STRAWINSKY, Igor Fjodorowitsch: THE RAKE'S PROGRESS

  • Igor Fjodorowitsch Strawinsky (1882-1971):


    THE RAKE'S PROGRESS
    (Die Karriere eines Wüstling)
    Oper in drei Akten und einem Epilog - Libretto von Wystan Hugh Auden und Chester S. Kallman


    Uraufführung am 11. September 1951 im Teatro La Fenice, Venedig


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Trulove, Bass
    Ann, seine Tochter, Sopran
    Tom Rakewell, Tenor
    Nick Shadow (im englischen für Teufel gebraucht), Bariton
    Mutter Goose (in England im 18. Jhdt. assoziativ für Syphilis gebraucht), Alt
    Baba, genannt Türkenbab, Mezzosopran
    Sellem, Auktionator, Tenor
    Wärter im Irrenhaus, Bass
    Chor, Statisterie: Diener, Dirnen, Irre, Burschen und Bürger


    Die Handlung spielt in England im 18. Jahrhundert.


    INHALTSANGABE


    ERSTER AKT: I wish I had money.


    Erstes Bild: Truloves Garten im Frühling; rechts das Haus, mittig die Gartenpforte, links eine Laube, in der Tom und Ann sitzen.


    Tom Rakewell und Ann Trulove sind verliebt und singen im väterlichen, frühlingshaft aufblühenden Garten über ihr Liebesglück. Anns abseits stehender Vater ist über diese Liaison nicht erfreut, für sich äußert er seine Bedenken, das Liebesduett damit zum Terzett erweiternd, über die sorglose Jugend. Als Schwiegersohn ist ihm Tom jedenfalls nicht recht; ihm schwebte ein Mann mit einer gesicherten Stellung vor. Da an der Situation aber nichts mehr zu ändern ist, muss er Tom wenigstens zu einer bürgerlich-geregelten Arbeit überreden, denn der leichtfertige Charakter Toms braucht eine straffe Führung mit festen Regeln. Tom lehnt Truloves Vorschlag jedoch zunächst rundheraus ab, sichert ihm aber schließlich doch zu, über diesen Vorschlag nachzudenken.


    Kaum ist Trulove gegangen, spottet Tom über die für ihn inakzeptablen Ideen des „alten Narren“; für ihn kommt nur ein freies und ungebundenes Leben in Betracht - aber mit Ann an seiner Seite. Er träumt von Glück, Geld und Reichtum - als plötzlich ein merkwürdiger Geselle auf die Szene kommt, der sich als Nick Shadow vorstellt. Er will wissen, ob er mit Tom Rakewell spricht und verkündet Tom nach dessen Bejahung „viel Gutes“.


    Das Gute sollen Trulove und Ann ebenfalls erfahren, deshalb ruft Tom seine Ann und ihren Vater zurück. Nick stellt sich den beiden formvollendet vor und berichtet von einem Onkel, der in der Ferne sein Glück gemacht, nun aber das Zeitliche gesegnet und seinem Neffen ein Vermögen hinterlassen hat. Truloves Gesicht hellt sich auf, Ann sieht auch nicht gerade bestürzt aus und Tom ist freudig überrascht, er gerät in Jubelstimmung. In einem Quartett bringen sie nicht ihren Dank an Gott für gnädiges Walten zum Ausdruck, sondern Tom bietet dem Fremden sofort eine Stellung als Diener an. Nur Trulove, der seiner Tochter natürlich alles Glück der Erde wünscht, hält es für nötig, Gott zu bitten, Tom nicht hoffärtig werden zu lassen.


    Nick wird ungeduldig, wünscht sofortigen Aufbruch nach London, wo besagter Onkel starb und nun jede Menge Papierkram mit Banken und Behörden zu erledigen sind. Er geht hinaus, um die Kalesche herbeizurufen, und Trulove folgt ihm. Ann nutzt die Gelegenheit, ihrem Liebsten ewige Treue zu versprechen und eine gute Reise mit Erfolg zu wünschen. Tom verspricht Ann, sie so schnell wie möglich nachkommen zu lassen.


