Legenden auf dem Prüfstand: Dvořáks 9. Symphonie unter Ferenc Fricsay (1959)

  • Die verdienstvolle Tamino-Reihe Legenden auf dem Prüfstand wurde lange nicht fortgesetzt. Zeit, dies zu ändern.


    Heute ist eine wahrlich legendäre Aufnahme auf dem Plan: Die 9. Symphonie "Aus der Neuen Welt" von Antonín Dvořák mit den Berliner Philharmonikern unter Ferenc Fricsay, entstanden im Jahre 1959 in vorzüglicher Stereo-Tontechnik.


    Ich persönlich würde sie zu den TOP-Interpretationen dieses berühmten Werkes zählen, allerdings nicht als allererste benennen. Sie ist aber womöglich die ausgewogenste unter den allerbesten Aufnahmen. Meine beiden anderen Favoriten, Celibidache und Barbirolli, bedienen eher die Extreme: extrem langsam bzw. extrem spritzig. Weitere sehr gute Aufnahmen sind m. E. jene von Horenstein und Suitner. Es gibt unzählige weitere. Wohl von wenigen weltberühmten Werken ist die Zahl der gelungenen Aufnahmen größer, wie andernorts schon festgestellt wurde. Gibt es überhaupt eine absolut misslungene 9. von Dvořák?


    Doch nun seid ihr an der Reihe: Wie schätzt ihr die Aufnahme ein? Ist sie zurecht legendär? Genießt sie Ausnahmestatus? Ist sie nur primus inter pares? Oder ist sie gar ein wenig überschätzt?


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kenne außer dieser tatsächlich näher bloß Karajans ein paar Jahre später entstandene Konkurrenzeinspielung (gleiches Label, gleiches Orchster). Die dortige Disposition des langsamen Satzes schien mir immer beispielhaft für ein schwer in Worte zu fassendes Verfehlen von Tonfall und Idiom (zu langsam, zu leise, zu zelebriert). Bei Fricsay kann der ruhige Satz sich wunderbar aussingen, volksliedahft wie er ist.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Fricsays “Neue Welt” ist – mE –auch heute noch ein Fixstern nahezu ohne echten Vergleich. Was mich an dieser Aufnahme immer wieder fasziniert aufhorchen lässt, ist die Art und Weise, wie Fricsay dieses Werk (im allerbesten Sinne!) zelebriert und kantabel schwelgen lässt. Das ist einsame Klasse – ebenso das ausgesprochen famose Spiel der Berliner. Das ist auch heute noch nahezu unerreicht.
    Wie Joseph bereits schrieb, gibt es tatsächlich kaum eine wirklich schlechte Einspielung (soweit ich sie kenne), und innerhalb der Guten gibt’s ne ganze Menge wirklicher Highlights. Eine Wertung im Sinne einer Rangfolge vermag ich nicht abzugeben … und mein Portfolio besteht neben besagtem Fricsay aus Aufnahmen wie Harnoncourt (CGO), Jansons (Oslo), Karajan 1977, Kosler 1977, Neumann 1972 und 1982, Talich 1949, Kublilk BP 1973, Szell 1937 mit den TschechPhil sowie… Bestellt sind Solti CSO und Szell, Cleveland.


    Aber, wie so im Leben, es gibt neben dem Besten immer noch einen, der es – für mich! - n tick „besser“ kann: neben Fricsay ist das für mich – und eigentlich noch n ganzes Stück „vor“ ihm – die herrliche Aufnahme von 1961 mit Karel Ancerl und den Tschechischen Philharmonikern.

    Nicht nur wegen seiner stringenten Art des Dirigats, sondern wegen dem so unverwechselbar passendem Klang der Tschechischen Philharmoniker. Wer einmal diesem betörenden Klang der Tschechen erlegen ist, wird - gerade bei böhmischer Musik – nichts anderes mehr hören wollen. Göttlich.


    Beide, Fricsay und Ancerl sind meine Favorites … was nicht heißt, dass ich die anderen nicht genau so gern höre. Fricsay darf auf dem Podest bleiben ....


    Edit: eine "Neue Welt" von Celibidache??? Ich bin neugierig ....

