Mario Venzago: "Der andere Bruckner" - PR Gag oder Wahrheit?

  • Wenn man in den sehr informativen Beiheften der bisher erschienenen Bruckner-Aufnahmen blättert, so wird man stets von der obigen Überschrift "Der andere Bruckner" empfangen.
    Danach folgt die Frage: "Warum eine neue Gesamtaufnahme?" und es folgt das "Bekenntnis eines 'Bruckner Dirigenten'".


    Der Einfachheit halber zitiere ich einige wesentliche Passagen von der JPC-Homepage:


    Zitat

    Wenn Mario Venzago ein größeres Projekt anfängt, kann man sicher sein, dass etwas Außergewöhnliches dabei herauskommt. Das war bei seinem Schumann-Projekt so, und das ist jetzt wieder der Fall, wenn er sich nun in radikal neuer Sicht sämtlichen Bruckner-Sinfonien widmet: „Diese Aufnahme soll darlegen, dass Bruckner nicht neun Mal die gleiche Sinfonie geschrieben hat (wie oft behauptet) sondern dass jede einzelne ihre unverwechselbare Aussage hat, für die der Komponist stets neue musikalische Prinzipien und ein stets wechselndes Klangbild erfand. Es war deshalb mein Wunsch, jeder Sinfonie ein spezifisches Orchester ganz unterschiedlicher Größe, Kultur und Tradition zuzuordnen. Wie jede Interpretation ist auch das Projekt „Der andere Bruckner“ eine Momentaufnahme. Diese Einspielungen betonen das Charakteristische jeder Sinfonie. Dennoch gelten folgende Kriterien für das Ganze: ein durchwegs schlanker Ton in der Tradition Schuberts (gegen jedes Massige, Pathetische), ein rubatoreiches, taktstrichfreies Musizieren und das Herausarbeiten sakraler, ritualer Momente.“ Seien Sie gewiss: Es ist ein Hörabenteuer, das Sie hier erwartet! Das Sinfonieorchester Basel eröffnet den Reigen.


    Im weiteren Verlauf spricht Venzago davon, daß sich bei Bruckner eine "Tradition des Massigen etabliert" hat, "das sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Das Lärmige, Dicke, das Pathetische, das Protzige, die sich aufrecht den Taktstrichen entlang hangelnde Behäbigkeit, eine neoklassizistische Motorik, das alles hat sich erhalten und gilt als Bruckner Stil."


    Starke Worte, die es mir wert erscheinen, in einem eigenen Thread genauer beleuchtet zu werden.


    Bisher erschienen vom "anderen Bruckner" drei Ausgaben:



    Ganz von der Hand zu weisen ist das, was Venzago vollmundig von sich gibt, nicht. Was sich bei vielen Barock-Komponisten, bei Mozart und Beethoven (u.a.) seit ca. drei Jahrzehnten, wenn nicht gar noch länger (bei Bach z.B.), begann zu etablieren, fehlt bei Bruckner fast vollkommen: Abkehr von der "fetten Romantik" und Rückkehr zu "den Wurzeln", zur Tradition, in der die Meisterwerke entstanden sind.


    Beethoven (bei ihm kenne ich mich am besten aus und deswegen wähle ich ihn) erfuhr spätestens seit Michael Gielen eine "Renaissance". Er wandelte konsequent auf Spuren, die ihm von Toscanini, Scherchen, Schuricht, Leibowitz etc. vorgegeben wurden. Metronomangaben fanden ihre Berücksichtigung, die Orchesterstärke wurde reduziert, auf nicht notierte Rubati wurde mehr oder minder verzichtet, die "originale Orchesteraufstellung" (u.a. mit sich gegenübersitzenden Violinen) wurde wieder entdeckt etc.


    1:1 kann man mit Bruckner nicht verfahren, denn weder existieren detaillierte Metronomangaben bei den Tempi noch ausführliche Dynamikangaben. Häufig entdeckt man z.B. die Bezeichnung "forte" und darf sich überlegen, was man daraus macht.


    Nichtsdestotrotz hat sich hartnäckig ein recht einheitliches Bruckner Bild festgesetzt: langsame, getragene Tempi, großflächig agierende Blechbläser, eigeebnete Dynamik.


    Aber es besteht "Hoffnung": Die Originalversionen verschiedenster Sinfonien setzen sich immer mehr durch und damit auch ein Bild des "revolutionären" Komponisten und nicht des "behäbigen". Thomas Dausgaard spielte die 2. Sinfonie mit dem schwedischen Kammerorchester ein, Philippe Herreweghe präsentierte die 4., 5. und 7. Sinfonie auf Originalinstrumenten, Sir Roger Norrington die 3. und wendet sich (bei imo uneinheitlicher Qualität) mit stellenweise rasanten Tempi zusammen mit dem RSO Stuttgart gegen jegliche traditionelle Gemütlichkeit.


