Moderne Kadenzen in klassischen Konzerten - ja oder nein ?

  • In gewisser Weise ist dies ein ähnliches Thema wie dieses:


    Kadenzen: Ort der Kreativität oder nur ein Markt?


    Da aber die Fragestellung doch eine andere ist, und die eigentliche Inspiration zu dem hier vorliegendne Thread eigentlich aus einem weiteren stammt, habe ich mich entschlossen dieses Thema hier neu zu eröffnen und parallel zu führen.


    Es geht hier nicht sosehr um die Frage, ab Originalkadenzen - also vom Komponisten mitkomponierte - gespielt werden sollen, oder solche von berühmten Interpreten der Vergangenheit, welche einst schriftlich fixiert wurden - sondern welche Regeln beim Einfügen eigener heutiger Kadenzen eingehalten werden sollten, bzw müssen.
    Ja ich gehe sogar weiter, zu hinterfragen ob es solche Regeln - seien sie geschrieben oder ungeschrieben überhaupt gibt - und ferner - ob sie in der Vergangenheit zumeist eingehalten wurden - oder nicht.
    Kommen wir konkret auf ein berühmtes Violinkonzert zu sprechen, nämlich jenes von Beethoven op 61. Hier hat beispielsweise ein Forenmitglied geschrieben, daß ihn die von Gideon Kremer gewählten Kadenzen von Schnittke verstört haben. Ein gutes Thema zum Einstieg in diesen Thread, diese Kadenzen wurden zur Zeit der Entstehung dieser oft diskutierten Aufnahme von vielen als das Maß aller Dinge gesehen, von manchen verteufelt. Heute ist diese Aufnahme - so glaube ich zumindest - nicht mehr im Angebot. Der Thread soll aber auch Kadenzen anderer Instrumentalkonzerte, z.B. Klavier abdecken.
    Beispiele mit Hinweisen auf existierende Aufnahmen werden gern gesehen


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Der Hinweis auf die gewählte Kadenz von Gidon Kremer beim Brahms Vilionkonzert ist für diesen Thread noch interessanter, als im parallel laufenden Thread Kadenzen: Ort der Kreativität oder nur ein Markt?


    Zitat

    Interessant auch beim Brahms Violinkonzert D-Dur op.77 folgendes:
    Hier findet sehr oft die Kadenz von Joseph Joachim Anwendung.
    *** In einer der grössten Aufnahmen dieses Brahms-VC mit Gidon Kremer/Wiener PH/Leonard Bernstein (DG, 1983, DDD) wird die Kadenz des Komponisten Max Reger mit seinem Preludium d-moll verwendet.
    Gidon Kremer ist ohnehin bekannt ausgefallene Kadenzen zu wählen. Ich finds Klasse !

    Hier wird auch im 1.Satz eine moderne Kadenz von Max Reger gespielt, ohne das dies dem Brahms Konzert im geringsten schaden würde - im Gegenteil!
    Das sollte genau so wenig verstören wie Gidon Kremers Schnittke-Kadenz im Beethoven-VC.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Allzuviele Wellen hat dieser Thread ja nicht aufgewirbelt. Das mag zum Großteil daran liegen, dass der Trend, "moderne" Kadenzen in alte Werke einzufügen ein sehr kurzlebiger war. Dennoch werde ich suchen ob ich da noch etwas Interessantes finde.
    Meist spielt man - so vorhanden - Originalkadenzen des jeweiligen Komponisten. Der Rückgriff auf alte Kadenzen einstiger Interpreten-Größen ist heutzutage eher selten geworden. Das Überangebot an Aufnahmen bringt aber - vor allem junge - Interpreten dazu eigene Kadenzen im "alten Stil" zu spielen. Aber dami verlassenwir leider bereits wieder das eigentliche Thema dieses kurzen Threads....


    mit freundlichen Grüßen
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    das ist ein spannendes Thema! Beim Umgang mit Kadenzen hat es sich eingebürgert, entweder die vom Komponisten auskomponierten Kadenzen zu spielen oder im Falle von Mozart die von Beethoven. Warum aber eigentlich sollte das immer so sein? Denn ursprünglich war es ja wohl so, daß die Kadenz dem Intepreten Raum zum freien Improvosieren gab, sie gehört also durchaus nicht zum "festgelegten" Notzentext. Da ist einfach eine Tradition abgerissen in dem Bestreben einer "Kanonisierung" klassischer Werke. Eine Möglichkeit wird so nicht bzw. nicht mehr wahrgenommen, nämlich die Kadenz in der Richtung zu nutzen, daß der Interpret sich - aus seiner Zeiterfahrung heraus - mit der Musik eines Klassikers auseinandersetzt, sie dadurch neu beleuchtet, seine Rezeptionsperspektive damit produktiv einbringt. Kürzlich hörte ich ein Mozart-Konzert mit Alexis Weissenberg, der dort selbstkomponierte Kadenzen spielt. Und es gibt zu Mozarts Konzert KV 488 eine Kadenz von Ferruccio Busoni, die Horowitz spielt. Ich finde das sehr spannend. Ein besonders "extremes" aber auch zum Denken anregendes Beispiel ist Karlheinz Stockhausen in der unten abgebildeten Aufnahme. Kathinka Pasveer spielt dort - begleitet von Stockhausen selbst als Dirigent - Mozarts Flötenkonzert KV 313 mit Stockausens dafür eigens komponierten Kadenzen. Markus Stockhausen dazu Haydns Trompetenkonzert Es-Dur. Ich finde das eine ungemein produktive "Konfrontation" zweier musikalischer Welten - und das Konzept geht durchaus auf! Für mich ist das erfrischend und aufrüttelnd, die eher erstarrten Rituale des Konzertbetriebs auflockernd. :)