    Trulove und Nick kommen zurück und Tom möchte jetzt von dem „guten Shadow“ doch wissen, welches Gehalt er denn beanspruche. Nick wehrt diese Frage mit der Bemerkung ab, darüber könne man später reden, dann, wenn Tom erkannt habe, welche guten Dienste er ihm geleistet habe: Nach Jahr und Tag soll abgerechnet werden; und dann, verspricht Nick, muss Tom nur so viel Lohn zahlen, wie es ihm selber als „gerecht und billig“ erscheint. Das ist nur fair, findet Tom und akzeptiert den Handel mit Handschlag.


    Tom verspricht Trulove, er werde Ann nachkommen lassen, sobald in London alles Nötige getan sei; und ganz London werde dann seiner Liebsten, die er mehr als alles andere verehre, zu Füßen liegen. Während sich Tom und Trulove herzlich verabschieden, muss sich Ann, mit ihren Händen vor den Augen, abwenden - sie ist zu betrübt. Als Tom und Trulove zur Gartenpforte gehen, wendet sich Nick an das Publikum und konstatiert, dass nun EINES WÜSTLINGS KARRIERE beginnt!


    Zweites Bild: Mutter Goose's Freudenhaus in London; an einem Tisch Tom, Nick und die alte Goose mit Getränken; Dirnen und grölende Burschen im Raum verteilt. An einer Wand hängt eine Kuckucksuhr.


    Die Burschen stimmen einen Gesang über die Spießer von London an und loben wüste Schlägereien als den schönsten Zeitvertreib. Die Dirnen haben sozusagen das Pfund-Sterling-Zeichen im Auge, denn das grölende Publikum verspricht „gute Beute“. Sie loben ihre von Cupido gelernten praktischen Erfahrungen über den grünen Klee und sind überzeugt, heute genügend „Gold zu machen“. Alle vereinigen sich zum fröhlichen Gesang, zum Beispiel auf jene, denen das Raufen Spaß macht, bringen dann einen Toast auf die Obrigkeit aus, und lassen schließlich Venus und Mars hochleben.


    Währenddessen findet am Tisch der Mutter Goose eine Unterhaltung statt, die deutlich zeigt, dass Tom Rakewell bereits dem Einfluss des merkwürdigen Nick Shadow erlegen ist: „Als Grundpflicht gilt für Mann und Weib, dass man sich selbst nicht schuldig bleibt.“ Und Tom fügt, auf Nicks Nachfragen, noch hinzu, dass er „Prüde und Bekehrer“ zu meiden gedenke. Als die Uhr „Eins“ schlägt, springt Tom, der Gespräch überdrüssig, auf und will gehen - da lässt Nick mit einem Handzeichen die Uhr auf „Zwölf“ zurückspringen - und Tom setzt sich wieder.


    Nach einem fröhlichen Chor der Dirnen und grölenden Burschen fordert Nick seinen Herrn Tom auf, ein Lied zu singen, um damit „Mitglied unsrer Zunft“ zu werden. Der stimmt ein melancholisches Lied über betrogene Liebe an. Die Dirnen finden das Lied zu trübsinnig, sind aber trotzdem von dem Neuen angetan. Sie bilden mit den Burschen ein Spalier, durch das Mutter Goose mit Tom zu einer Tür, dahinter das Schlafzimmer, geht. Nick hebt sein Glas und flötet: „Träum schön mein Lieber, träum den Traum, denn wenn du aufwachst, ist es aus“.


    Drittes Bild:Wie im ersten Bild, jetzt zur Herbstzeit bei Vollmond.


    Nach einem kurzen Vorspiel kommt Ann in Reisekleidung aus dem Haus und äußert sich enttäuscht, dass Tom seit Monaten nichts hat von sich hören lassen. Sie ist entschlossen, ihn in London zu suchen, denkt aber auch an ihren Vater, der einige Zeit alleine bleiben muss. Da sie ihn jedoch als mit beiden Beinen im Leben stehend ansieht, Tom aber als labil und Hilfe benötigend, ist sie mutig entschlossen, sich auf die Suche nach ihrem Liebsten zu begeben. Eine Kabaletta, die ihre ganze Liebe zu Tom verrät, beendet den ersten Akt.


    ZWEITER AKT: I wish I were happy.


    Erstes Bild: Das Frühstückszimmer in Toms Londoner Haus; durch das Fenster dringt die leuchtende Morgensonne, aber auch Straßenlärm. Tom frühstückt.