    "Braucht" man dennoch Venzago? Wird er seinem selbstbewußten Anspruch gerecht?
    Immerhin verzichtet er auf die deutsche Orchesteraufstellung und damit auf Bruckners kompositorischen Wunsch, demzufolge die Violinen sich gegenüber und nicht nebeneinander sitzen sollen. Auch führt er bei der "Romantischen" die altbekannte Version von 1878/80 auf und nicht die Erstfassung von 1874. Ungeachtet von Geschmacksfragen war Bruckner selten kühner in der Rhythmik, der Dynamik und in Tempoangaben als in der Erstfassung.
    Im Adagio der 7. Sinfonie hört man den umstrittenen Beckenschlag, von dem man in letzter Konsequenz nicht weiß, ob Bruckner ihn spielen lassen wollte oder nicht. Fast nirgendwo ist er so sehr verzichtbar wie bei Venzagos interpretatorischem Konzept der Abkehr von der "Tradition des Massigen".


    Legt man also ganz strenge Maßstäbe an, so könnte man beckmesserisch feststellen "Mission gescheitert, Chance verpaßt", bevor man sich überhaupt mit den Interpretationen der einzelnen Sinfonien auseinander gesetzt hat, aber das wäre mir zu einfach.


    Also: Ran an die Sinfonien ;) . In den folgenden Threads werde ich näher auf die einzelnen Sinfonien eingehen.
    Ich weiß, daß der ein oder andere Taminoraner die Sinfonien ebenfalls besitzt und freue mich daher auf einen hoffentlich regen Austausch.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zwar kenne ich keine der gezeigten Aufnahmen, jedoch ist die Aussage


    Im weiteren Verlauf spricht Venzago davon, daß sich bei Bruckner eine "Tradition des Massigen etabliert" hat, "das sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Das Lärmige, Dicke, das Pathetische, das Protzige, die sich aufrecht den Taktstrichen entlang hangelnde Behäbigkeit, eine neoklassizistische Motorik, das alles hat sich erhalten und gilt als Bruckner Stil."


    angesichts eines Michael Gielen (analytisch), eines Roger Norrington (HIP-orientiert vibratoarm, was man bei Bruckner mögen kann oder auch nicht) und vor allem eines Günter Wand (absolut partiturtreu ohne falsches Pathos und "Weihrauch") nicht nur für die jüngste Vergangenheit, sondern für vergangene Jahrzehnte schlicht falsch. - Sollte mich dieser Thread jedoch auf den Geschmack bringen, werde ich sicherlich nicht abgeneigt sein :pfeif:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Wenn man seinen Zyklus mit den beiden am häufigsten gespielten Sinfonien beginnt, so hat man sich der größten Konkurrenz zu stellen. Sowohl von der 4. als auch von der 7. liegen eine Vielzahl guter bis herausragender Aufnahmen vor, mit denen sich Venzago messen muß.


    Schaut man sich die Spielzeiten der 4. Sinfonie an (61'12'' igs. und 18'09'', 13'43'', 10'33'' und 18'47'' in den Sätzen), so fällt auf, daß es sich um recht zügige Tempi handelt, die fast exakt an die Spielzeiten Klemperers (sowohl Philharmonia Orchestra als auch SO des Bayer. Rdfs.) heranreichen. Klemperer erwähne ich deshalb, weil er mit die schlüssigsten und spannendsten Interpretationen der "Romantischen" vorgelegt hat und somit als guter Vergleichsmaßstab dienen kann.


    Der Beginn der Sinfonie nimmt durchaus für sich ein. Im dreifachen Pianissimo beginnt das Streichertremolo, mezzoforte setzt das Horn ein. So subtil hört man den Anfang selten; Venzago wird also seinem selbst gestellten Anspruch, nicht zu "lärmen", durchaus gerecht.
    Danach spitzte ich das nächste Mal aufmerksam die Ohren als das Trio des Scherzos einsetzte - dazwischen war viel flüssig gespielte Musik zu hören, dynamisch gut abgestuft, im Tempo mit einigen leichten Rubati "gewürzt", sympathisch, aber wenig spektakulär. Das Sinfonieorchester Basel intoniert sauber, im Blech mir etwas zu zurückhaltend, zu wenig akzentuiert, aber nirgendwo kommt die Spannung auf, die Klemperer und Kertesz aufbauen konnten, nirgendwo hat man das Gefühl, daß ein "Drama in vier Sätzen" gespielt wird wie bei Karl Richter, auch das Feuer Jochums fehlt.


    Erst im erwähnten Trio (bei 4'28'') hatte ich ein "Aha-Erlebnis" und kam allmählich dahinter, daß Venzago sehr wohl in der Lage ist, eigene Akzente zu setzen und einen Grund zu liefern, weswegen neben zig anderen Aufnahmen auch seine hörenswert ist und aus dem Mittelmaß herausragt.
    Raffiniert betont Venzago die tänzerischen Momente des ländlerartigen Themas, er verzögert geschickt das Tempo, um es dann ein wenig schneller als gewohnt wieder anlaufen zu lassen (bei 5'34''). Rubati, so viel sei für alle Bruckner-Aufnahmen Venzagos angemerkt, sind ein bewußt eingesetztes Stilmittel, um "das Charakteristische und Einmalige jeder Sinfonie" (Venzago) herauszuarbeiten.