  • Zunächst möchte ich meinen Dank und meine Freude darüber ausdrücken, daß diese wirklich interessante Serie fortgesetzt wird. Ich selbst werde vermutlich nicht neutral urteilen können, da es ausgerechnet diese Einspielung war, die mich geprägt hat - ich besaß sie als LP. Inzwischen habe ich jedoch zahlreiche andere Versionen dieses Werks in meinem Archiv, ohne daß meine Lieblingsaufnahme - und von dieser ist hier die Rede - auch nur annähernd erreicht wurde.
    Als die CD die Langspielplatte (heutige Bezeichnung: Vinyl) durch die CD. verdrängt wurde, da war ich anfangs gezwungen die damals verfügbaren Neueinspielungen zu kaufen - denn zu beginn der digitalen Ära wurden keine Analogaufnahmen überspielt. Es sah nach einem Abschied für immer aus, was mich traurig stimmte, denn weder die Neuaufnahme mit dem Chicago Sympony Orchestra unter Solti, noch jene der Wiener Philharmoniker unter Maazel hatten jenes Flair, welches die alte Fricsay-Aufnahme auszeichnet. Das müssen auch andere so empfunden haben, denn sie wurde relativ oft wiederveröffentlicht und ist - mit kurzen Unterbrechungen - bis heute am Markt.
    Ich habe anlässlich meines heutigen Beitrags kurz in die Aufnahme hineingehört (für mehr langt die Zeit nicht) - und war überrascht. Ich hatte sehr wohl noch jene sanft malancholischen und dennoch glücklichmachenden Stellen im Ohr, auch daß es hier ziemlich ausgeprägt Dynamikspitzen gab, aber wie ausgeprägt feurig das alles klingt, wurde mir erst heute vor Augen (Ohren) geführt. Die Aufnahme verbindet Eigenschaften, die sich eigentlich widersprechen: Dynamische Wucht bei eher schlankem, gut durchhörbarem Klangbild, mit dennoch abgrundtiefen Bässen und teilweise überirdischer Schönheit und Gelassenheit an den langsamen Stellen.


    Für mich ist diese Aufnahme nicht zu toppen.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Alfred beschreibt das Klangbild sehr treffend. Eigentlich ideal, selbst aus heutiger Sicht.


    In "Kennerkreisen" kursiert offenbar die Meinung, Fricsays frühere MONO-Aufnahme mit dem RIAS-Sinfonie-Orchester von 1953 wäre noch besser — ich kann es nicht verifizieren, es mir aber irgendwie kaum vorstellen, schon aus klanglichen Gründen. Hier jedenfalls ist besagte Aufnahme:



    Vielleicht kennt sie ja jemand (oder noch besser: beide) und könnte kurz einige Worte darüber verlieren.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Ganz sicher und auch für mich persönlich ist die Aufnahme mit Fricsay allererste Wahl. Aber wie einige Kollegen schon schrieben, gibt es auch weitere erstklassige Aufnahmen. Für mich zählt dazu auf jeden Fall die nachfolgend abgebildete Einspielung unter Istvan Kertesz mit dem London Symphony Orchestra:



    Kertesz lässt die Symphonie "Aus der Neuen Welt" unpathetisch und sehr klar strukturiert spielen. Gerade dieses Werk verführt manchen Dirigenten dazu, auf überwältigende Stimmung zu machen und einen guten Schuss Pathos einfließen zu lassen. Klar, dass das dann viele Hörer überwältigt.


    LG
    Portator

  • Ich kenne die Mono-Aufnahme auch nicht, daher würde mich ein Vergleich ebenfalls interessieren (eher als Fricsay-Fan denn als jemand, der noch eine Einspielung des Stücks benötigte). Allerdings leidet Fricsays Stereo-Aufnahme meiner Erinnerung nach kaum an zu breiten Tempi wie einige seiner "Spätaufnahmen" , als er schon krank war (Mozarts g-moll...). Dennoch dürfte die frühe, ähnlich wie Tschaikowsky 4-6 vermutlich wesentlich straffer, aber auch trockener sein.
    Bei Kertesz gibt es ebenfalls eine ältere? Einspielung mit einem anderen Orchester? Wiener Phil?, die teils noch höher geschätzt wird als die in der GA.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Bei Kertesz gibt es ebenfalls eine ältere? Einspielung mit einem anderen Orchester? Wiener Phil?, die teils noch höher geschätzt wird als die in der GA.


    Die ältere Kertesz Aufnahme mit den Wienern erscheint am 09.11.2012 bei Decca Eloquence Australia und ist bei amazon.de bereits vorbestellbar. Ein Cover ist noch nicht verfügbar.

    mfG
    Michael

  • Mit VPO gab es dann noch SXL 2005, unter Rafael Kubelik. Das Cover (devil´s tower) paßt mindestens so gut wie das originale der älteren Kertesz-Platte:



    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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