    Tom sinniert über sein inhaltsloses Leben, das durch Überfluss nur noch langweilig ist. Als ihm der Straßenlärm zu laut wird, springt er auf und schlägt das Fenster krachend zu. Was, so fragt er sich weiter, kann ihm noch gefallen? Die „Weltstadt London“ mit ihrem Trubel ist er leid, nur einen Wunsch hat er noch: „Ich wäre gerne froh.“


    Wie auf Befehl steht Nick plötzlich vor ihm und hält ihm ein Plakat vor die Augen. Auf die Frage, ob er die „Dame“ kenne, antwortet Tom, halb belustigt, halb erschrocken: „Die Türkenbab“- eine hässliche, heruntergekommene Jahrmarktsensation, die allein durch ihren Blick die Männer reihenweise umfallen lässt, wie Tom weiß. Nick ergänzt, dass sich sogar viele namhafte Ärzte mit diesem Phänomen befasst haben, aber allesamt nichts Unnatürliches finden konnten.


    Nick macht Tom einen Vorschlag, den er „aus nüchterner Vernunft geboren“ nennt, der aber mit der „notwendigen Gleichgültigkeit“ unternommen werden sollte, der Tom jedoch entsetzt: Er soll eine Ehe mit der „Türkenbab“ eingehen. Die zunächst empörte Abwehr Toms lässt Nick nicht gelten, er versucht immer wieder, Tom von der Ehe mit der Bab zu überzeugen. Und tatsächlich führt seine Argumentation zum gewünschten Ziel: Unter lautem Gelächter, in das Nick ebenso laut einstimmt, gibt Tom schließlich, aber nur aus Sensationslust, wie er sagt, sein Einverständnis zur Hochzeit - Nick ergreift schnell Toms Hand, den Pakt damit besiegelnd. Während eines Duetts hilft Nick dem Bräutigam in spe beim Ankleiden...


    Zweites Bild: Vor Toms Haus. Es ist Herbst.


    Ann ist in London eingetroffen und hat Toms Domizil ausfindig gemacht; während sie vor dem Haus arios ihre ängstliche Stimmung vor dem was sie erwartet, erkennen lässt, wird es auf der Straße lebendig: viele Diener gehen mit einer Menge Gepäck ins Haus, eine Sänfte wird vor dem Treppenaufgang abgesetzt und Tom tritt ins Freie. Als er Ann wahrnimmt, fordert er sie unvermittelt auf, zu gehen, ihn zu vergessen, weil er ihrer nicht mehr wert sei.


    In diesem Augenblick steckt die Türkenbab ihren Kopf aus der Sänfte und verlangt von ihrem „Liebling“, das Gespräch mit „der Person dort“ sofort einzustellen und ihr aus der Trage zu helfen. In einem Terzett, dass die unterschiedlichen Gefühlslagen der beteiligten Personen ausdrückt, stellt Tom schließlich Ann die Türkenbab als sein Weib vor und hilft ihr galant aus der Sänfte. Sofort kommen Diener mit Fackeln und stellen sich auf der Treppe auf, Stadtvolk kommt neugierig hinzu und tuschelt über die Bab, die sich entschleiert und dabei einen langen Vollbart zeigt. Tom reicht ihr die Hand und führt sie ins Haus. Ann steht zunächst entgeistert, entfernt sich dann mit traurigem Blick.


    Drittes Bild: Zimmer, wie im ersten Bild dieses Aktes, aber mit ausgestopften Tieren, Mineralien-Schaukästen, Porzellan und Gläsern überladen angefüllt.


    Die Türkenbab, die sich ständig über die Kälte ihres Mannes zornig äußert und unentwegt keift, schließlich sogar das Mobilar zertrümmert, wird von Tom, der die Alte längst über ist, stopft ihr in einer neuerlichen Auseinandersetzung mit einer Perücke den Mund, und wirft eine Decke über sie. Er hat nur noch den Wunsch, zu schlafen; er wirft sich auf die Chaiselongue und schläft ein.