    Schöne Grüße
    Holger

  • Alfred hatte ja das Beispiel schon erwähnt: Schnittkes Kadenzen in Beethovens Violinkonzert. Ich wurde mit diesen Kadenzen vor Jahren in einem Konzert in Bamberg konfrontiert. Gidon Kremer war der Solist und Christoph Eschenbach dirigierte die Bamberger Symphoniker. Ich kannte die Kadenzen vorher nicht und wurde somit komplett (positiv) überrascht. Schnittke entfernt sich in seinem Stilmix anscheinend immer weiter von der Vorlage, um dann von Beethovens Paukenschlägen wieder ins Orchester zurückgeholt zu werden. Im dritten Satz erfährt die Solovioline dann Unterstützung von den Streichern. Ich war damals beim unvoreingenommenen Hören begeistert und legte mir die hochpreisige CD mit Kremer, Neville Marriner und der Academy of St.Martin-in-the Fields zu.
    Damit erlebte ich dann mehrere Überraschungen: 1) Nur ganz klein - auf der Rückseite - findet man den verschämten Hinweis, daß Kremer bei dieser Aufnahme die Kadenzen von Schnittke eingespielt hat. 2) Kremers glasklares Spiel in der Aufnahme gefällt mir ausgezeichnet, aber Marriner liefert ein recht konturloses Dirigat und setzt keine wirklichen Akzente, die Kremers Spiel unterstützen können. 3) Mein Vater, dem ich die Aufnahme vorspielte, konnte sich mit den Kadenzen so gar nicht anfreunden. Hier hatte mich eindeutig der live-Eindruck geprägt.
    Nach wie vor bin ich von den Schnittke-Kadenzen beeindruckt, bedaure aber, dass sie lediglich in einer orchestral mittelprächtigen Aufnahme vorliegen.
    Wer sich selbst ein Urteil bilden möchte, kann sich ja die erwähnte Aufnahme vom Label Philips zulegen (teuer), die von der DG in der Reihe Eloquence (günstig) neu aufgelegt und mit der Violinromanze Nr. 1 gekoppelt wurde. Die CDs müsste es in Restauflagen noch geben.

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  • Ich hatte ja schon den anderen Thread eröffnet, weil mir dieses Thema wichtig erscheint. Ich denke, dass es eine Verarmung darstellt, wenn (fast) nur noch alte Kadenzen gespielt werden. M.E. war es ja auch die INtention des Komponisten, sein WErk solle lebendig bleiben, indem er eine Kadenz einbaute. Es gäbe auch eine tolle Möglichkeit, einzelne Solisten darin zu erkennen, welche Kadenzen sie sich einfallen lassen. Und ein Stück durch den Lauf der Geschichte beobachten zu können ist doch auch ein toller Reiz.
    Gut, es mag genug Solisten geben, die herrlich spielen, aber ansonsten völlig unkreativ sind. ABer: Gehört nicht eine Prise Kreativität immer dazu?


    Mal ganz davon abgesehen, wäre es kommerziell natürlich interessant, denn die Unterschiede zwischen einzelnen Aufnahmen wären ja viel deutlicher.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich komme wieder zurück auf die Schnittke Kadenz. Sie wurde in der Tat 1981 als eine der ersten Digitalaufnahmen für das Label Philips aufgenommen. Als ich sie kaufte galt sie als "MUSS". Auf meinem Original Hochpreis -Exemplar war die Verwendung einer Kadenz von Schnittke sogar explizit am Coverbild vermerkt. Man versteckte sie also keineswegs


    http://ec2.images-amazon.com/i…03._SS300_SCLZZZZZZZ_.jpg


    Ich habe diese Kadenzen - trotz meiner schon damals konservativen Grundhaltung - zwar als gewagt empfunden, das Ergebnis indes als durchaus interessant gesehen, ja sogar faszinierend. Mein Interesse hat über meine Bequemlichkeit gesiegt und ich habe mir die Aufnahme herausgesucht. Die Kadenz am ersten Satzes finde ich schlichtweg für genial. Bei aller Modernität ist hier noch immer zu erkennen, dass es sich um eine Kadenz zu Beethovens Violinkonzert handelt.
    Auch die Kadenz im 3. Satz ist hörenswert, nein sogar mehr als das..!!!!!
    Interessanterweise finde ich sie nicht mehr so revolutionär, wie vor 30 Jahren



    Was Universal dazu bewogen hat ein und dieselbe Philips Aufnahme in der Serie Eloquence gleich zweimal zu veröffentlichen - einmal als DGG Aufnahme, dann als DECCA Einspielung deklariert - das wissen vermutlich nur die Universal Granden - und ehrlich gesagt, auch hier habe ich so meine Zweifel.......


