Sie haben sich von allen seinen Werken neben der Lobgesangsymphonie zur größten Provokation für die Nachwelt entwickelt - der musikwissenschaftlichen wohlgemerkt: Mendelssohns Streichquartette Opus 44. Bereits die Tatsache, dass Mendelssohn wieder Streichquartette in einem Sammelopus publizierte, legt nahe, dass man es mit klassizistisch orientierten Werken zu tun hat. Nun, man muss natürlich sagen, dass sich der Verdacht beim Hören auch sofort erhärtet, vor allem im Vergleich mit den beiden frühen Streichquartetten Opus 12 und 13. Die Frage ist aber, ob sich daraus eine qualitative Minderwertigkeit ergibt? Tatsächlich ist die Uneinigkeit über die Bedeutung der drei Opus 44 Quartette groß. Im deutschen Sprachraum ist die Einschätzung überwiegend negativ, in Westeuropa überwiegend positiv. Zu Mendelssohns Lebzeiten waren die Werke überaus populär und wurden als vollkommen zeitgemäß gesehen, etwa von Robert Schumann, der Opus 44 zum Anlass für die Komposition seiner eigenen Streichquartetttrias Opus 41 nahm. Meiner Meinung nach repräsentiert Opus 44 ziemlich genau Mendelssohns Musikideal: klassisch und formal strukturierter Lyrismus. So gesehen sind die drei Werke viel typischer für Mendelssohns Kompositionsstil als die Streichquartette Opus 12 und. 13, bzw. Opus 80.
Die drei Streichquartette im Detail:
#1, D-Dur: trotz der Nummerierung das als letztes komponierte und von Mendelssohn favorisierte. Auffallend sind die konzertanten Ecksätze, die sich dem Stil des Quattuor brilliante annähern ohne aber wirklich so zu klingen. Typisch Mendelssohn sind die stark polyphonen Verdichtungen in der Durchführung. Der zweite Satz ist formal ein Menuett, wahrscheinlich um den forschen Impetus des ersten Satzes auszugleichen, tatsächlich aber ein romantisches Charakterstück, in dem Mendelssohn in gelungenster Weise seine "naturromantischen" Register zieht. Es entseteht eine nebelhafte Atmosphäre. Die Stimmung des dritten Satzes ist ähnlich verhalten und geheimnisvoll.
#2, e-moll: das zuerst entstandene und von Mendelssohn am wenigsten favorisierte der drei. Für den heutigen Hörer ist das unverständlich, da das drängende synkopierte Thema des Kopfsatzes sehr ansprechend ist. Bewundernswert ist die polyphone Dichte dieses Satzes. Für mich der Höhepunkt des ganzen Opus 44. Das Scherzo ist ein gutes Beispiel für die äußerst geschickte rhytmische Durcharbeitung des Mendelssohnschen Typus des Scherzos. Meiner Meinung nach eines der besten Scherzi, die Mendelssohn geschrieben hat. Der langsame Satz ist ein Lied ohne Worte, das aber eine augenzwinkernde Überraschung für Geiger und Bratschisten bereit hält. Die Begleitfigur des Themas ist nämlich direkt aus einer der Etüden für Violine von Kreutzer entnommen. Damals wie heute, geigerisches Grundnahrungsmittel und auch von Mendelssohn eifrigst geübt. Interessanterweise, konnte ich diese Beobachtung noch in keinem Buch oder CD-Text bestätigt finden. Das Finale nimmt wieder die Grundstimmung des ersten auf, nur rhytmisch markanter.
#3, Es-Dur: das eindeutig klassizistischte der drei Quartette und eine tiefe Verbeugung vor Joseph Haydn, trotz einiger Reminiszenzen an Beethovens Harfenquartett, vor allem im Adagio. Der erste Satz ist praktisch monothematisch und durchwalkt in jedem einzelnen Takt das thematische Material. Der kompositorisch vielleicht dichteste Satz, den Mendelssohn je geschrieben hat - allerdings, naja, etwas trocken. Viel eher begeistern den Hörer wohl die beiden Innensätze, ein komplex fugiertes Scherzo und ein elegisches Adagio in haydnschem Stil, ganz anders als die sonstigen langsamen Sätze Mendelssohns, die fast immer Andante und nicht Adagio sind. Vielleicht ist dieser langsame Satz der schönste, den Mendelssohn geschrieben hat. Das Finale ist zu lang, mehr kann man dazu kaum sagen. Zusammengefasst, hat #3 vielleicht die stärksten Innensätze all seiner Kammermusikwerke, gepaart mit den am wenigsten ansprechenden Ecksätzen.
Einspielungen gibt es inzwischen wie Sand am Meer. Mit dem Cherubini-Quartett und dem Talich-Quartett ist man gut bedient. Vom e-moll Quartett (#2) gibt es keine bessere Aufnahme als vom Vogler-Quartett, erschienen bei Profil. Nirgendwo sonst wird der erste Satz dermaßen prägnant und drängend gestaltet wie hier. Ebenfalls auf dieser CD befindet sich die mir bekannte beste Aufnahme von Opus 12.