    Das folgende ist als Pantomime gestaltet: Nick schaut ins Zimmer, sieht Tom schlafen, und schiebt dann einen verdeckten Gegenstand vor sich her bis zur Zimmermitte. Er deckt das Tuch ab, enthüllt dabei eine Maschine, bei der er eine Klappe öffnet, und ein Stück Brot vom Tisch hinein steckt. Durch einen Trichter lässt er die Teile einer zerbrochenen Vase gleiten, worauf der Brotlaib durch eine Rinne wieder herausfällt. Diese Vorgänge wiederholt Nick mehrmals und verdeutlicht dem Publikum, dass hier nur purer Schwindel zu sehen ist. Zuletzt belässt er den Brotlaib in der Maschine und deckt sie wieder zu, schiebt sie zu Toms Chaiselongue und stellt sich ans Kopfende.


    Nick beginnt einen wortlosen Gesang, von dem Tom erwacht. Sofort versucht Nick, dem „Herrn Tom“ die Investition in die Erfindung einer Maschine einzureden, die aus Porzellan und Steinen Brot herstellen kann. Er demonstriert Tom den Prototyp dieser „genialen“ Idee und Tom ist erstaunt, begeistert und schließlich bereit, sein restliches Vermögen in das Unternehmen zu stecken.


    DRITTER AKT: I wish it were true.


    Erstes Bild: Wie das dritte Bild im zweiten Akt, jedoch jetzt ist alles mit Spinngewebe und Staub bedeckt; Frühlingsnachmittag. Die Türkenbab immer noch zugedeckt am Tisch sitzend.


    Tom hat sein ganzes Vermögen verloren, der Schwindel mit der Wunder-Maschine ist wie eine Seifenblase geplatzt. Der (unsichtbare) Chor ruft Toms Bankrott aus. Nach dem Aufgehen des Vorhangs sieht man Gläubiger, Käufer und Neugierige sich umsehend durch das Zimmer gehen, sich dabei nicht nur über den Schmutz echauffierend, sondern auch immer wieder die Lage des Hausherrn mit Häme kommentierend.


    Auf der Suche nach Tom betritt auch Ann das Zimmer und fragt nach dem Hausherrn; sie erhält aus vielstimmigem Mund zur Antwort, dass man derzeit nach ihm suche. Nachdem Ann den Raum verlassen hat, kommt der Auktionator Sellem mit Dienern; sie schaffen Platz und stellen dann ein Pult für die Versteigerung auf. Nun wendet sich Sellem an die „Ladies“ und „Gentlemens“ mit der Erklärung über den weiteren Ablauf. Tatsächlich gelingt es dem Auktionator, mit Geschick und Routine einen großen Teil der Gegenstände abzustoßen, verhehlt aber nicht seine Unzufriedenheit mit dem Erlös.


    Plötzlich begibt er sich mit vielsagendem Flüstern und die Spannung absichtlich steigernd zum Tisch, an dem die „Baba“ noch zugedeckt sitzt und kündigt ein „Objekt, das besonders lockt“ zum Verkauf an. Die Kaufinteressenten bieten unter großer Erregung und lautem Geschrei, ohne „das Objekt“ gesehen zu haben; Sellem versteht es, den Kaufpreis immer höher zu schrauben, dann bricht er plötzlich unter großem Tumult die Auktion ab - er hat der Türkenbab die Decke und Perücke weg gezogen. Wütend verlangt die Alte, dass alle sofort verschwinden sollen, während man von außen Tom und Nick einen Song plärren hört.


    Toms Stimme hat auch Ann gehört, die wieder suchend ins Zimmer tritt. Sie kommt mit der Türkenbab ins Gespräch und die Alte empfiehlt ihr mit eindringlichen Worten, Tom dem unheilvollen Einfluss des angeblichen Dieners zu entziehen. Gleichzeitig gibt sie zu, die Ehe mit Tom inzwischen zu bereuen; außerdem ist sie fest entschlossen, wieder in ihr altes Metier auf den Jahrmarkt zurückzukehren, denn dort „herrscht Anstand“ und sie wird gut bezahlt. Abermals sind von außen die Stimmen von Tom und Nick zu hören; als Ann sofort hinaus eilt, befiehlt Baba, die Kutsche solle umgehend vorfahren und sie zum Jahrmarkt fahren.


    Zweites Bild: Ein Jahr später. Ein Friedhof in der Nacht; der Friedhofsgräber steht mit einem Spaten vor einem ausgehobenen Grab mit unbeschriftetem Grabstein.