    Seit 2011 gibt es - geringfügig teurer - und ohne "Füller" - dieselbe Aufnahme auch bei NEWTON.....



    mit freundlichen Grüßen
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Was Universal dazu bewogen hat ein und dieselbe Philips Aufnahme in der Serie Eloquence gleich zweimal zu veröffentlichen - einmal als DGG Aufnahme, dann als DECCA Einspielung deklariert - das wissen vermutlich nur die Universal Granden - und ehrlich gesagt, auch hier habe ich so meine Zweifel.......


    Ein erheiternder Gedanke, dass sich irgendwelche Granden bei Universal um die Inhalte von Billigserien kümmern sollten...


    Da sich die Covers im Layout unterscheiden, werden sich die beiden Ausgaben zeitlich unterscheiden. Eine ist die Nachfolgerin der anderen. Vermutlich ist die rechte die aktuelle, denn eloquence läuft bei Neuausgaben eigentlich immer unter dem Decca-Label.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Selten stehen die Urheber der Kadenzen bei den Angaben der Aufnahmen. Annerose Schmidts Einspielung aller Klavierkonzerte Mozarts (Kurt Masur, Dresdner Philharmonie) sowie Murray Perahias Gesamtaufnahme mit dem English Chamber Orchestra sind eine löbliche Ausnahme.


    In der Dresdner Aufnahme stammen die Kadenzen 15mal von Mozarts Hand, 6mal hat Paul Badura-Skoda zum Notenpapier gegriffen und Sätze vervollständigt oder eigene Kadenzen erstellt, je einmal stammen die Kadenzen von Ludwig van Beethoven, Andor Foldes und Edwin Fischer.


    Murray Perahia benutzt oft Mozarts Kadenzen in seiner Gesamtaufnahme. In 18 Einzelsätzen hört man Perahias eigene Kadenzen. Kadenzen von Hummel, Beethoven, Balsam und Serkin sind auch zu finden.
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Beim Anhören der Mozart-Konzerte mit Annerose Schmidt und der Dresdner-Philharmonie unter Kurt Masur sind mir die Kadenzen sofort aufgefallen. Die wohlgekannten Werke erhielten eine frische Note. Aha, sage ich mir, ja dieser musikalische Gedanke wird spannend weiterentwickelt.
    Die modernen Kadenzen gefallen mir, wenn sie neue Aspekte mir eröffnen und mit Verständnis für die Musik vorgetragen werden, in die sie eingebetet sind.
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Zur Eingangsfrage ein ganz klares "Ja!" mit besonderer Betonung des Konzertaspektes: Gerade in der direkten Konfrontation mit dem Publikum fände ich die Verwendung anderer Kadenzen, als der hinlänglich bekannten besonders reizvoll. Schließlich kann ich alles andere zuhause den lieben, langen Tag in zig verschiedenen Einspielungen "rauf und runter" hören ...
    Allerdings gehört hier wohl auch ein wenig der Mut dazu, dem Konzertbesucher eben nicht das Altbekannt-Erwartete zu bieten, sondern ggf. auch etwas zu verstören. Natürlich, ein Gideon Kremer kann sich das "erlauben", aber der aufblühende Jungstar wird sich da - insbesondere bei einer eigenen Kadenz - schwerer tun.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Zitat

    aber der aufblühende Jungstar wird sich da - insbesondere bei einer eigenen Kadenz - schwerer tun.


    Interessanterweise sind es gerade die aufblühenden Jungstars, die ihre eigenen Kadenzen spielen (wäre ein interessanter eigener Thread) weil sie sich ja profilieren wollen - speziell auf Tonträger, wo die Konkurrenz der "großen Alten" und "großen Toten" ja erdrückend ist.


    ABER: Sie spielen zwar oft interessante Kadenzen - aber meist ohne modische Extravaganzen, bzw modernen Touch - weil sie ja - wie oben schon erwähnt - das P.T. Publikum nicht verstören wollen....


    Aber um auch etwas Positives zum Thema beitragen zu können, nicht nur Stockhausen, sondern auch Penderecki und Romain Leleu haben zu Haydns Trompetenkonzert Kadenzen geschrieben. Alle 3 Versionen sind unter anderem auf dieser nicht gerade billigen Doppel-CD enthalten



    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !