Theodor Storm und seine Komponisten

  • Die Eröffnung dieses Threads ist der Tatsache geschuldet, dass der in der Tamino-Abteilung „Literatur“ am 14.September von Harald Kral gestartete Thread „Vor 195 Jahren geboren: Theodor Storm“ einen - für mich unerwartet – starken und höchst erfreulichen Zuspruch gefunden hat, der leider inzwischen wieder abgeklungen ist. Im Thread „Quellen der Freude“ wurde dann allerdings doch noch einmal Storms Lyrik zitiert, so dass auf großes Interesse daran geschlossen werden darf.


    Also dachte ich:
    Vielleicht ist es ja sinnvoll, eine thematische Verknüpfung des Literaturforums mit dem Liedforum herzustellen, hier einige Lieder auf Gedichte von Theodor Storm vorzustellen und auf diese Weise noch einen Beitrag zur dimensionalen Ausweitung und Vertiefung des Themas „Theodor Storm“ zu leisten. Denn Lieder auf Storms Lyrik bringen ja zum Ausdruck, wie der jeweilige Komponist sie gelesen und ihre lyrische Botschaft verstanden hat. Wobei besonders interessant sein dürfte, wenn man verschiedene Vertonungen nebeneinanderstellt, was in einigen wenigen Fällen versucht werden soll.


    Storms Lyrik wohnt ein ausgeprägt musikalischer Ton inne. Georg Lukács meinte, ihr eigne „ein unsagbar feiner, tiefer und unbeirrbar sicherer musikalischer Klang“. Storm selbst sagt von ihr, in ihr solle „eine Menschenseele ihr Innerstes rein und voll aussprechen“. Und das trifft ihr Wesen sehr genau. Storms Gedichte lesen sich als ganz direkte, unreflektierte und ursprünglich bildhafte Selbst-Aussprache der menschlichen Seele.


    Viel treffender hat dies Thomas Mann zum Ausdruck gebracht. Er sagt über Storms Gedichte:
    „In dieser …Lyrik steht Perle fast neben Perle, und es ist darin, auf Schritt und Tritt, eine bebende Konzentrationskraft der Lebens- und Empfindungsaussage, eine Kunst der Formung zum Einfachen, die in bestimmten Fällen unfehlbar immer wieder, so alt man wird, und sooft man etwas davon wieder liest oder sich vorspricht, dies Sich-Zusammenziehen der Kehle, dies Angepackt-Werden von unerbittlich süß und wehem Lebensgefühl bewirkt…“. Typische Wendungen, mit denen er Storms Lyrik charakterisiert sind: „Noble Einfachheit“, „sensitive Vergeistigung“ und „Extremismus der Gemüthaftigkeit“. Sie treffen allesamt das Wesen der Lyrik Storms sehr genau.


    Storm war selbst Musiker, gründete Chöre, die er dirigierte, und spielte Klavier. Im Husumer Storm-Museum sind mehr als 2500 Vertonungen seiner Gedichte archiviert. Dennoch kennt sie kaum jemand, und das ist eigentlich höchst bedauerlich, denn es sind recht bedeutende Liedkompositionen darunter. Auf einige soll hier eingegangen werden.


    Es gibt eine schöne und aus meiner Sicht hörenswerte CD-Produktion, die insgesamt 28 Storm-Lieder bietet:


    „Songs after Poems by Theodor Storm“. Ulf Bästlein, Bariton / Charles Spencer, Piano. Erschienen 2003 bei Musikproduktion Dabringhaus und Grimm.
    Die CD ist, wenn ich richtig informiert bin, noch im Handel erhältlich.


    Die folgenden Beiträge wollen nur einen Einblick in diese CD geben. Es ist nicht beabsichtigt – und wohl auch nicht sinnvoll – alle dort zu findenden Storm-Vertonungen hier zu besprechen. Ausgewählt wurden besonders jene Gedichte, von denen Mehrfachvertonungen vorliegen.

  • In dem Gedicht „Die Stadt“ klingt das alles in unmittelbarer Ansprache auf. Dieses Gedicht entstand 1851 und stellt eine Huldigung an seine Heimatstadt Husum dar, in der er 1817 geboren wurde. „Grau“ ist das prägende Wort, das alle Bilder wie ein stiller Unterton durchzieht. Grau ist diese Stadt, liegt seitab und sich unter dem Nebel duckend in der Stille, durch die nur das Meer braust. Aber sie birgt den ganzen Zauber der Jugend eines Menschen der in ihr aufwuchs. Storm drückt das viel besser aus: Dieser Zauber ruht lächelnd auf all dem Grau, in dem diese Stadt dem Fremden sich darbietet.


    Am grauen Strand, am grauen Meer
    Und seitab liegt die Stadt;
    Der Nebel drückt die Dächer schwer,
    Und durch die Stille braust das Meer
    Eintönig um die Stadt.


    Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
    Kein Vogel ohne Unterlaß;
    Die Wandergans mit hartem Schrei
    Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei
    Am Strande weht das Gras.


    Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
    Du graue Stadt am Meer;
    Der Jugend Zauber für und für
    Ruht lächelnd noch auf dir, auf dir,
    Du graue Stadt am Meer.




    Hermann Reutter: „Die Stadt“
    Hermann Reutter (1900-1985), bekannt als Komponist von Bühnen- und Chorwerken, gehört zu den bedeutenden Liedkomponisten der Gegenwart. Man könnte ihn als gemäßigt modern einstufen. Erst in seinen Spätwerken neigt er der Atonalität zu. Er setzt als Liedkomponist weniger an der lyrischen Sprache an, als vielmehr an der zentralen lyrischen Aussage eines Gedichts, die er mit musikalischen Mitteln einzufangen versucht.


    Man meint, und dieser Höreindruck drängt sich einem regelrecht auf, die Singstimme ertrinke in diesem Lied in den Tiefen einer endlosen Moll-Harmonik und könne sich nur streckenweise daraus zu größeren Höhen erheben, ohne ihr aber wirklich entrinnen zu können.


    Die – recht lange – Einleitung gibt dem Lied schon seine musikalische Grundprägung: Über einem sich in großen Tiefen bewegenden und in Einzeltönen erklingenden Klavierbass vernimmt man, wiederum einzeln angeschlagen, Töne im Diskant, in atonaler Bewegung viele Tonarten durchlaufend und schließlich in einen Akkord mündend. Das alles in einem ruhigen, von Dreivierteltakt geprägten Grundrhythmus.


    In schweren Schritten bewegt sich die melodische Linie der Singstimme. Schwer deshalb, weil sie bei den beiden ersten Versen immer wieder neue Anläufe von unten nach oben macht und dabei auf jede Silbe einen Ton legt. Bei dem Vers „Der Nebel drückt die Dächer schwer“ bekommt sie etwas Lastendes, weil sie sich in langsamen Sekundschritten abwärts bewegt.


    Ein wenig lebendiger wird es in der zweiten Strophe. Dier Singstimme bewegt sich jetzt in höheren Lagen, wirkt weniger schwer und wird von perlenden Einzeltönen im Klavierdiskant umspielt. Gleichwohl herrsch weiter Moll-Harmonik. Im Klavier meint man aber Gänseschrei und andere Naturlaute zu hören. Der Vers „Am Strande weht das Gras“ erklingt in einer imponierend-lapidaren Monotonie. Die gradlinige Simplizität der lyrischen Sprache ist hier musikalisch großartig eingefangen – wie so oft in diesem Lied!


    Mit Beginn der dritten Strophe („Doch hängt mein ganzes Herz an dir…“) kommt ein leicht lyrisch angehauchter Ton in die melodische Linie der Singstimme, aber sie fällt schon mit dem nächsten Vers („du graue Stadt“) wieder in die schwerfälligen Bewegungen zurück, die ihr von eben diesem lyrischen Bild von Anfang an zugewiesen sind.


    Noch einmal klingt es fast ein wenig zärtlich beim Bild von „der Jugend Zauber“ auf. Die Vokallinie bewegt sich für wenige Takte in höheren Lagen, fällt aber gleich darauf mit den schweren Einzelschritten, die für dieses Lied so typisch sind, in tiefe Lagen ab. Die „graue Stadt am Meer“ wird wieder musikalisch evoziert.

  • Richard Trunk (1879-1968) war an der Staatlichen Akademie für Tonkunst in München tätig. Als Komponist von Instrumentalmusik, Chormusik und über 200 Liedern steht er in der Tradition der deutschen Romantik.


    Auch in diesem Lied dominiert zunächst einmal Moll- und verminderte Harmonik. Aber nicht durchweg. Mit der dritten Strophe tritt ein ganz neuer Ton in die Melodik der Singstimme ein.


    Tastend setzt diese am Anfang ein. In Einzeltönen bewegt sie sich wie suchend nach oben, von Moll-Akkorden im Klavier begleitet, und fällt danach wieder ab. Das Wort „seitab“ wird auf zwei lang angehaltenen Tönen in einer Höhe deklamiert. Man hört, wie der Nebel die Dächer schwer drückt.


    Der Komponist hat dies damit zum Ausdruck gebracht, dass er die melodische Linie sich ganz langsam nach unten bewegen lässt. Und wenn vom Brausen des Meeres die Rede ist, rauscht es im Klavier mit aufgelösten Akkorden mächtig auf. Bei dem Wort „eintönig“ versinkt die melodische Linie wieder in den Tiefen von Moll-Harmonien.


    Die zweite Strophe ist in ihrer musikalischen Faktur mit der ersten weitgehend identisch. Mit der dritten aber schwingt sich das Lied zu fast überraschend lyrisch geprägten Dur-Klängen auf. Bei dem Vers „Doch hängt mein ganzes Herz an dir“ bewegt sich die Vokallinie hinauf zu bislang noch nicht gehörten Höhen. Jetzt liegt mit einem Mal ein großer melodischer Bogen, in Dur harmonisiert, auf der „grauen Stadt am Meer“. Der „Jugendzauber“ klingt in zauberischen Klängen auf, in denen freilich auch Wehmut mitschwingt.


    Bei dem Vers „Ruht lächelnd…“ begleitet das Klavier die Singstimme mit aufsteigenden und sie regelrecht umspielenden Sext-Klängen. Bei „auf dir“ hält die Singstimme kurz inne, und das Klavier setzt sein liebliches Klangspiel weiter fort.


    Der letzte Vers klingt dann aber wieder in der Melodik und Harmonik auf, die man vom Anfang des Liedes her kennt: Mit tastenden Schritten und ganz in Moll getaucht wird das lyrische Bild von der grauen Stadt besungen, auf der der Zauber der Jugend lächelnd ruht.

  • Détlefsen , 1951 geboren und in Hamburg und Los Angeles ausgebildet, entdeckte bald seine Leidenschaft für die javanische Gamelan-Musik, die er in Indonesien 1979 gründlich studierte. Sein kompositorisches Werk besteht aus Klaviermusik, Kammermusik, Klavierliedern und Filmmusik.