    Nick und Tom kommen auf den Friedhof; Tom ist außer Atem und fühlt sich von Nick bedrängt und unwohl. Nick ist dagegen in guter Stimmung und kommt sofort zur Sache: Es ist Zahltag und nach dem Vertrag muss Tom nun seine Schuld begleichen. Tom macht ihn darauf aufmerksam, dass er durch seine Einrede das restliche Vermögen verloren habe und erst zahlen kann, wenn er wieder zu Geld gekommen sei. Ungerührt macht Nick geltend, dass ihm an Geld nichts gelegen sei, sondern dass er Toms Seele als Lohn haben will. Er zeigt auf das leere Grab und die davor liegenden Gegenstände: Gift, Dolch, Pistole und ein Seil - Tom solle nur wählen, auf welche Weise er um Punkt Mitternacht zu sterben wünsche.


    Entsetzt schreit Tom auf; ihm wird plötzlich bewußt, dass er sich vor einem Jahr auf einen Pakt eingelassen hat, der ihm jetzt den Tod bringen soll: Der unbekannte Onkel - eine Schimäre! Der ganze Reichtum - Teufelszeug! Die Ehe mit der Türkenbab - ein einziger Bluff! Tom beginnt verzweifelt zu klagen, er macht den Eindruck, um sein Leben kämpfen zu wollen. Und tatsächlich lässt sich Nick erweichen und bietet Tom ein Kartenspiel an, dass ihm im Falle des Gewinns das Leben lassen soll. Tatsächlich gewinnt Tom, weil ihm im letzten Moment durch den Gedanken an seine Ann die richtige Karte, die Herz-Dame, in den Sinn kommt und ausspielt.


    Nick scheint sich fügen zu wollen, verlangt jedoch plötzlich noch ein zweites Spiel. Er mischt sofort die Karten, Tom gerät in Angst und äußert sich zunächst unschlüssig. Nick überspielt mit Lobeshymnen auf Toms Spielerglück die Situation, glaubt schließlich, Tom für eine zweite Runde gewonnen zu haben - da erklingt plötzlich aus dem Hintergrund Anns Stimme; Tom gerät kurz ins Schwärmen und Nick steht wie versteinert da. Im Überschwang der Gefühle entzieht Tom dem Kartenspiel in Nicks Hand eine Karte - es ist abermals die Herz-Dame. Mit einem Schrei fällt Tom bewusstlos zu Boden, Nick macht eine Zaubergeste und versinkt langsam im offenen Grab, Tom dabei verfluchend und mit Wahnsinn schlagend.


    Während eines kurzen Zwischenspiels steigt die Morgendämmerung auf und zeigt ein jetzt zugeschüttetes Grab mit Grünbewuchs, auf dem Tom sitzt, sich Gras in die Haare streut und wie ein Kind vor sich hin singt. Der Vorhang senkt sich nach seinem Lied langsam herab.


    Drittes Bild: Im Irrenhaus von Bedlam.


    Nicks Fluch hat Tom in den Wahnsinn geschickt; er ist überzeugt, Adonis, das Sinnbild männlicher Schönheit, zu sein. Gerade baut er sich vor den Mitinsassen des Irrenhauses auf und kündigt ihnen die Ankunft der Göttin Venus an; er will, dass sich alle waschen, mit Öl einreiben, die schönsten Kleider anlegen, die Häupter bekränzen und Musik machen. Die Umstehenden finden das lächerlich und tanzen mit höhnischen Gebärden vor Tom herum, der sich auf einen Strohsack setzt und das Gesicht in den Händen vergräbt. Aber plötzlich ist das Geräusch eines Schlüssels zu hören und die Irren eilen zu ihren Zimmern.


    Dann tritt ein Wärter mit Ann ein; der Wärter zeigt auf Tom und empfiehlt Ann, Tom nur mit „Adonis“ anzureden, weil er auf andere Namen nicht reagiere. Nachdem der Wärter sich zurückgezogen hat, geht Ann auf Tom zu und spricht ihn an. Sofort springt er auf und zeigt sich hoch erfreut über den Besuch seiner Königin, seiner Venus, seiner Braut. Nach einem Duett, das seine völlige Gefangenschaft im Zustand des Wahnsinns deutlich macht, und Anns Bemühen zeigt, auf diese Veränderung ihres Liebsten einzugehen, bittet er „seine Venus“, ihm ein Schlaflied zu singen. Ann hilft ihm auf seine Lagerstatt und singt, von einem unsichtbaren Chor begleitet, das „Lullaby“, das Tom sofort einschlafen lässt.


    Trulove kommt und bittet seine Tochter, mit ihm die Heimreise anzutreten; Vater und Tochter bekennen in einem Duett, dass jeder Leib vergeht, Gott aber gnädig und gerecht ist. Ann setzt hinzu, dass sie in in alle Ewigkeit in Liebe zu Tom stehen werde. Dann gehen sie mit dem Wärter ab. Kaum haben die drei Personen die Szene verlassen, erwacht Tom und springt auf, wild um sich blickend. Entsetzt, dass Venus verschwunden ist, schreit er nach Achilles, Helena, Eurydike, Orpheus, Persephone - der Chor der Irren kommt aus den Zimmern zurück und Tom beschuldigt sie, ihm seine Venus geraubt zu haben. Völlig am Ende seiner Kräfte, bricht er tot zusammen. Ein Klagechor beendet den dritten Akt.


    EPILOG: Vor dem geschlossenen Vorhang, der Zuschauerraum ist voll erleuchtet.


    Die Türkenbab, Tom, Nick, Ann und Trulove, alle ohne Perücken, die Bab ohne ihren Bart, treten vor und verkünden dem Publikum die Moral von der Geschichte: Der Teufel schläft nie, er hat die Faulen stets im Visier (hier zeigen die Protagonisten mit Fingern auf das Publikum): ihr und - ihr!


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Die Anregung zur Komposition der hier vorgestellten Oper erhielt Igor Strawinsky 1947 bei einem Besuch im Chicago Art Institute, wo er die satirisch-moralisierenden Kupferstiche aus dem London der 1730er Jahre von William Hogarth sah. In einem Gespräch mit Aldous Huxley empfahl dieser Strawinsky seinen schriftstellernden Kollegen Wystan Hugh Auden als Librettisten für eine Oper, und der Komponist erhielt nach Anfrage tatsächlich eine Zusage.


    Bereits in November 1947 entwarfen beide ein erstes Szenarium und im Dezember begann Strawinsky, ohne den vollständigen Text vorliegen zu haben, mit der Komposition. Auden (und der später noch als Mitautor hinzugezogene Chester Kallman, von dem die Auktions- Szene gestaltet wurde) hatte das Libretto im Februar 1948 fertig. Es war ein Mix aus Faust- und Don-Juan-Motiven entstanden, das mit den Bildern Hogarths nicht mehr viel gemein hatte: der Teufel, Nick Shadow (der in den lebensechten Stichen Hogarths überhaupt nicht vorkommt), lässt sich als Mischung von Mephisto und Leporello auffassen; die hässliche Alte wurde zur bärtigen Türkenbab, einem Zirkusweib, geformt, und die Figur der Ann ist bewußt der Donna Anna aus Mozarts „Don Giovanni“ nachempfunden.


    Ursprünglich sollte Tom die Erbschaft von seinem Vater erhalten, doch machte Auden den Vorschlag (der auch tatsächlich ausgeführt wurde), dass der Teufel Nick einen mysteriösen und unbekannten Onkel als Erblasser nennt, was der Geschichte noch einen zusätzlichen Zug ins Dämonische verleiht. Dieses Dämonische, ja überhaupt Strawinskys Affinität zum Teufel in seinen Bühnenwerken, ist schon recht auffällig: Hat nicht der Magier im Ballett „Petrouschka“ teuflisches an sich? Siegt nicht der Teufel in der „Geschichte vom Soldaten“ über dessen Seele? 1962 hat der Komponist noch einmal den Teufel in „The Flood“ (Die Flut, gemeint ist die Sintflut), einem für das Fernsehen konzipierten Werk, imaginiert.


    Die Musik zum ersten Akt hatte Strawinsky im Januar 1949 fertig, den zweiten vollendete der Komponist im Februar 1950 und den dritten im April 1951. Die Oper bezeugt Strawinskys Hinwendung zum Neoklassizismus; wichtig ist in diesem Zusammenhang das Postulat des Komponisten: „Musikdrama und Oper sind recht verschiedene Dinge; und ich persönlich habe mich in meinem ganzen Leben der letzteren geweiht.“ Für THE RAKE'S PROGRESS hatte sich Strawinsky ausführlich mit den großen Meistern früherer Epochen auseinandergesetzt, beispielsweise mit Händel, Zeitgenosse von Hogarth - und diese Zeit sollte, so Strawinsky selber, mit diesem Werk wieder aufleben.


    Aber auch Anklänge an Monteverdi, Gluck, Rossini, Verdi und Puccini sind hier zu hören. So erinnert beispielsweise das kurze, 19taktige Blechbläser-Vorspiel an die Tokkata aus Monteverdis „Orfeo“, die große Szene der Ann aus dem ersten Akt ist dem Vorbild Mozarts und der klassischen Motivik verpflichtet. Wie überhaupt Mozarts musikalischer Geist über diesem Werk waltet: Die erste Szene steht in A-Dur, der Liebestonart bei Mozart; sie kehrt in der letzten Szene im Irrenhaus und im Epilog, sozusagen einen Bogen schlagend, wieder. Anns große Szene endet in C-Dur und lässt den Gedanken an die große C-Dur-Arie der Constanze in der „Entführung aus dem Serail“ aufkommen. In der Literatur über THE RAKE'S PROGRESS wird auch noch auf „Così fan tutte“ hingewiesen, deren Orchesterbesetzung Strawinsky, einschließlich des Cembalos, übernahm. Der silberne Klang dieses barock-klassischen Instruments taucht in den Rezitativen immer wieder auf (erstmalig übrigens beim Auftritt des Teufels). Der Epilog wiederum lässt unweigerlich Gedanken an „Don Giovanni“ aufkommen. Aber auch der Jazz fehlt nicht, von Strawinsky in der Bordellszene bewußt eingesetzt.


    Formal ist THE RAKE'S PROGRESS eine Nummernoper mit Rezitativen, und zwar sowohl Secco- als Accompagnato-Rezitativ; sie enthält Arien, Duette und finale Ensembles, die die Musik verschiedener Meister aller Epochen zitiert, ohne epigonal zu wirken - insgesamt eine farbige und intelligent formulierte Musik, die kalkuliert mit musikalischen Floskeln Gefühle von Liebe und Leid auszudrücken vermag.


    Die Uraufführung fand unter der Leitung von Strawinsky am 11. September 1951 im Teatro La Fenice in Venedig statt. Das Theaterplakat nennt

    Raffaele Ariè in der Rolle des Trulove,
    Elisabeth Schwarzkopf als Ann,
    Robert Rounseville sang den Tom,
    Otakar Kraus den Nick,
    Nell Tangeman war Mutter Goose,
    Jennie Tourel sang die Türkenbab,
    Hugues Cuenod den Sellem
    sowie Emanuel Menkes den Wächter,


    als Mitwirkende. Die Regie lag in den Händen von Carl Ebert, die Einstudierung hatte Ferdinand Leitner übernommen, der bereits am 4. November 1951 die deutsche Erstaufführung in Stuttgart dirigierte.


    © Manfred Rückert für den Tamino-Opernführer 2012
    unter Hinzuziehung folgende Quellen:
    Klavierauszug mit deutschem Text (von Friedrich Schröder) von Boosey & Hawkes, 1951
    Opernführer von Rolf Fath (Reclam)
    Könemann-Opernführer mit Beiträgen von Dr. phil. Sigrid Neef und Prof. Sándor Kovács
    Wikipedia

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    MUSIKWANDERER

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  • Die Tamino-Werbepartner Amazon und jpc bieten THE RAKE'S PROGRESS in einer Vielzahl von Aufnahmen an, so z.B. auch eine von der Uraufführung, die bei unterschiedlichen Labels herauskam:




    nebenstehend die vollständige Aufnahme von Opera d'Oro (SunnyMoon Distribution)



    1953 hat Strawinsky seine Oper mit einer anderen Besetzung neu aufgenommen:
    Ann: Hilde Güden
    Baba: Blanche Thebom
    Mother Goose: Martha Lipton
    Nick Shadow: Mack Harrell
    Sellem: Paul Franke
    Tom Rakewell: Eugene Conley
    Trulove: Norman Scott
    Wärter: Lawrence Davidson
    Chor und Orchester der Metropolitan Opera, New York

    Im Jahre 1964 trat Strawinsky nochmals für eine Neuaufnahme mit dem Chor der Sadler's Wells Opera und dem Royal Philharmonic Orchestra ans Pult. Diese Einspielung ist wohl auf CD nicht verfügbar, nur für Vinyl-Freunde sind noch einige Exemplare zu haben. Hier sangen
    Ann: Judith Raskin
    Baba: Regina Sarfaty
    Mother Goose: Jane Manning
    Nick Shadow: John Reardon
    Sellem: Kevin Miller
    Tom Rakewell: Alexander Young
    Trulove: Don Garrad
    Wärter: Peter Tracey



    hier die 1983 entstandene und von Riccardo Chailly dirigierte Einspielung mit der London Sinfonietta und Chor; als Solisten sind zu hören
    Ann: Cathryn Pope
    Baba: Sarah Walker
    Mother Goose: Astrid Varnay
    Nick Shadow: Samuel Ramey
    Sellem: John Dobson
    Tom Rakewell: Philip Langridge
    Trulove: Stafford Dean
    Wärter: Matthew Best


    in der nebenstehenden NAXOS-Produktion singen
    Ann: Jayne West
    Baba: Wendy White
    Mother Goose: Shirley Love
    Nick Shadow: John Cheek
    Sellem: Melvyn Lowery
    Tom Rakewell: John Garrison
    Trulove: Arthur Woodley
    Wärter: Jeffrey Johnson
    Robert Craft dirigiert die Gregg Smith Singers und das Orchestra of St. Luke's



    Kent Nagano ist der Dirigent der nebenstehenden Aufnahme mit u.a. Dawn Upshaw, Robert Lloyd, Samuel Ramey, Grace Bumbry; Chor und Orchester der Opera Lyon




    nebenstehend John Eliot Gardiners Aufnahme mit Bryn Terfel, Deborah York, Ian Bostridge, Anne Sofie von Otter; außerdem der Monteverdi Choir und das London Symphony Orchestra.




    diese Aufnahme dirigiert Seji Ozawa mit den Solisten Sylvia McNair als Ann, Anthony Rolfe Johnson als Tom, Jane Henschel als Türkenbab und Paul Plishka als Nick Shadow; es spielt das Saito Kinen Orchestra und es singt der Chor des Saito Kinen Festivals.

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    MUSIKWANDERER

  • An dieser Stelle sollen auch noch einige DVDs von THE RAKE'S PROGRESS nachgereicht werden:



    die 1994 entstandene Produktion unter Esa-Pekka Salonen, der den Schwedischen Rundfunkchor und das Schwedische Radio Symphony Orchestra leitete, ist gekürzt und weist folgende Besetzung auf:
    Ann: Barbara Hendricks
    Baba the Turk: Brian Asawa
    Mother Goose: Gunilla Söderström
    Nick Shadow: Hakan Hagegaard
    Sellem: Arild Helleland
    Tom Rakewell: Greg Fedderly
    Trulove: Erik Saeden


    nebenstehend eine Aufnahme aus dem Glyndebourne Opera House; Regie: John Cox; mit Miah Persson, Topi Lehtipuu, Clive Bayley, Matthew Rose, Susan Gorton: Vladimir Jurowski leitet das London Philharmonic Orchestra und The Glyndebourne Chorus


    diese Aufnahme entstand bei den Salzburger Festspielen; die Camerata Academica und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor leitet Sylvain Cambreling; es singen Jonathan Best, Dawn Upshaw, Jerry Hadley, Monte Pederson, Jane Henschel


    die künstlerische Gesamtleitung der nebenstehenden Aufnahme liegt in den Händen vpn Bernard Haitink; die Interpreten sind
    Anne - Felicity Lott
    Tom Rakewell - Leo Goeke
    Trulove, Annes Vater - Richard van Allan
    Nick Shadow - Samuel Ramey
    Baba the Turk - Rosalind Elias
    Mother Goose - Nuala Willis
    Sellem - John Fryatt
    Ein Irrenhauswärter - Thomas Lawlor
    The London Philharmonic Orchestra, The Glyndebourne Chorus

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