal bis zum Trostlosen gesteigerten Einsamkeit, die jeden Schöpfer ungewollt umgibt, und das tiefe goldige Leuchten, das seine Werke für Unzählige zu einem Jungbrunnen und Born der Lebensfreude gemacht hat, ist aus schwerem Leid und Kampf geboren.“
Und Friedrich Gundolf fügte dem, fast zwanzig Jahre später, hinzu:
(Mörikes Gedichte) „kommen nicht zuvörderst aus literarischer Ergriffenheit, der dann die eigene Stimmung einfiel, nicht aus der Wehmut lieblicher Gefühle, (…) sondern aus der jähen Erschütterung des Herzens, das sich der gerade begegnenden Erscheinungen bemächtigt mit den Bannformeln der deutschen Sprache.“
Der erste Komponist – und ich würde behaupten: der einzige - , der diesen existenziellen Unter- und Hintergrund der Lyrik Mörikes in vollem Umfang – und damit in der Vielfalt seiner lyrischen Erscheinungsformen – musikalisch kompromisslos erfasst hat, ist Hugo Wolf. Mit dem Wort „kompromisslos“ hebe ich ab auf Othmar Schoeck. Denn bei diesem habe ich immer wieder den Eindruck, dass er sich ein wenig scheute, sich der tiefen Zerrissenheit, die sich in Mörikes Lyrik immer wieder einmal zu Wort meldet, kompositorisch ganz zu öffnen.
Hugo Wolf tat das. Wahrscheinlich, weil es zwischen ihm und Mörike, was die existenzielle Grundbefindlichkeit anbelangt, eine tiefinnere Verwandtschaft gab.Und er „tat“ es in seiner von Richard Wagner her geprägten kompositorischen Grundhaltung. Nicht die allgemeine Stimmung der lyrischen Bilder eines Gedichtes sollte musikalisch eingefangen, sondern die Aussage des lyrischen Textes sollte im Zusammenspiel von Vokallinie und Klaviersatz in unmittelbarem Sich-Einlassen auf die sprachliche und Struktur und die Sprachmelodie musikalisch zum Ausdruck gebracht werden. Für den Zeitgenossen Claude Debussys wird dabei nicht nur das Melos in seiner spezifischen Struktur, sondern auch der situativ sich artikulierende Klang zu einem fundamental wichtigen Ausdrucksmittel.
Wenn dieser Thread den Nebentitel trägt „Ein Komponist findet sich in einem Dichter“, so soll dabei die Tatsache gewürdigt werden, dass Hugo Wolf in der Begegnung mit der Lyrik Eduard Mörikes eine Art kompositorischen Impuls erfuhr, der all seine Fähigkeiten als Liedkomponist schlagartig und fast rauschhaft freisetzte und zur Entfaltung brachte. Er besaß Mörikes Gedichte schon als Achtzehnjähriger und hütete sie wie ein Augapfel, so dass er sich weigerte, Henriette von Schey das Buch auszuleihen. Begründung: „Er könne sich einfach keine Stunde davon trennen.“
Wolf begann am 16. Februar mit „Der Tambour“. Nach fünf Tagen Pause setzte ein regelrechter Schaffensrausch ein, der bis zum ersten April anhielt. Im März entstanden zwanzig Lieder, am 18. Mai lagen dreiundvierzig Lieder vor. Ende Mai musste Wolf seine Wohnung in Perchtoldsdorf räumen. Die Mörike-Komposition wurde dadurch unterbrochen. Er widmete sich für einige Zeit den Gedichten Eichendorffs. Aber am achten Oktober notierte er, er habe soeben „wieder fleißig gemörikelt“. Am 26. November 1888 war mit dem Lied „Auf eine Christblume II“ der Mörike-Zyklus abgeschlossen. Er erschien unter dem Titel: „53 Gedichte von Eduard Mörike, für eine Singstimme und Klavier komponiert von Hugo Wolf“.
Zugleich impliziert der Nebentitel dieses Threads auch den Anspruch, bei den einzelnen Liedbesprechungen neben der Musik Hugo Wolfs auch die Lyrik Eduard Mörikes in der jeweils angemessenen Weise zu berücksichtigen. Gerade im Falle des Liedkomponisten Hugo Wolf ist das ja regelrecht geboten, lebte er doch kompositorisch mit diesen Gedichten regelrecht. Er las sie sich täglich immer wieder aufs Neue vor, notierte sich musikalische Motive, arbeitete sie am Klavier dann weiter aus und schrieb die Komposition dann nieder, - nahezu immer ohne weitere Korrekturen.
Es gilt also hier die Feststellung Erik Werbas:
„Mörike-Wolf ergibt eine dichterisch-kompositorische >Einheit in der Mannigfaltigkeit<, wie sie in der deutschsprachigen Literatur keine Parallele (auch nicht bei Goethe-Schubert, Heine-Schumann, Daumer-Brahms) aufzuweisen hat.“