    Der musikalische Eindruck, den dieses Lied macht, wird ganz wesentlich vom Klaviersatz her bestimmt: Er nimmt eine fast dominante Rolle ein, während sich die Singstimme in ganz einfachen Schritten bewegt, wobei die melodische Linie von syllabisch exakter Deklamation bestimmt ist. Auf Tonmalerei wird gänzlich verzichtet. Die Musik reagiert auf die lyrischen Bilder mit einer diese reflektierenden Binnenstruktur.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt mit ganz einfachen, nach oben gerichteten Tonschritten ein. Erst bei „seitab liegt“ erlaubt sie sich einen klanglichen Bogen und ruht auf dem Wort „Stadt“ mit einer langen Dehnung aus. Diese Art von fast starrer Bewegung ist ganz typisch für das Lied, wobei das Klavier weitaus mehr Dynamik entfaltet und dabei eine ganze Fülle von Tonarten durchläuft, ohne dabei freilich in Atonalität zu verfallen.


    Dass die Musik auf die lyrischen Bilder reagiert, kann man sehr schön an dem Vers „Der Nebel drückt …“ hören: Die melodische Linie der Singstimme fällt in kleinen Schritten ab und im Klavier erklingt piano eine Art Tremolo. Beim „Brausen“ des Meeres entfaltet die Musik eine starke Dynamik, und das Klavier umspielt mit lauten, gebrochenen Akkorden die weiterhin ruhig deklamierende Singstimme.


    Die zweite Strophe ist in der musikalischen Faktur der ersten ähnlich. Es herrscht zwar keine Identität, aber der klangliche Eindruck erinnert sehr stark an den, den man vom Liedanfang her hat. Auffällig auch hier wieder die fast schwerfällig sich in einfachen Schritten bewegende Singstimme und die wie ein klanglicher Wasserfall von oben über sie hereinbrechenden gebrochenen Klavierakkorde.


    Mit der dritten Strophe nimmt die melodische Linie der Singstimme in ihren Bewegungen einen fast operettenhaften Gestus an. Aber nur fast: Denn sie findet aus der Einbettung in eine Moll-Harmonik zunächst nicht heraus. Erst mit dem Vers „Der Jugend Zauber…“ gelingt ihr das. Aber nur für die Länge eben dieses Verses! Danach erfolgt wieder der Rückfall in die Schwere des von Moll-Klängen und verminderter Harmonik geprägten Charakters der ersten beiden Strophen. Beim letzten Vers, bei der „grauen Stadt“, fällt die melodische Linie in schweren Schritten nach unten und landet in vermindert gebrochenen Klavierakkorden.

  • Bei den Storm-Vertonungen, wie sie die oben genannte CD mit Ulf Bästlein als Interpret bietet, interessierten mich in erster Linie jene, bei denen sich verschiedene Komponisten demselben Gedicht widmeten. Ich wollte wissen, wie sie es kompositorisch gelesen haben. Und vor allem wollte ich der Frage nachgehen, ob sie es so gelesen haben wie ich. Schließlich interessierte dann auch noch die eigentlich wichtigste Frage: Sind sie der Aussage des lyrischen Textes musikalisch gerecht geworden?


    Auf diese Fragen möchte ich mich jeweils am Ende der wenigen hier vorgestellten Liedgruppen in Form eines Kurzkommentars einlassen. Mir ist bewusst, dass die hierbei getroffenen Feststellungen und Urteile in hohem Maße unter dem Vorbehalt der Subjektivität stehen. Es ist ja meine in ihrer spezifischen Eigenart ganz und gar subjektive Rezeption von Storms Lyrik, die den diesbezüglichen Feststellungen zugrundeliegt. Und es ist der ebenso subjektiv eingefärbte Höreindruck von den Liedern, der Grundlage meines Urteils ist.


    Von den drei hier vorgestellten Vertonungen von „Die Stadt“ scheint mir die von Richard Trunk dem Gedicht am ehesten kompositorisch gerecht zu werden. Womit ich freilich nicht sagen will, dass die beiden anderen Lieder nicht gelungen, musikalisch eindrucksvoll und hörenswert sein würden. Das sind sie durchaus.
    Folgendes möchte ich aus meiner ganz und gar subjektiven Perspektive anmerken.


    Der von Moll-Harmonik geprägte und atonal sich entfaltende Grundton des Liedes von Hermann Reutter und die darin sich recht träge und matt bewegende melodische Linie werden dem Gedicht aus meiner Sicht nicht ganz gerecht. Die Komposition hebt ganz und gar auf die Bilder der ersten und der zweiten Strophe ab: „Grau“ dominiert klanglich. Das „Doch“ der dritten Strophe mitsamt den ihm zugeordneten Bildern ist bei Reutter zu wenig berücksichtigt. Denn der Grundton der beiden ersten Strophen setzt sich – nur wenig aufgehellt – auch in der dritten fort.


    Richard Trunks Komposition ist liedhafter, - in dem Sinne, dass sie stärker auf Melodik abhebt und in der spezifischen Struktur der Melodiezeilen die Strophen des Gedichts besser miteinander verkoppelt. Hier ist der Geist der dritten Strophe musikalisch voll getroffen. Das „Doch“ an ihrem Anfang animierte den Komponisten zu einer sich deutlich von der ersten und zweiten Strophe abhebenden, in Dur harmonisierten und recht emphatisch klingenden Melodik.


    Das nebelhafte Grau der beiden ersten Strophen hat Hans Christian Détlefsen musikalisch recht gut eingefangen, wenn auch seine Komposition auf Effekt hin abgestellt wirkt und ein wenig an Film-Musik erinnert. Als Beispiel sei auf die Liedzeile: „Am Strande weht das Gras“ verwiesen. Besonders auffällig ist diese mehr illustrative Funktion der Musik bei der dritten Strophe. Die im Dreivierteltakt rhythmisierte melodische Linie empfinde ich als regelrecht deplaziert und den Geist des lyrischen Textes verfehlend.

  • Schließe mir die Augen beide
    Mit den lieben Händen zu!
    Geht doch alles, was ich leide,
    Unter deiner Hand zur Ruh.


    Und wie leise sich der Schmerz
    Well´ um Welle schlafen leget,
    Wie der letzte Schlag sich reget,
    Füllest du mein ganzes Herz.


    Dieses Gedicht hat viele Komponisten zu einem Lied angeregt. Vermutlich war es die typisch schlichte lyrische Sprache Storms, die den Impuls zur Komposition auslöste, ebenso wohl auch die Evokation, die von dem gleichsam menschlich-archetypischen lyrischen Bild ausgeht, das in diesem Gedicht gestaltet wird. Es ist die Urerfahrung menschlicher Nähe und Zuwendung dem anderen gegenüber, die Storm hier in unvergleichlich einfachem sprachlichem Gestus in Worte gefasst hat. Hätte Schubert dieses Gedicht kennen können, er wäre, so denke ich mir, von ihm ganz unmittelbar angesprochen und zu einer großartigen Liedkomposition inspiriert worden. Ich meine hier eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen dieser lyrischen Sprache Storms und ihm zu lesen und zu hören.


    Felix Mottl (1856-1911): „Schließe mir die Augen beide“
    Felix Mottl war Schüler von Anton Bruckner. Er war einer der großen Dirigenten seiner Zeit, tätig am Hoftheater in Karlsruhe, am Hoftheater in München, und er war einer der von Cosima Wagner bevorzugten Festspieldirigenten in Bayreuth. Unter seiner Leitung wurde 1886 zum ersten Mal Wagners „Tristan“ aufgeführt. Die sog. „Langsamen Bayreuther Tempi“ sind sein Werk.


    Das Lied ist durchkomponiert und ist klanglich von einem ruhig sich wiegenden Dreivierteltakt geprägt. Die Melodiezeile, die auf den ersten beiden Versen liegt, ist von fallendem Charakter. In langsamen Schritten bewegt sie sich nach unten, von gebrochenen Moll-Akkorden harmonisiert. Beim letzten Vers der ersten Strophe („Unter deiner Hand zur Ruh“) beschreibt sie einen von Melismen verzierten, in reinem Dur harmonisierten, großen und ausgesprochen lyrisch geprägten Bogen.


    Äußerst behutsam, pianissimo und wieder mit einer melodischen Abwärtsbewegung sind die beiden ersten Verse der zweiten Strophe musikalisch gestaltet. Nach dem Wort „leget“ erfolgt ein kurzes Innehalten. Dann holt die melodische Linie der Singstimme weit aus, beschreibt einen großen Bogen und klingt mit dem letzten Vers in reinem Dur aus.



    Paul Carrière (1887-1920): „Schließe mir die Augen beide“
    Paul Carrière ist ein Schüler E. Humperdincks und lebte als Komponist in Lübeck. Mehr konnte ich über ihn nicht in Erfahrung bringen.


    Das Lied weist einen langsamen Viervierteltakt auf, in den die Singstimme sich auftaktig einschmiegt. Ihre melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, wird von der langen Klaviereinleitung vorweggenommen: Sie könnte ohne weiteres in Humperdincks „Hänsel und Gretel“ vorkommen, so ruhig und gemessen entfaltet sie sich. Die beiden Melodiezeilen, die die Verse der ersten Strophe umfassen, greifen ineinander, holen mit nur kleinen Intervallen nach oben aus und münden am Ende in die Tonika. Das ist kompositorisch sehr konventionell, was Melodik und Harmonik anbelangt.


    Auch in der zweiten Strophe bleibt das so. Bei dem Wort „Schmerz“ ereignet sich ein Ausgriff in höhere Tonlagen, aber auch der ist nicht extrem. Abweichend von dieser alles prägenden Ruhe ist der letzte Vers gestaltet. Hier entfaltet sich ein arioser Gestus. Das „Füllest du“ wird auf einer aus tiefer Lage aufsteigenden melodischen Linie wiederholt. Auf dem Wort „du“ liegt eine große Dehnung in hoher Lage. Und dann, mit den Worten „mein ganzes Herz“, geht es in syllabisch exakter Deklamation hinab zur Tonika.

  • Alban Berg
    Dieses Lied ragt aus der Reihe der anderen durch seinen ausgeprägt rezitativischen Grundton heraus. Auf einer melodischen Linie, die sich in den fast raschen Schritten eines Fünfviertel-Takts durch mehrere Tonarten bewegt, wird syllabisch exakt deklamiert. Berg geht es also nicht um die musikalische Expression des lyrischen Bildes, vielmehr um die Ansprache des anderen Menschen, die sich in der sprachlichen Struktur des lyrischen Textes niederschlägt.


    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich zunächst wie unberührt von den lyrischen Bildern durch den Text. Auf die „lieben Hände“ zum Beispiel reagiert sie in gar keiner Weise mit irgendeiner Form von musikalischer Expressivität. Erst bei den Worten „unter deiner Hand“ bewegt sie sich mit einem großen Bogen, der ein fast überraschendes Pathos aufweist, nach oben.


    Mit Beginn der zweiten Strophe tritt ein Ton der Behutsamkeit in das Lied. Die Vokallinie bewegt sich pianissimo in kleinen Schritten, und bei dem Wort „Schmerz“ ist ein kleines Melisma zu vernehmen. Der Schlussvers entfaltet wieder leichtes Pathos. Die melodische Linie der Singstimme beschreibt einen weit ausholenden Bogen und die Worte „mein ganzes Herz“ werden wiederholt.



    Joseph Marx
    Der österreichische Komponist Joseph Marx (1882-1964) orientierte sich in seinem allgemeinen kompositorischen Schaffen stark am Impressionismus und in seinen Liedkompositionen an Hugo Wolf.


    Hier bewegt sich die melodische Linie der Singstimme sehr bedächtig und in ruhigen Schritten. Der Klavierbegleitung kommt dabei ein starkes Gewicht zu, denn sie entfaltet um diese ruhige Bewegung der Singstimme ein lebhaftes und stark chromatisch geprägtes Klangszenario. Besonders eindrucksvoll ist das im dritten Vers der ersten Strophe, denn dort entfaltet auch die Singstimme etwas mehr Bewegung, mitsamt einem großen Bogen und einer Dehnung auf dem Wort „leide“.


    Das Umspielen der Singstimme durch eine chromatische und aus einem komplexen Gebilde von Einzeltönen bestehenden Klavierbegleitung ist in der zweiten Strophe noch stärker ausgeprägt. Bei den beiden letzten Versen entfaltet die Vokallinie Pathos in Form einer weiter ausgreifenden Bewegung. Mit einem großen melodischen Bogen auf den Worten „füllest du“, der anschließend langsam abfällt, endet das Lied.



    Christian Détlefsen
    Das Lied setzt mit perlenden Klavierklängen ein, in die sich die Singstimme mit einer langsam abfallenden melodischen Linie einschmiegt. Dieser Kontrast zwischen lebhaften, in Form von gebrochenen Akkorden sich entfaltenden Klavierklängen und gemessen ruhig sich bewegender Singstimme prägt das ganze Lied.


    Auf die „lieben Hände“ wird in der Vokallinie ein weicher Bogen gelegt, und das Wort „Ruh“ am Ende wird durch eine harmonische Rückung in eine weit abliegende Tonart markant hervorgehoben. Zwischen die erste und die zweite Strophe schiebt sich ein überraschend aufbrausendes, zum Teil dramatisch wirkendes Klavierzwischenspiel, das forte einsetzt, am Ende aber im Piano verklingt. Bei dem Wort „Schmerz“ wird auch hier ein musikalischer Akzent in Form eines Aufsteigens der melodischen Linie gesetzt. Bei „Well´ um Welle“ gerät die melodische Linie mitsamt der Klavierbegleitung in eine wiegende Bewegung.


    Mit dem letzten Vers entfaltet sich ein fast opernhaft pathetischer Ton: Das „füllest du“ wird zunächst in langsamer Steigerung drei Mal wiederholt, und danach folgt eine Wiederholung des ganzen Verses, bei der die melodische Linie schrittweise auf ihren Ruhepunkt bei dem Wort „Herz“ abfällt.

  • Die einzelnen Vertonungen unterscheiden sich vom kompositorischen Ansatz her. Die maßgebliche Frage ist dabei: Ging es dem Komponisten eher um maximale Textnähe im Sinne eines Sich-Einlassens auf die Sprachmelodie und die Aussage des einzelnen Verses, oder soll das Lied die gleichsam durch die Ebene des lyrischen Textes hindurchschimmernde seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs musikalisch erfassen. Beurteilt man die fünf Lieder unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich folgendes Bild.


    Felix Mottl bleibt in seiner Vertonung sehr nahe an der Sprachmelodie und der Aussage der einzelnen Verse des Gedichts. Die in Moll-Harmonisierung langsam fallende melodische Linie bringt sehr gut die lyrische Situation des Zur-Ruhe-kommen-Wollens zum Ausdruck. Und das zärtliche Bild des letzten Verses ist mit einer voll angemessenen und in Dur harmonisierten melodischen Linie aufgegriffen.


    Mottl ist der einzige Komponist, bei dem zu hören ist, wie sich der Schmerz leise schlafen legt. Die melodische Linie bleibt hier mit ihren kleinschrittigen Bewegungen im Pianissimo. Voll auch die Aussage des lyrischen Textes treffend ist der lobpreisende Tonfall am Ende des Liedes.


    Paul Carrières Vertonung wirk ausgeprägt liedhaft. Schon das lange Vorspiel lässt eine ruhig sich bewegende melodische Linie erwarten. Auch bei ihm setzt die Vokallinie in der zweiten Strophe leise ein, steigert sich jedoch recht schnell in ihrer Expressivität, - bis hin zu einem arienhaft wirkenden Ton, zu dem auch die Wiederholung der Worte „füllest du“ passt.


    Diese Neigung, das Lied - und insbesondere dessen zweite Strophe - mit expressiven musikalischen Elementen zu überladen ist bei Joseph Marx und bei Hans Christian Détlefsen noch deutlicher ausgeprägt als bei Paul Carrière. Die Komponisten versetzen sich in das lyrische Ich im Stadium vor der Situation, die das Gedicht lyrisch beschreibt, Es wird dabei vor allem abgehoben auf die Textelemente „Was ich leide“ und „der Schmerz“. Und prompt lässt Marx bei den Worten „Was ich leide“ die melodische Linie stark aufgipfeln und bringt bei den Schlussversen eine äußerst expressive Dramatik in das Lied.


    Bei Détlefsen ist diese Neigung noch ausgeprägter. Allein schon der – in seiner musikalischen Aussage nicht recht begreifliche – Gegensatz zwischen der fast irrlichternden Klavierbegleitung und der durchaus mit Pathos aufgeladenen Vokallinie bringt ein theatralisches Element in das Lied. Die zweite Strophe enthält derart viel musikalische Dramatik, dass man sich fragt, ob der Komponist die beiden ersten Verse der zweiten Strophe in ihrer Aussage vielleicht gar nicht wahrgenommen hat. Man kann bei diesem Lied durchaus von einer effekthascherischen Vertonung sprechen.


    Die Vertonung von Alban Berg fällt aus dieser Reihe heraus. Er lässt sich kompositorisch nicht direkt auf den emotionalen Hintergrund der Verse ein, wie er sich aus der Aussage der lyrischen Bilder ergibt. Seine Vertonung setzt an dem Ansprache-Charakter der Verse an, was zu einer sich rasch bewegenden und von einem rezitativischen Ton geprägten melodischen Linie führt, die sich kaum expressive Elemente in Form von melodischen Bögen oder Dehnungen erlaubt.


    Aus dem oben Gesagten dürfte wohl ersichtlich sein, dass für mich die Vertonung von Felix Mottl dem Gedicht Storms am nächsten kommt.

  • Wohl fühl ich, wie das Leben rinnt
    Und dass ich endlich scheiden muss,
    Dass endlich doch das letzte Lied
    Und endlich kommt der letzte Kuss.


    Noch hing ich fest an deinem Mund
    In schmerzlich bangender Begier;
    Du gibst der Jugend letzten Kuss,
    Die letzte Rose mir.


    Du schenkst aus jenem Zauberkelch
    Den letzten goldnen Trunk mir ein;
    Du bist aus jener Märchenwelt
    Mein allerletzter Abendschein.


    Am Himmel steht der letzte Stern,
    O halte nicht dein Herz zurück;
    Zu deinen Füßen sink´ ich hin
    O fühl´s, du bist mein letztes Glück!


    Lass einmal noch durch meine Brust
    Des vollsten Lebens Schauer wehn,
    Eh´ seufzend in die große Nacht
    Auch meine Sterne untergehn.


    Das Gedicht entstand 1848. Es beschwört mit lyrisch expressiven Bildern die menschliche Urerfahrung von Vergänglichkeit und Abschied. Das Wort „letzt…“ beherrscht sprachlich die ersten vier Strophen. Das, was als sehnsüchtiger Wunsch im Zentrum steht, das Dasein in der Begegnung mit dem Du noch einmal in einer letzten Aufgipfelung zu erfahren, bekommt in der letzten Strophe seine Nachdrücklichkeit durch das Wissen um den Einbruch der „großen Nacht“ in dieses Leben. Es dürfte diese Expressivität der lyrischen Bilder von Abschied gewesen sein, was Komponisten dazu anregte, dieses Gedicht in Musik zu setzen.


    Hermann Reutter
    Das Lied ist von starker Dramatik geprägt. Musikalisch bewirkt wird sie durch die permanent durch die Takte rauschenden Sechzehntel im Klavierdiskant, die in ihrer Bewegung akkordisch gebrochen sind und die unterschiedlichsten Tonarten durchlaufen, sehr oft in verminderter Form, aber nicht atonal. Der Klavierbass folgt in mehr oder weniger ausgeprägter Form der melodischen Linie der Singstimme. Das ist aber von Strophe zu Strophe unterschiedlich. Die Singstimme deklamiert silbengetreu und bewegt sich zunächst in nur kleinen Intervallen, zumeist in Abwärtsrichtung. Nur bei den Worten „letzte Lied“ beschreibt sie einen Bogen in höherer Tonlage.


    In der zweiten Strophe kommt es zu einer leichten Steigerung der dramatischen Innenspannung, weil hier der Klavierbass der melodischen Linie der Singstimme folgt. Diese Dramatik erfährt eine weitere Steigerung in der vierten Strophe. Die Vokallinie bewegt sich hier in deutlich kürzeren und rascheren Tonschritten. Mit zwei großen, weit nach oben ausgreifenden Bögen in der Vokallinie werden die beiden letzten Verse artikuliert. Sie liegen auf den Worten „große Nacht“ und „meine Sterne“.



    Franz Schreker
    Im Unterschied zum Lied Reutters atmet die Vertonung von Schreker große Ruhe. Schon die Klaviereinleitung lässt sie aufklingen: Einfache Akkorde, durch einfache melodische Bewegungen im Diskant miteinander verbunden. Jeweils eine Melodiezeile liegt auf den Verspaaren der ersten Strophe. Beide sind aus einer nach oben ausgreifenden melodischen Bewegung gestaltet, bei der die Worte „Einmal“ und „letzte“ einen besonderer Akzent tragen.


    Ruhig ist auch noch die zweite Strophe musikalisch gestaltet, obwohl sich bei den Bildern vom „letzten Kuss“ und der „letzten Rose“ heftigere Bewegung im Klavier entfaltet. Diese setzt sich auch in der folgenden Strophe fort, wobei sich auch die Singstimme, bei dem Wort „Zauberkelch“ etwa, in größere Höhen hinauf steigert. Aber bei den folgenden Versen, in denen die „Märchenwelt“ angesprochen wird, tritt sowohl im Klavier, wie auch in der Bewegung der Vokallinie wieder Ruhe ein. Mit der vierten Strophe werden die melodische Linie und der musikalische Grundton der ersten wieder aufgegriffen, so dass das Lied insgesamt das Schema A-B-A aufweist.


    Die letzte Strophe Storms hat Schreker nicht in sein Lied aufgenommen. Damit hat er dessen lyrische Aussage maßgeblich verändert. Er will an der Evokation des „Glücks“ festhalten. Deshalb ändert er das „O fühl´s“ in „Ich fühl´s“ um und wiederholt diese Worte sogar noch einmal. In Storms Gedicht gibt es aber dieses Festhalten nicht. Es ist ganz und gar auf Loslassen und Abschied ausgerichtet.

  • Man sollte nicht glauben, dass den Komponisten dasselbe Gedicht vorlag, - so unterschiedlich klingen die beiden Lieder. Bei Reutter die durchgängig das Lied beherrschende Unruhe durch die permanent auf und ab rauschenden Klavierläufe, in die die Singstimme sich regelrecht hineindrängen muss. Und bei Schreker eine von großer Ruhe, ja Wehmut und Müdigkeit geprägte melodische Linie. Wie kann das sein? Kann man dieses Gedicht so fundamental verschieden lesen und verstehen?


    Schreker hat die letzte Strophe von Storms Gedicht nicht berücksichtigt. Das lässt darauf schließen, dass es ihm letzten Endes nicht um die zentrale lyrische Aussage ging, sondern um das Bekenntnis des lyrischen Ichs dem geliebten Du gegenüber. Das freilich im Gefühl des Abschieds, aber eben doch eines Abschieds ohne das Bewusstsein des eigenen Endes.


    Der Abschiedston ist in Schrekers Lied in der fast müde wirkenden, permanent fallenden und in Moll harmonisierten Bewegung der melodischen Linie sehr wohl zu vernehmen. Was nicht zu vernehmen ist – da ja auch die entsprechende Strophe fehlt - , das ist die im Hintergrund all dieser schönen Bilder vom „letzten Kuss“ und dem „goldnen Trunk“ sich drohend zeigende „große Nacht“. Hierin liegt aber der Kern der dichterischen Aussage: Das dieses Gedicht lyrisch-sprachlich beherrschende Wort „letzt“ bekommt dadurch erst sein existenziell relevantes Gewicht. Schreker wollte davon in seiner Komposition nichts wissen. So schön sich sein Lied anhört: Es verfehlt den Geist des lyrischen Textes.


    Schön hört sich das Lied Reutters nicht an. Die Unruhe, die es in dem dominanten Klaviersatz entfaltet, macht die melodische Linie der Singstimme zu einem musikalischen Faktor im Lied, der vom Klaviersatz klanglich fast bedrängt erscheint und sich Vers für Vers wie mühsam und rezitativisch zu artikulieren versucht.


    Diese drängende Unruhe empfindet man als Ausfluss eines Bewusstseins vom bevorstehenden Ende. Das, was sich da ereignet hat den Charakter definitiver Endlichkeit. Daher das Drängen, ja Bedrängen des Du durch das lyrische Ich: „O fühl doch… , „O lass doch noch einmal …“. Man empfindet, dass Reutters Lied von diesem Geist ganz und gar durchdrungen und geprägt ist. Es ist der Geist des lyrischen Textes.


    Und doch! Man vermisst in seinem Lied den Ton des wehmütigen Abschieds, den Schreker so gut und eindrucksvoll in Musik gesetzt hat.

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  • Das macht, es hat die Nachtigall
    Die ganze Nacht gesungen;
    Da sind von ihrem süßen Schall,
    Da sind in Hall und Widerhall
    Die Rosen aufgesprungen.


    Sie war doch sonst ein wildes Kind;
    Nun geht sie tief in Sinnen,
    Trägt in der Hand den Sommerhut
    Und duldet still der Sonne Glut
    Und weiß nicht, was beginnen.


    Erste und zweite Strophe dieses Gedichts wirken wie nebeneinander gesetzt und sind doch auf dezente Weise lyrisch miteinander verkoppelt: Durch die sprachliche Partikel „Das macht“ am Anfang. Sein ganz spezifischer Reiz besteht in der lyrischen Zartheit einer sprachlich eigentlich rein deskriptiven Diktion. Während die Nachtigall sang und die Rosen aufspringen ließ, erblühte auch das Leben des Mädchens in der liebevollen Begegnung mit dem anderen. Das Reizvolle – und Gekonnte – an diesem Gedicht ist, dass von Liebesnacht nicht die Rede ist. Es begnügt sich mit Andeutungen über die „Folgen“. Und die sind durchaus ambivalent. Das Wesen des „Mädchens“ hat sich gewandelt. Versonnenheit, Duldsamkeit und Ratlosigkeit, vielleicht sogar Verstörtheit, sind in es hineingekommen. Es bleibt offen, wie das zu verstehen und zu bewerten ist. Liebe ist letztendlich rational unfassbar.


    Das Gedicht wurde von zwei Komponisten vertont: Von Alban Berg und dem Brahms-Schüler (und wohl bedeutendsten Nachfolger) Gustav Jenner (1865-1920). Die beiden Lieder unterscheiden sich deutlich in der Faktur, der dahinterstehenden kompositorischen Intention und damit auch im klanglichen Eindruck, den sie machen.


    Alban Berg
    Die Vokallinie steigt mit den einzelnen Melodiezeilen in Form von Bögen in immer höhere Lagen auf. Bei den Worten „Nachtigall“, „süßen Schall“ und „Widerhall“ liegen jeweils die Höhepunkte. Bei dem Wort „Rosen“ erfolgt eine weitere Steigerung der Emphase in Form einer tonalen Aufgipfelung mitsamt melodischer Dehnung. Das alles ereignet sich allerdings in ausgesprochen ruhiger Kantabilität.


    Mit der zweiten Strophe ändert sich der Ton des Liedes. Die melodische Linie bewegt sich jetzt zwar immer noch langsam, aber etwas Zögerliches kommt in sie. Sie meidet jetzt Ausgriffe in höhere Lagen und ist zudem in Moll harmonisiert. Statt in die Höhe, wie in der ersten Strophe, bewegt sie sich jetzt nach unten. Bei dem Wort „Sinnen“ erreicht sie ihren tiefsten Punkt und verbleibt auch beim nächsten Vers in dieser tiefen Lage. Die Worte „Trägt in der Hand“ werden ruhig auf einer Tonebene in tiefer Lage deklamiert.


    Bei den beiden letzten Versen der zweiten Strophe zeigt die melodische Linie wieder eine Tendenz nach oben. Zu einem ersten kleinen Bogen kommt es bei den Worten „Sonne Glut“. Danach, beim letzten Vers, wird der Anstieg der Vokallinie deutlicher ausgeprägt. Ihren Gipfel erreicht sie bei dem letzten Wort: „beginnen“. Dieses wird dadurch in besonders markanter Weise hervorgehoben. Es ist, als endete die Bewegung der melodischen Linie hier in Form eines offenen Schlusses. Die Ratlosigkeit des Mädchens wird auf diese Weise musikalisch zum Ausdruck gebracht.


    Die erste Strophe des Gedichts wird in zunächst mit unveränderter Faktur wiederholt. Beim letzten Vers erfolgt allerdings eine noch größere Steigerung der Emphase, die auf dem Wort „Rosen“ liegt. Die melodische Linie steigt noch höher, und ihre Dehnung ist länger. Man empfindet dies allerdings nicht als in seiner Expressivität übertrieben.




    Gustav Jenner
    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich rasch und in einem tänzerischen Rhythmus. Das Klavier umspielt sie mit ebenfalls lebhaften, aus Einzelnoten und gebrochenen Akkorden bestehenden Klangfiguren. Die erste Melodiezeile umgreift die beiden ersten Verse der ersten Strophe. Die zweite setzt zunächst mit dem gleichen lebhaften Auf und Ab in der Bewegung der Vokallinie ein. Dann aber macht diese einen raschen Aufstieg und erreicht ihren Höhepunkt bei den Worten „Rosen aufgesprungen“. Das Wort „Rosen“ weist dabei – anders als bei Berg – keinen Ruhepunkt in Form einer Dehnung der melodischen Linie auf.


    Auch bei Jenner weist die zweite Strophe einen von der ersten deutlich abgesetzten musikalischen Ton auf. Auch hier ist jetzt die melodische Linie zunächst in Moll harmonisiert, und sie zeigt eine Tendenz nach unten. Ihre Bewegung bleibt aber weiterhin lebhaft. Die Deklamation der Worte „Nun geht sie tief in Sinnen“ erfolgt in tiefer Lage, aber die melodische Linie hält sich dabei nicht auf. Klanglich wirkt das nicht besinnlich, sondern eher deskriptiv. In zweimal abfallender melodischer Linie wird der Vers „Trägt in der Hand den Sommerhut“ deklamiert.


    Auch bei Jenner ereignet sich bei den beiden letzten Versen ein Ansteigen der Vokallinie. Sie erreicht beim letzten Wort („beginnen“) ebenfalls ihren Höhepunkt. Dort endet sie aber nicht in gleichsam offener Form, wie bei Berg, sondern bewegt sich silbengetreu auf und ab, so dass man von einem melodischen Schluss in Form einer Dehnung sprechen kann.


    Die erste Strophe wird auch bei Jenner wiederholt, und dies ebenfalls in gleicher Faktur. Und wie bei Berg erfolgt bei dem Wort Rosen dieses Mal ein Steigerung der Emphase: Die melodische Linie steigt noch höher als in der ersten Strophe, und die Worte „die Rosen“ werden sogar in noch höherer Stimmlage wiederholt.

  • Vergleicht man beide Lieder unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Rezeption des lyrischen Textes, so kann man – bei aller Vorsicht – dieses feststellen:


    Alban Berg komponiert sein Lied vom Ende des lyrischen Textes her, - dieser Ungewissheit der „Folgen“, die sich aus der Liebesnacht für das Leben des Mädchens ergeben. Daher auch der ruhige Grundton des Liedes. Besinnlichkeit, ja fast ein wenig Wehmut liegt über seinem Lied. Das gilt vor allem für die zweite Strophe, die ja im dichterischen Text lyrisch betrachtend ist. Bei der Behutsamkeit, mit der die melodische Linie zum Beispiel das Bild vom „Sommerhut“ musikalisch artikuliert, wird das besonders sinnfällig.


    Demgegenüber wirkt Jenners Komposition frisch und frohgemut. Er liest in diesem Gedicht eher das Glück der Liebesnacht. Der Nachhall des Singens der Nachtigall animiert ihn zu einem im Grundton heiteren Lied. Zwar ist auch bei ihm die zweite Strophe im musikalischen Grundton deutlich von der ersten abgesetzt. Aber der melodischen Linie, die sich immer noch recht markant bewegt, geht der besinnliche Ton weitgehend ab. Im Grunde wirkt sie – im Vergleich mit Bergs Lied - eher deskriptiv. Man vernimmt das deutlich an der Vokallinie des ersten Verses: „Sie war doch sonst ein wildes Kind.“


    Ich meine, unter Bezugnahme auf das, was oben zur Interpretation des Gedichts angemerkt wurde:
    Die dichterische Aussage des lyrischen Textes hat Jenner – im Unterschied zu Alban Berg – kompositorisch nicht voll erfasst.


    Aber es sei – wie schon mehrfach – wieder einmal darauf hingewiesen, dass dies nichts darüber aussagt, wie sich dieses Lied anhört und wie damit seine – absolute - liedkompositorische Qualität zu beurteilen ist. Jenners Komposition weist zwar keine so eingängige melodische Linie auf wie die von Bergs erster Strophe, aber sie ist ganz sicher ein hörenswertes Lied.

  • In Storms Gedicht „Meeresstrand“, das 1853 entstand, wird mit fein gezeichneten lyrischen Bildern Meeresufer-Landschaft am Abend evoziert. Geheimnisvolles, untergründiges Leben erfährt das lyrische Ich. Die harten Konturen des Tages zerfließen. Inseln, in Nebel gehüllt, scheinen wie Träume auf dem Meer zu schweben. Bewegung gibt es noch, aber auch sie wirkt geisterhaft unwirklich, nicht mehr verortbar. In den Abendschein huscht grauses Geflügel, Vogelrufen kommt einsam von irgendwo her, und der Boden gibt Geräusche gärenden Schlamms von sich. Wind regt sich noch einmal und schweigt dann. Das lyrische Ich ist nicht befremdet von all dem, und schon gar nicht geängstigt. Es fühlt sich zugehörig, weiß, dass das alles immer schon so war. Und es öffnet sich den Stimmen, die diese Landschaft hören lässt. Teilhabe an dem Ewigen dieser Landschaft ereignet sich.


    Ans Haff nun fliegt die Möwe
    Und Dämmrung bricht herein;
    Über die feuchten Watten
    Spiegelt der Abendschein.
    Graues Geflügel huschet
    Neben dem Wasser her;
    Wie Träume liegen die Inseln
    Im Nebel auf dem Meer.


    Ich höre des gärenden Schlammes
    Geheimnisvollen Ton,
    Einsames Vogelrufen –
    So war es immer schon.


    Noch einmal schauert leise
    Und schweiget dann der Wind;
    Vernehmlich werden die Stimmen,
    Die über der Tiefe sind.


    Das Lied - es handelt sich um eine zeitgenössische Komposition, Détlefsen ist 1951 geboren - setzt mit einem Tremolo in tiefer Basslage ein. Wie ein leiser Schmerzlaut erklingt darüber in hoher Diskantlage eine verminderte Sekunde, leise, wie zögerlich angeschlagen. Diese Klangfigur bleibt im Klavier bei den beiden ersten Versen erhalten. Die Singstimme setzt in hoher Lage ein und fällt in einer harmonisch verminderten Linie langsam ab. Der klangliche Eindruck ist der von Müdigkeit, ja Mattigkeit.


    Auch der zweite Vers erklingt auf einer in dieser Weise wie müde herabsteigenden Vokallinie. Der dritte und der vierte Vers werden von einer Melodiezeile umgriffen, bei der die melodische Linie nun in sehr tiefer Lage ansetzt, sich kurz nach oben erhebt und danach gleich wieder zurückfällt. Bei dem Wort „Abendschein“ reißt das tiefe Tremolo im Klavierbass ab und rasch auf- und absteigende Sechzehntel erklingen, die einen dissonanten Akkord abbilden. Er soll wohl klanglich „Abendschein“ suggerieren.


    Diese rasch auf- und absteigenden Sechzehntel im Klavierdiskant bilden nun die klangliche Grundlage für die folgenden Melodiezeilen. Auch sie sind in Moll harmonisiert und teilweise chromatisch geprägt. Bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe („Wie träumend liegen die Inseln…“) verbleibt die melodische Linie in ihrer immer noch sehr langsamen Bewegung auf einer Tonebene und nimmt dadurch einen schwebenden Charakter an.


    Bei der zweiten Strophe steigt die Vokallinie wieder aus tiefer Lage auf und beschreibt bei den Worten „geheimnisvollen Ton“ in mittlerer Lage einen kleinen Bogen. Das Klavier umspielt sie damit in Form von wiederum auf- und absteigenden Klangfiguren aus Einzeltönen. Und dann, bei den beiden nächsten Versen („Einsames Vogelrufen…“), geht die Singstimme wieder zu diesem klanglich schwebenden Gestus über, bei dem die Tonebene kaum verlassen wird. Bei „So war es immer schon“ steigt sie dann aber, immerzu weiter in Moll harmonisiert, langsam herab auf den Grundton.


    Mit einem weit nach oben aufsteigenden Arpeggio setzt die dritte Strophe ein. Danach erklingen im oberen Diskant wieder perlend auf und ab steigende Sechzehntel. Auch die melodische Linie vollzieht langsame Auf- und Abwärtsbewegungen. Bei „Und schweiget dann der Wind“ steigt sie jedoch in mittlere Lagen auf, verlangsamt ihre Bewegung noch weiter und hält bei dem Wort „Wind“ kurz inne.


    Bei dem Vers „Vernehmlich werden die Stimmen“ erfolgt eine äußerst expressive Bewegung der melodischen Linie aus sehr tiefer Lage hoch zum bislang höchsten Ton des ganzen Liedes. Bei „Stimmen“ beschreibt sie dabei in hoher Lage einen kleinen Bogen. Und danach geht es beim letzten Vers wieder in langsamen, aber großen Schritten abwärts in die „Tiefe“, - wie der lyrische Text es will. Nur ein kleiner Quartsprung bei dem Wort „sind“ erfolgt dort noch. Aber auch dieser wirkt matt und müde.

  • Dieses Lied Détlefsens lebt musikalisch ganz und gar aus seinem Klaviersatz. Die melodische Linie der Singstimme wirkt wie ein Bestandteil desselben, - freilich eines Bestandteils, der kompositorisch sehr gekonnt integriert ist. Das vor allem deshalb, weil die Vokallinie in der Art ihrer Bewegung dem Klangbild, das der Klaviersatz entfaltet, durchweg gemäß und integral eingefügt ist.


    Wenn das Klavier mit seinen irrlichternden Klangkaskaden das „graue Geflügel umherhuschen“ lässt, dann hat die melodische Linie der Singstimme in ihrer fallenden Bewegung selbst gar nicht viel Eigenes zu sagen: Sie wirkt wie das Klanggeschehen verbal kommentierend.


    Im Grunde ist diese zeitgenössische Vertonung kein „Lied“ im herkömmlichen, aus dem liedkompositorischen Konzept der musikalischen Romantik hergeleiteten Verständnis des Begriffes. Sie ist in ihrem Wesen musikalische Illustration der lyrischen Bilder, bei der der Singstimme die Aufgabe zukommt, den lyrischen Text bereitzustellen. In diesem Sinne hat sie eine – musikalisch fakturiell betrachtet – dienende Funktion. Keine substanziell eigenständige mehr, wie das im romantischen Klavierlied der Fall ist.


    Das soll keine das Lied von Détlefsen abwertende Feststellung sein. Diese Komposition ist – obgleich sie die Atonalität meidet - eine moderne, eine den kompositorischen Intentionen der Zeit entsprechende, Sie fängt die „Atmosphäre“ des Storm-Gedichts „Meeresstrand“ auf eine musikalisch durchaus beeindruckende Weise ein.

  • Von Theodor Storm wurden hier im Forum in erster Linie seine großartigen Herbst-Gedichte zitiert. Er hat aber über alle Jahreszeiten Lyrik verfasst, sogar einzelne Monate thematisiert, wie hier im Gedicht „April“.
    Das lyrische Ich ist beim Schlagen der Drossel von den Geistern des Frühlings angerührt. Es ist so ganz und gar davon ergriffen, dass es meint, sie stiegen aus der Erde. Als hold bezeigen sie sich ihm. Sie bewegen sein Herz. Es empfindet sich wie im Traum der Natur ringsum innig verbunden, und es ist ihm, als fühle es selbst wie Blume, Blatt und Baum.


    Das ist die Drossel, die da schlägt,
    Der Frühling, der mein Herz bewegt;
    Ich fühle, die sich hold bezeigen,
    Die Geister aus der Erde steigen.
    Das Leben fließet wie ein Traum –
    Mir ist wie Blume, Blatt und Baum.



    Dieses Gedicht wurde von Othmar Schoeck (1886-1957, s. einschlägigen Thread) vertont.
    Man erwartet eigentlich freudige, lebhafte Klänge, wenn man sich vorstellt, wie eine Vertonung dieses Gedichts sich anhören könne. Um so verblüffter ist man, wenn man diesem Lied lauscht. Atonal klingen Einzeltöne und ein Akkord im kurzen Klaviervorspiel auf. Die Singstimme beschreibt, ebenfalls atonal, eine Abwärtsbewegung, die bei dem Wort „Drossel“ mit einem Quintfall verbunden ist. Das klingt, als wäre das lyrische Ich tief betrübt über die Wahrnehmung, die es eben gerade gemacht hat.


    Auch beim nächsten Vers macht die melodische Linie eine Fallbewegung, hält sich dann aber bei den Worten „mein Herz bewegt“ auf einer Tonebene, so dass man meint, es käme doch ein wenig Freude in das, was das lyrische Ich zu singen und zu sagen hat. Die Harmonisierung der Vokallinie, wie sie sich in Form von Einzeltönen im Klavier artikuliert, bleibt freilich weiter atonal.


    Und wirklich! Bei dem Vers „Ich fühle, die sich hold bezeigen“ kommt – beinahe überraschend - ein lieblicher Ton in das Lied. Die melodische Linie beschreibt nun einen in höhere Lage ausgreifenden Bogen, der sogar von einem tonal strukturierten Akkord getragen wird. Auch beim folgenden Vers verbleiben die Einzeltöne im Klaviersatz im Bereich der Tonart, die gerade zuvor in jenem Akkord aufgeklungen ist. Die Worte „die Geister“ werden syllabisch exakt zunächst auf einem Ton in tiefer Lage deklamiert, dann aber steigt die melodische Linie, der Aussage des lyrischen Textes folgend, in tonaler Bewegung in höhere Lagen auf.


    Bei den Worten „Das Leben fließet wie ein Traum“ setzt die melodische Linie in tiefer Lage an, macht aber dann bei dem Wort Traum einen Sprung über ein größeres Intervall in hohe Lage. Dort verbleibt sie auch bei den ersten Worten des letzten Verses. Die Worte „Mir ist wie Blume“ werden pianissimo auf eben dieser hohen Tonebene deklamiert.


    Aber schon bei der zweiten Silbe des Wortes Blume, scheint die melodische Linie zu brechen. Sie fällt um eine kleine Sekunde ab. Und als wäre das der Auslöser, geht es mit bei den letzten Worten „Blatt und Baum“ weiter abwärts. Nicht nur das. Bei dem Wort „Baum“ erfolgt ein Halbtonschritt aufwärts, der klanglich befremdlich wirkt, weil er wieder in die Atonalität mündet.

  • Was hat den Komponisten Schoeck bewogen, ein Gedicht, das den Geist des aufbrechenden Frühlings atmet, in eine Musik zu setzen, die nur an einer Stelle einen Schimmer von Freude aufleuchten lässt, ansonsten aber in Tristesse zu versinken scheint?


    Ich weiß es nicht.
    Vielleicht kann man das Lied ja auch anders hören. Immerhin evozieren die hingetupften Einzeltöne des Klaviersatzes so etwas wie ein schwebendes Klangbild, das die Zaghaftigkeit musikalisch abbildet, mit der der Frühling sich im April hervorwagt. Mit diesem kompositorischen Verständnis des Gedichts ließe sich auch das zaghafte Aufleuchten lieblicher und tonal harmonisierter Töne bei den Worten „Ich fühle, die sich hold bezeigen…“ erklären. Das lyrische Ich fühlt sich nicht wirklich voll und ganz von Frühlingsgefühlen ergriffen, nur leise angerührt. Beschwingtheit und freudige Gefühle in der sicheren Gewissheit, dass es nun mit dem Winter vorbei ist und der Sommer vor der Tür steht, vermögen sich noch nicht einzustellen.


    Das ist wieder einer von den Fällen, wo man meint, einen Komponisten recht gut zu kennen und dann doch keine rechte Antwort auf die Fragen findet, die sich einem bei dem Versuch stellen, eines seiner Werke zu verstehen. Dieses Lied „April“ ist Teil von Schoecks Opus 35, in dem sich noch die Lieder „Fahrewohl“ auf einen Text von Keller und „Gottes Segen“ auf ein Gedicht von Eichendorff finden. Dieses Opus entstand 1928. Vielleicht wurde Schoeck zu dieser Zeit wieder einmal von seinen Depressionen geplagt. Immerhin liegt der Zyklus „Lebendig begraben“ gerade mal zwei Jahre zurück.


    Aber die eigentliche Frage ist ja doch: Hat Schoeck mit seiner Komposition den Geist und die Sprachmelodie des lyrischen Textes getroffen? Ist das der Lyriker Storm, der da musikalisch aufklingt?


    Die Sprachmelodie ist in der melodischen Linie der Singstimme ganz sicher zu vernehmen. In ihrer Bewegung bildet sie die spezifische Rhythmik der Verse getreulich ab. Man hört den lyrischen Ton Storms ganz unmittelbar in der Deklamation der melodischen Linie durchklingen. Hier erweist sich Schoeck als Liedkomponist in der Nachfolge Schuberts und Hugo Wolfs.


    Aber wie ist das mit der Korrespondenz zwischen lyrisch-metaphorischer und musikalischer Evokation? Hört und empfindet man bei der Rezeption von Schoecks Lied den Lyriker Storm?


    Ich finde schon. Zwar findet sich in den lyrischen Bildern keine Spur jener atonalen Tristesse, die im Klaviersatz von Schoecks Lied aufklingt. Aber die melodische Linie entspricht mit den wenigen Ausgriffen in den Bereich von tonalem Licht und harmonischer Helligkeit so ganz dem Grundton von Storms Lyrik.


    Es ist einer der Stille und der zarten lyrischen Bilder. Einer des der Dunkelheit abgerungenen Lichts.

  • Das 1875 entstandene Gedicht Storms ist eines seiner ganz großen. Die Größe als sprachlich-lyrisches Kunstwerk gründet ganz wesentlich in der Spannung zwischen der Expressivität der lyrischen Bilder und der strukturellen Einfachheit der lyrischen Sprache. Jeder Vers wirkt wie eine in Sprache gemeißelte Feststellung, die wie im Widerspruch zu ihrer formalen Klarheit und Einfachheit aber in das Un-Geheuerliche reicht: Das lyrische Ich ist in seiner Einsamkeit allein und doch wieder nicht: Unter der Erde wandert es mit. Der solide und vertraute Boden enthüllt sich in der herbstlichen Jahreszeit in seiner Untergründigkeit. Verfall droht und Untergang. Es bleibt nur noch die Klage über den Verlust erfüllten Lebens.


    Über die Heide hallet mein Schritt;
    Dumpf aus der Erde wandert es mit.


    Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
    Gab es denn einmal selige Zeit?


    Brauende Nebel geisten umher;
    Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.


    Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
    Leben und Liebe – wie flog es vorbei.


    Mit „Ziemlich langsam, gehend“ ist das Lied überschrieben, Und in der Tat: Dieses „Gehend“ ist zu hören. Ganz und gar klanglich geprägt ist dieses Lied von dem nachschlagenden Takt der Klavierbegleitung aus im Wechsel erklingenden Achteln und Sechzehnteln im Klavierbass und –diskant. Brahms wurde unüberhörbar von dem lyrischen Bild des „dumpf hallenden Schrittes“ zu seinem Lied inspiriert. Diese Klangfigur in der Klavierbegleitung bildet den „Erfindungskern“ (Eggebrecht), aus dem heraus das Lied musikalische Gestalt gewinnt.


    Die Singstimme setzt erst ein, bevor der letzte Akkord im Klavierdiskant erklingt und das Klavier eine Zweiachtelpause macht. Die melodische Linie setzt mit drei Achteln ein und hat etwas Zögerliches, Verhaltenes an sich, ganz wie der lyrische Text das suggeriert. Dazu passt auch, dass streng syllabisch deklamiert wird und die melodische Grundfigur aus kleinen Bögen besteht. Lastend wirkt das, erdverbunden, sich nur kurz vom Boden erhebend, aber alsogleich wieder zu ihm zurückkehrend.


    Das Bild von den „brauenden Nebeln“ baut sich in klanglich fast bedrohlicher Wiese von unten her auf. Die melodische Linie erhebt sich nur zögerlich, in kleinen Tonschritten, vom tiefen „d“ zum „a“. Nach einer kurzen Achtelpause setzt sich diese Bewegung, vom „g“ aus beginnend, in ähnlicher Wiese fort und erreicht bei den Worten „Himmel so leer“ ihren Höhepunkt. Danach fällt sie in schweren Einzelschritten, bei denen auf fast jeder Silbe eine Viertelnote liegt, wieder ab zu ihrem Ausgangspunkt, dem tiefen „d“.


    Die vierte Strophe ist in der Struktur der melodischen Linie mit der ersten fast identisch. Der wesentliche Unterschied besteht in der langen melodischen Dehnung auf dem Wort „Liebe“. Sie kommt dadurch zustande, dass wieder auf jede Silbe eine Viertelnote gelegt wird, die zweite sogar punktiert. In Abweichung zum restlichen Lied liegt diesem einzigen Takt eine Neunachtel-Taktierung zugrunde.


    Liest man Storms Gedicht und hört danach die Vertonung von Johannes Brahms, so meint man, dass eine Vertonung dieses lyrischen Textes gar nicht anders klingen könne: Auf so vollkommene Weise hat sich Brahms in den Geist dieses lyrischen Textes, die evokative Substanz seiner lyrischen Bilder und die Sprachmelodie musikalisch eingefühlt.

  • Meine Feststellung, dass man nach dem Hören des Liedes „Über die Heide“ von Johannes Brahms zu der festen Überzeugung kommen kann, dass eine Vertonung dieses Storm-Gedichts gar nicht anders klingen könne, als eben so, hat mich natürlich nachdenklich gemacht. Wieso eigentlich?, frage ich mich.


    Ein wenig von Antwort darauf ist, denke ich, der obigen Beschreibung des Höreindrucks auf dem Hintergrund der kompositorischen Faktur des Liedes zu entnehmen. Der sich aus dem nachschlagenden Takt der Klavierbegleitung ergebende Rhythmus des Liedes ist ganz und gar aus dem musikalischen Nachempfinden, ja mehr noch: dem Sich-Einfühlen in die zentrale Aussage des Gedichts und seiner lyrischen Bilder entsprungen. Aber das allein macht es nicht aus. Es ist die vollkommene klangliche Harmonie zwischen diesem zugleich leichten und schweren Schritt-Rhythmus und der Bewegung der melodischen Linie der Singstimme, die das Geheimnis der Faszination dieses Liedes ausmacht.


    Kann man die ersten beiden Verse, dieses lyrisch elementare, ja eigentlich fast lapidare „Über die Heide hallet mein Schritt“ melodisch besser in Musik fassen als mit dieser Vokallinie, die zunächst im Sekundschritt ansteigt, das Wort „hallet“ mit einem Quintsprung aufklingen lässt, danach erneut einen kleinen Anstieg in höhere Lagen macht, dann aber wieder in tiefe Lagen und ihren Sekundschritt zurückkehrt, weil das lyrische Wort des „dumpf aus der Erde“ es eben so verlangt und fordert?


    Der Musikologe Gerd Sannemüller meint, „Einzelheiten wie Deklamation oder punktuelle Wort-Ton-Relationen“ würden bei Brahms vom „Empfindungsstrom oft eingeschmolzen“ (Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellschaft. Heide 1972). Ich meine, dass dieses im Falle dieses Liedes nicht zutrifft. Die melodische Linie der Singstimme und ihre Harmonisierung und Rhythmisierung entspringen zwar einem „Empfindungskern“ (Eggebrecht), aber diese Elemente der Faktur des Liedes bilden eine vollkommene Einheit. Die melodische Linie der Singstimme greift die Sprachmelodie der Verse Storms bruchlos auf, und ihre Harmonisierung ist ein klanglich faszinierender Reflex der Aussage der lyrischen Bilder.

  • Theodor Storms Text lautet - so wie oben eingestellt:


    Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
    Leben und Liebe – wie flog es vorbei.


    Ulf Bästlein singt jedoch:


    Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai!

  • Könnte es "künstlerische Gründe" haben? Und wenn ja, welcher Art sollten die denn sein?


    Brahms hat das Lied so vertont und an dieser Stelle den Text Storms leicht abgewandelt. Die Umstellung, die er im lyrischen Text vorgenommen hat, ändert an dessen Aussage nichts. Die "Akzentverschiebung" ist die vom Ort auf das lyrische Ich. Man könnte das als musikalische Intensivierung dessen verstehen, was Brahms als Komponist aus dem Gedicht herausgelesen hat.


    Storm wäre damit einverstanden gewesen. Es liegt ganz auf der Linie dessen, was er als Dichter sagen wollte.


    Übrigens: Es wäre einmal die Frage zu stellen, welche Ausgabe der Gedichte Storms Brahms benutzt hat. Es könnte sehr wohl sein, dass er gar nicht abgeändert hat, sondern den Text, den er vertonte, so vorfand. Das ist leider nicht mehr festzustellen, - jedenfalls für mich nicht. Ich weiß nur, dass sich die Ausgaben der Storm-Lyrik voneinander unterscheiden.

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  • Da ich mich über den Beitrag von hart und die Frage, die darin aufgeworfen wird, sehr gefreut habe, möchte ich die Sache nicht mit meiner ersten Stellungnahme dazu abgetan sein lassen.


    Ich habe noch einmal alle für mich greifbaren Ausgaben der Storm-Gedichte überprüft. Überall heißt es: "Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai". Und das ist auch so sinnvoll, - von der lyrischen Aussage her, die gemacht wird. Diese wird ja an einem bestimmten Ort in der Heide festgemacht, insbesondere mit dem Vers: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." In dem fraglichen Vers wird nun also in akzentuierter Form, mit dem syntaktischen Vorziehen das Wortes "hier"nämlich, auf diesen Ort Bezug genommen.


    Die sprachliche Version, die Brahms für diesen Vers gewählt hat, geht wohl auf hn selbst zurück. Er muss diese Änderung vorgenommen haben: "Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai!" Der Akzent liegt dabei nicht so sehr auf dem Ort, sondern auf dem lyrischen Subjekt. Ein großer Eingriff in den lyrischen Text, wie man ihn bei so vielen anderen Liedkomponisten beobachten kann, ist das nicht. Es geht eigentlich nur um eine leichte Akzentverschiebung der lyrischen Aussage.


    Warum hat Brahms sie vorgenommen? Wenn es kein Versehen war - oder wenn ihm doch eine Ausgabe vorlag, in der es so heißt - , dann ergibt sich eine Erklärung dafür aus dem Verlauf der melodischen Linie. Es ist die des ersten Verses des Gedichts. Brahms wollte aus zwingenden kompositorischen Gründen, dass sie hier wiederholt wird.Der Höhepunkt des melodischen Bogens liegt auf dem Wort "hallet". Diese Stelle würde jetzt in der Storm-Version des Verses das Wort "nur" einnehmen. Das konnte Brahms nicht schmecken. Also hat er das Wort "hier" an diese Stelle gesetzt. Das ist dem Verlauf der melodischen Linie vom Klangbild und von der sprachlichen Aussage her weitaus angemessener.


    Und im übrigen: Im Grunde trägt dieses Wort "hier" ja nun musikalisch den Akzent, den Storm ihm in der lyrischen Sprache- durch die Plazierung an dritter Stelle - verliehen hat. Brahms verstößt also mit seiner Änderung nicht gegen die Intentionen des Dichters! Im Grunde ist die Sache ja noch komplizierter: Wenn man nämlich einmal das Vermaß beachtet. Der Versfuß ist bei Storm ein Daktylus. Also liegt Die Betonung des Verses auf den Worten: "Wär" - "nur" - "-gangen" - Mai". Wenn Brahms umstellt, verleiht er dem Wort "hier" sogar noch einen deutlicheren Akzent, als Storm ihn vom Metrum her gesetzt hat!

  • Ich wand ein Sträußlein morgens früh,
    Das ich der Liebsten schickte;
    Nicht ließ ich sagen ihr, von wem,
    Und wer die Blumen pflückte.


    Doch als ich abends kam zum Tanz
    Und tat verstohlen und sachte,
    Da trug sie die Nelken am Busenlatz
    Und schaute mich an und lachte.


    Im Thread „Die Blume im Kunstlied“ hat hart dankenswerterweise drei Vertonungen dieses Storm-Gedichts schon vorgestellt (Beitrag 47, vom 21.10.). Wenn er, diese Lieder von Hans von Blome (1834-1921), Max Reger und Hans Hermann (1870-1931) betreffend, feststellt:


    „ Bei Max Reger ist mir das Klavier etwas zu vordergründig, die Vertonungen von Blome und Hermann stehen mit näher, aber das ist eine rein persönliche Ansicht. Interessant ist auch, wie die Komponisten das letzte Wort behandeln. Bei Hans Hermann wird am unspektakulärsten gelacht.“ …


    … so ist das für mich nachvollziehbar. Mit einer kleinen Einschränkung allerdings: Ich würde die Rolle, die der Klaviersatz in Regers Vertonung spielt, nicht als „vordergründig“ beurteilen und einstufen (Es sei denn, hart meint: „Klanglich im Vordergrund stehend“, „klanglich dominant“, - das wäre dann zutreffend). Er ist in diesem Lied ein für den Komponisten wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel. Der „Vorgang“, den der lyrische Text darstellt, ist ja einer, bei dem sich hinter vordergründigem Geschehen eine tiefer reichende Dimension verbirgt. Mehr als die beiden anderen Komponisten versucht Reger, das musikalisch auszuleuchten.


    Man kann das schon im Klaviervorspiel vernehmen. Diese im Sechsachteltakt sich artikulierenden Klavierklänge, in denen bei allem tänzerischen Grundrhythmus eine mit einer leichten Eintrübung verbundene Fallbewegung und harmonische Rückung zu vernehmen ist, macht eben diese tiefere seelische Dimension, die dem im Grunde heiteren und spielerischen Geschehen zugrundliegt, hör- und nacherlebbar.


    Aber ich räume gerne ein: Die Vertonung durch Hans von Blome beeindruckt ganz besonders durch den volksliedhaften Grundton, mit dem er das im Grunde ja heitere Geschehen musikalisch aufgreift. Auch bei Hans Hermann sind die einzelnen Melodiezeilen von volksliedhafter Einfachheit.


    Man muss sich freilich fragen, ob in diesem Gedicht nicht mehr steckt, als ein argloses Spiel. Die Blume wird hier ja zum Medium einer zarten, behutsamen, den anderen als Person wertschätzenden Kommunikation. Und es bleibt schließlich in der Schwebe, warum das Mädchen lacht: Ob nur aus Entzücken übe ein schelmisches Spiel oder aus tiefer innerer Beglückung.


    Ich meine, dass Reger sich mehr als die beiden anderen Komponisten auf diese Tiefendimension des Gedichtes kompositorisch einlässt. Ob er damit freilich dem Gedicht in der Einfachheit seiner lyrischen Sprache gerecht geworden ist, wage ich zu bezweifeln. Hier scheint mir es eher so, dass ein Lied wie das von Hans Hermann, das stärker auf der Expressivität der melodischen Linie aufbaut, den Ton des Gedichts besser trifft. Man kann schon beim ersten Vers vernehmen: Die lebhafte Bewegung der melodischen Linie fängt hier die Worte „morgens früh“ auf klanglich überzeugende Weise ein.

  • Natürlich meinte ich „klanglich im Vordergrund stehend“ … - besten Dank für die Übersetzungshilfe!



    Man muss sich freilich fragen, ob in diesem Gedicht nicht mehr steckt, als ein argloses Spiel.

    Zu diesem Zitat gestatte ich mir die Bemerkung: Man muss nicht, aber man kann …
    Ich lese das eher als lustiges „Anbandeln“, spätere Heirat nicht ausgeschlossen … und höre den Charakter eines Volksliedes.

  • Na, da lag ich doch wohl richtig, - bei meiner Deutung des Wortes „vordergründig“. Freut mich!


    Aber was die Bemerkung betrifft:
    „Ich lese das eher als lustiges „Anbandeln“, spätere Heirat nicht ausgeschlossen … und höre den Charakter eines Volksliedes.“...
    …da bin ich nur was deren letzten Teil betrifft derselben Meinung. Das Gedicht handelt von etwas mehr als einem „lustigen Anbandeln“. Das geht ja schon aus den Versen hervor:


    „Nicht ließ ich sagen ihr, von wem,
    Und wer die Blumen pflückte.“


    Ich sagte es schon:
    Für mich besteht sein Reiz in der dichterischen Gestaltung einer überaus zarten, weil mit dem Medium der Blume zustandegebrachten menschlichen Kommunikation.
    Man kann lyrisch erleben, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn dies auf der Grundlage von Liebe und Zuneigung geschieht.


    Das Gedicht beschreibt eine überaus feine, weil von der Achtung der Personalität des anderen getragene Begegnung mit dem Mitmenschen. Liebe und Zuneigung vermögen dafür die Grundlage zu schaffen.


    Das ist eigentlich ein – in ein kokett anmutendes Kleid gestecktes – Liebesgedicht und –lied.
    Und nach einem nochmaligen vergleichenden Hören sehe ich mich in meiner Auffassung bestärkt, dass Hans Hermann die lyrische Sprache und die dichterische Aussage musikalisch am besten getroffen hat.

  • Es gibt Lieder auf der von mir oben erwähnten CD mit Ulf Bästlein als Interpreten von Storm-Vertonungen, in denen ich mich als Leser von Storms Lyrik nicht so recht wiederfinden kann. Ein solcher Fall liegt bei der Vertonung des Gedichts „Hyazinthen“ durch Hermann Reutter vor.


    Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht,
    Mit Schlummerduft anhauchen mich die Pflanzen:
    Ich habe immer, immer dein gedacht;
    Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.


    Es hört nicht auf, es raßt ohn Unterlass;
    Die Kerzen brennen und die Geigen schreien,
    Es teilen und es schließen sich die Reihen,
    Und alle glühen; aber du bist blaß.


    Und du mußt tanzen; fremde Arme schmiegen
    Sich an dein Herz; o leide nicht Gewalt!
    Ich seh dein weißes Kleid vorüberfliegen
    Und deine leichte, zärtliche Gestalt.-


    Und süßer strömend quillt der Duft der Nacht
    Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen.
    Ich habe immer, immer dein gedacht;
    Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen


    In einen orchestral angelegten und in seiner Struktur hochkomplexen und sich überaus klanglich expressiv entfaltenden Klaviersatz fällt eine Vokallinie ein, die sich eher arienhaft als liedhaft artikuliert. Fast wie ein musikalischer Fiebertraum, der sich melodisch und harmonisch wie getrieben durch eine Vielzahl von Tonarten bewegt, wirkt dieses Lied klanglich.


    Vielleicht hat sich Hermann Reutter von der zweiten Strophe des Gedichts kompositorisch inspirieren lassen: „Es hört nicht auf, es rast ohn Unterlass…“. So klingt jedenfalls die Musik, die man in seinem Lied hört. Er hat dabei aber den Eingangsvers ignoriert, in dem die situative Grundlage der lyrischen Aussage des Gedichts sprachlich artikuliert und umrissen ist: „Fern hallt Musik, doch hier ist stille Nacht“. Die erste und die letzte Strophe bilden gleichsam den situativen Rahmen für die Aussagen des lyrischen Ichs.


    All das, was an lyrischen Bildern von der tanzenden Geliebten in diesem Gedicht auftaucht, ist Vision, - ist aus der Einsamkeit des den Schlaf suchenden und herbeisehnenden lyrischen Ichs geboren und hervorgebracht. Das erfordert aus meiner Sicht liedkompositorisch einen grundlegend stillen, ja eigentlich wehmütig elegischen Ton, in dem musikalisch nur sich wie von außen hereindrängend die Welt des Tanzes auftaucht.


    Bei Reutters Lied hingegen habe ich den Eindruck, das lyrische Ich befinde sich mitten im Wirbel des Tanzbodens. Das ist – aus meiner Sicht – eine kompositorische Verkennung der lyrischen Aussage.


    Ich kannte das Gedicht längst vor meiner ersten - und so überraschenden - Begegnung mit Reutters Vertonung. Es taucht übrigens in Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“ auf. Während einer Tanzstunden-Szene geht dem Protagonisten durch den Kopf:


    Sie bewegte sich vor ihm hin und her, vorwärts und rückwärts, schreitend und drehend, ein Duft, der von ihrem Haar oder dem zarten weißen Stoff ihres Kleides ausging, berührte ihn manchmal, und seine Augen trübten sich mehr und mehr. Ich liebe dich, liebe süße Inge, sagte er innerlich, und er legte in diese Worte seinen ganzen Schmerz darüber, dass sie so eifrig und lustig bei der Sache war und sein nicht achtete. Ein wunderschönes Gedicht von Storm fiel ihm ein: >Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen<. Der demütigende Widersinn quälte ihn, der darin lag, tanzen zu müssen, während man liebte.“


    Könnte es sein, so habe ich mich gefragt, dass Hermann Reutter das Gedicht in Kenntnis dieser Stelle der Thomas Mann-Novelle vertont hat? So ließe sich das Klangbild, das sein Lied bietet, eher erklären.

  • Bei Reutters Lied hingegen habe ich den Eindruck, das lyrische Ich befinde sich mitten im Wirbel des Tanzbodens. Das ist – aus meiner Sicht – eine kompositorische Verkennung der lyrischen Aussage


    In Deiner Threaderöffnung gab es einen Hinweis auf diese CD, aber ich glaube, dass man den Mitlesern zu den ausführlichen Liedbesprechungen auch einen optischen Anreiz bieten sollte, denn diese CD ist hörenswert, wobei ich ohne Feinanalyse – vielleicht etwas zu flapsig – feststellen möchte, dass mir keine der Reutter-Kompositionen besonders ans Herz gewachsen ist.

  • Mit dem Einstellen dieses Cover-Bildes hast Du mir einen Gefallen getan, lieber hart. Ich habe das nämlich beim Starten dieses Threads wieder einmal selbst versucht und, - wie gehabt nicht hingebracht. Mir fehlen einfach elementare Kenntnisse in Sachen Computer-Technik. Also: Vielen Dank!


    Was Hermann Reutter betrifft:
    Ich stimme in dem, was Du zu seinen Storm-Vertonungen feststellst, mit Dir überein. Mein letzter Beitrag lässt das ja erkennen. Aber am Anfang dieses Threads hatte ich die verschiedenen Vertonungen des Gedichts "Die Stadt" vorgestellt und besprochen. Und da meinte ich, das Lied von Hermann Reutter betreffend:


    Der von Moll-Harmonik geprägte und atonal sich entfaltende Grundton des Liedes von Hermann Reutter und die darin sich recht träge und matt bewegende melodische Linie werden dem Gedicht aus meiner Sicht nicht ganz gerecht. Die Komposition hebt ganz und gar auf die Bilder der ersten und der zweiten Strophe ab: „Grau“ dominiert klanglich. Das „Doch“ der dritten Strophe mitsamt den ihm zugeordneten Bildern ist bei Reutter zu wenig berücksichtigt. Denn der Grundton der beiden ersten Strophen setzt sich – nur wenig aufgehellt – auch in der dritten fort.


    Hermann Reutter kommt als Musiker von der Bühne. Er scheint ein Gedicht weniger von seiner lyrischen Sprache her zu vertonen, als von seinen Bildern, die er szenisch nimmt und als solche in Musik setzt.

  • "Storms Lyrik wohnt ein ausgeprägt musikalischer Ton inne. Georg Lukács meinte, ihr eigne „ein unsagbar feiner, tiefer und unbeirrbar sicherer musikalischer Klang“. Storm selbst sagt von ihr, in ihr solle „eine Menschenseele ihr Innerstes rein und voll aussprechen“. Und das trifft ihr Wesen sehr genau. Storms Gedichte lesen sich als ganz direkte, unreflektierte und ursprünglich bildhafte Selbst-Aussprache der menschlichen Seele. "


    Dieses sehr schöne Zitat aus Helmuts Einleitung zu diesem feinsinnigen Thema möchte ich ein paar eigenen Bemerkungen voranstellen, die hoffentlich nicht zu überflüssig ausfallen mögen. Mich treibt seit jeher die Frage um, warum die Gedichte Storms, deren musikalischer Ton zu Recht herausgestellt wird, mehr die Komponisten aus der zweiten und dritten Reihe angesprochen hat, denn die großen Meister, die nach ihren Lebensdaten dafür in Frage kommen. Bei Wolf finde ich keinen vertonten Storm, bei Loewe auch nicht, bei Brahms, Reger, Berg oder Zemlinsky (habe ich wen aus dieser Liga vergessen?) führt er als Textdichter ehr ein Schattendasein, bei Pfitzner finde ich ihn auch nicht. Warum? Ist die Stormsche Lyrik nicht doch aus sich heraus schon musikalisch genug als dass sie der in Noten gesetzten Musik bedürfte? Ist er gerade deshalb so schwer zu vertonen? Ich glaube schon, wenngleich ich die einschlägigen Lieder von Berg und Reger nicht missen möchte. Andere Vertonungen, die auch hier behandelt wurden, sind mir relativ fremd.


    Es gibt überhaupt keinen Grund, an dem Lied "Über die Heide" von Brahms herumzumäkeln. Das Lied ist wunderbar, ich teile alles, was dazu geschrieben wurde - mit einer Aufnahme. Ich glaube nicht, dass Storm damit einverstanden gewesen wäre, dass Brahms "Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai" singen lässt (Danke, hart, dass Du darauf aufmerksam gemacht hast). Das ist zwar singbarer als das Original, neigt aber auch ins Umgangssprachliche, verlässt also das lyrische Idiom. Seit ich dieses Gedicht, das ich für eines der schönsten in der deutschen Literatur halte, kenne, rätsele ich daran herum. Allein dieser Beginn:


    Über die Heide hallet mein Schritt;
    Dumpf aus der Erde wandert es mit.


    Wie oft bin ich selbst über Heide gegangen und habe nichts hallen gehört. Ich habe mit anderen Menschen darüber gesprochen, die schlicht bestreiten, dass in der Heide etwas hallt. Es soll aber so sein, denn Storm kommt darauf auch in seiner Novelle "Ein grünes Blatt" zu sprechen. Dort heißt es: "Und wie nun so auch der Hall des eigenen Schrittes, der bisher mit ihm gewandelt, aufgehört hatte ...". Wer bitte hat den Hall des eigenen Schrittes, der für die Heidelandschaft - womöglich für eine ganz besondere Heidelandschaft - charakteristisch sein soll, schon vernommen? Dumpf aus der Erde wandert es mit! Welch ein Gedanke! Brahms drückt musikalisch aus, was sich ausdrücken lässt. Dieses Wandern klingt in seinem Lied fast unheimlich herauf. Und doch geht das Lied zu schnell vorbei. Es kann den Gedanken des Dichters nicht festhalten - und vielleicht auch gar nicht fassen. Ich lese das Gedicht - wie viele Gedichte - als dass ich es mir aus dem Gedächtnis vorsage. Es steht da auf der Buchseite, als sei es etwas zum greifen, zum anfassen. Und je öfter ich es lesen, um so unfassbarer wird es mir.


    Das soll genügen. Einen sehr schönen Sonntag wünscht Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Der Beitrag von Rheingold1876, über den ich mich sehr gefreut habe und für den ich danke (er ist im übrigen alles andere als "überflüssig". Im Gegenteil!), schneidet zwei Fragenkomplexe an, auf die ich mich - allerdings in getrennter Form - kurz einlassen möchte. Zunächst zu den Gedanken, die sich auf das Gedicht / Lied "Über die Heide" beziehen. Auf die Musik von Brahms muss ich wohl nicht noch einmal eingehen. Besser beschreiben und charakterisieren als oben kann ich sie nicht.


    Rheingold fragt: "Wer bitte hat den Hall des eigenen Schrittes, der für die Heidelandschaft - womöglich für eine ganz besondere Heidelandschaft - charakteristisch sein soll, schon vernommen? "
    Das "Hallen des Schrittes" ist in diesem Gedicht etwas, das sich nicht realiter, sondern im lyrischen Ich ereignet. Das lyrische Bild, das Storm für dieses "Erlebnis" einsetzt, evoziert Einsamkeit. Schritte hallen in weiten leeren Räumen. Die Heidelandschaft wird als ein solcher leerer Raum erfahren. Alles Leben ist erstorben: Das Kraut ist schwarz, also tot, und Nebel geben keine Geborgenheit, indem sie den Menschen einhüllen, sondern sie "geisten" in Form von Schwaden wie Gespenster umher. Das ist die lyrische Skizze einer Landschaft, in der sich das lyrische Ich verloren vorkommt.


    Und nicht nur das: Auch der Himmel ist "leer", - im doppelten Sinne. Auch er weist keine Orientierung gebenden Konturen mehr auf, und - es gibt dort auch keine Wegweisung und Sinnstiftung in Form eines göttlichen Wesens. Stattdessen "wandert es aus der Erde mit". Eine Art Widerhall des eigenen Schrittes im Reich der Toten ist das, die den einsam Dahinschreiten auf eine un-heimliche, das heißt ihn befremdende und seine Einsamkeit noch steigernde Weise begleiten. Dieses sprachliche Neutrum "es" macht das Bild so bedrückend. Es ist keine personale Identifizierung möglich. Inbegriff von "Un-Heimlichkeit" im Sinne von Nicht-mehr-geborgen- Sein.
    Was bleibt diesem Einsamen noch? Die Erinnerung an Erlebtes in der Vergangenheit. Angedeutet wird nur, was das war: "Leben und Liebe". Aber die Erinnerung hat keinen Bestand. Auch sie ist der Vergänglichkeit anheimgegeben: Sie wirkt jetzt bedrückend, - eben weil sie nach Vergänglichkeit dessen schmeckt, was da als so schön un beglückend erlebt wurde.


    Das ist in seiner Thematik und in seiner lyrisch sprachlichen Struktur ein ganz typisches Storm-Gedicht. Es ist Rheingold uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er bekennt, dass er es für eines der schönsten der deutschen Literatur hält. Es ist übrigens durchaus kein Zufall, dass Brahms danach gegriffen hat. Storm und er sind in der Frage, welche Themen künstlerische Relevanz besitzen, tief verwandt. Im Mai 1882 schrieb er an Elisabet von Herzogenberg: "Ich aber sitze in Ischl - schaudervoll, es regnet (oder schneit), schwarz ist das Kraut und der Himmel nun erst."


    (An der im ersten Teil von Rheingolds Beitrag aufgeworfenen Frage laboriere ich noch herum. Ich versuche später eine Antwort)

  • Wen man nach einer Antwort auf die von Rheingold1876 aufgeworfene Frage sucht, warum denn Storms Lyrik – außer Brahms – nur Komponisten „der zweiten und dritten Reihe“ angesprochen hat, dann stößt man auf zwei diesbezüglich relevante Sachverhalte. Der eine ist ein historischer, der andere ein textimmanenter.


    Der historische.
    Im Unterschied zu den Erzählungen Storms, die nach seinem Tod – und insbesondere nach dem ersten Weltkrieg – weite Verbreitung gefunden und – das nur nebenbei – vom reaktionären Bürgertum ideologisch vereinnahmt wurden, blieb seine Lyrik bis auf wenige Gedichte unbekannt. Thomas Mann merkt völlig zu Recht an:
    „Wir wollen der Wahrheit die Ehre geben und nichts beschönigen. Der Stormsche Laut hat recht kümmerlich fortgeklungen in deutscher Dichtung oder dem, was dafür gelten wollte…“

    Der textimmanente.
    Storms Lyrik ist wenig spektakulär. In ihrer sprachlichen Struktur ist sie von gleichsam elementarer Einfachheit. Ihr Wesen ist Stille. In ihren Aussagen findet sich oft die syntaktisch schlichte Feststellung: „So war es immer schon“, „…der Himmel (ist) so leer“.
    Inhaltlich gibt es weder den utopischen Zukunftsentwurf noch den romantisierenden Rückblick, stattdessen den fast nüchternen und illusionslosen, wenngleich wehmütigen Blick auf Wesenselemente der realen Lebenswelt: Leben, Liebe, Vergänglichkeit und Tod.


    Die Wehmut, die dabei mitschwingt, resultiert aus dem tiefen Wissen um die Vergänglichkeit dessen, was zuweilen als „ewig gültig“ erfahren wird. „Liebe“ wird bei Storm nicht romantisch übersteigert, auch nicht erotisch dämonisiert. Sie wird in ihrer sowohl leiblichen wie seelischen Dimension als Beglückung in der Zweisamkeit und zugleich in deren Vergänglichkeit lyrisch dargestellt. Für hochartifizielles lyrisch-metaphorisches Spiel mit einschlägigen Motiven oder gar ironische Brechung, wie man sie bei Heine findet, fehlt Storm der Sinn.


    Bei ihm findet sich eher die lyrische feine Beobachtung und Zeichnung des Menschlich-Zwischenmenschlichen, etwa in Versen wie diesen:


    „Die Hand, an der mein Auge hängt,
    Zeigt jenen feinen Zug der Schmerzen,
    Und daß in schlummerloser Nacht
    Sie lag auf einem kranken Herzen:“


    Was ergibt sich aus all dem für die Fragestellung? Ich meine dieses:
    1. Die Tatsache, dass Storms Lyrik kaum bekannt war, dürfte ein wesentlicher Faktor sein.
    2. Storms Lyrik enthält aufgrund ihrer oben beschriebenen strukturellen und thematischen Eigenart für Komponisten wenig musikalisch-evokatives Potential.
    3. Vielleicht genügt sie sich – aus dem Blickwinkel eines Musikers – in der ihr eigenen Musikalität auch selbst, so dass sie gar keiner Vertonung bedarf. Ähnlich dürfte das beispielsweise auch bei Brentano sein, - wenngleich dessen Sprachmelodie anderer Art ist.


    Dass diese Erklärungsversuche Vermutungen sind und zudem letzten Endes nicht hinreichend sein dürften, muss wohl nicht eigens betont werden. Die Gründe, warum sich ein Komponist von einem lyrischen Text angesprochen fühlt, bleiben letzten Endes rätselhaft und sind der rationalen Analyse nicht zugänglich.

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