    Auch zu Beginn des Finales horcht man zwangsläufig auf, denn Venzago zieht hier das Tempo bis zum ersten Höhepunkt derart an, daß es fast verhetzt klingt.


    Kann Venzago bei der 4. vornehmlich mit einigen "Farbtupfern" auf sich aufmerksam machen (wie erwähnt in der Tempogestaltung und generell immer dann, wenn die Musik einen tänzerischen Charakter hat), aber ansonsten aus der "großen Masse" kaum herausragen, so ist die 7. Sinfonie für mich von einer ganz anderen Qualität.


    So gut wie alles, was ich zur fantastischen Aufnahme mit Bernard Haitink schrieb, gilt auch hier: Fast kammermusikalisches Spiel, filigrane Behandlung der musikalischen Linien, in allen Gruppen optimal aufeinander abgestimmtes Orchesterspiel.


    Auch das Sinfonieorchester Basel ist hier kaum wiederzuerkennen. Während ich bei der 4. Sinfonie das Gefühl eines gepflegten, aber zu zurückhaltenden Spiels sehr selten verdrängen konnte, spielt es bei der 7. erheblich engagierter, quasi "permanent auf der Stuhlkante sitzend und dem Dirigenten am Taktstock hängend". Scheint es bei der 4. noch in einem "Korsett" gefangen zu sein (Laßt uns bloß nicht zu laut werden!), so wirkt es hier wie befreit, "atmend" und gewillt, eine großartige Sinfonie großartig aufzuführen. Sowohl die Holz- als auch die Blechbläser setzen mehr eigene Akzente als bei der 4.


    Wie auch schon bei der 4. sind die Tempi recht zügig, aber nicht außergewöhnlich: 20'21'', 21'03'', 9'41'' und 13'14'', also igs. 64'19''. Aber anders als bei der "Romantischen" kommt nirgendwo das Gefühl auf, daß ein Tempo nicht stimmig sein könnte.


    Verbleibt der einzige, schon im ersten Beitrag erwähnte, Wermutstropfen: Im Adagio versucht Venzago nicht durch übergroße Vibratoseligkeit Gefühle zu erzeugen. Im Gegenteil, wie schon bei Haitink zu hören, zeigt er, daß "weniger mehr" ist. Er nimmt die Grunddynamik ein bißchen zurück, wird nicht zu schnell zu laut, zeigt sensibel Bruckners Gedankenwelt beim Verfassen dieses Satzes („Einmal kam ich nach Hause und war ganz traurig; ich dachte mir, lange kann der Meister nicht mehr leben. Dabei fiel mir das Cis-Moll-Adagio ein.“), baut feinsinnig die Spannung bis zum Höhepunkt auf und dann mag er, warum auch immer, nicht auf den Beckenschlag verzichten.
    Vielleicht schämt er sich sogar für ihn, denn der Schlag ist kaum zu hören. Schade, denn hier hätte man ihn nicht gebraucht.


    Apropos "gebraucht": "Braucht" man diese Doppel-CD?
    "Schweizerisch neutral" möchte ich mit einem klaren "Jein" antworten.


    Die 7. gehört für mich mit zu den besten Aufnahmen dieses Werkes, die 4. ist mir trotz aller sympathischen Eigenschaften zu zurückhaltend.
    Auch wenn ich in Einzelheiten Venzago nicht folgen mag oder seine Aussagen als zu vollmundig empfinde, ist eines indes deutlich anzumerken: Bei ihm klingt nicht eine Sinfonie wie die andere. Die Herangehensweise an die 4. ist eine andere als die an die 7. Er behandelt tatsächlich jede Sinfonie individuell - so wie es auch sein sollte.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hat sich Venzago angesichts der übergroßen Konkurrenz bei den ersten beiden veröffentlichten Sinfonien seines Zyklus' etwas "verhoben", so hat er die Chance, bei der nächsten Doppel-CD zu "punkten", denn die Vergleichsmöglichkeiten sind hier ungleich geringer.


    Zuerst einmal eine kurze Anmerkung zur "Nullten": Sie hat bereits einen eignene Thread, nämlich Bruckner: Symphonie in D-Moll - die „Nullte“ . Die "Nullte" darf nicht so verstanden wissen, daß sie vor der 1. Sinfonie geschrieben wurde, denn sie ist in Wirklichkeit Bruckners dritte Sinfonie.


    Sie entstand 1869, also nach der Studiensinfonie in f-Moll von 1863 und der "offiziellen" 1. Sinfonie von 1866. Der Titel "Nullte" paßt also nur in dem Zusammenhang mit "Anullierte" Sinfonie.


    Viele bekannte Bruckner-Dirigenten haben sie schlichtweg ignoriert. Weder Günter Wand, Herbert von Karajan, Lorin Maazel noch Eugen Jochum (z.B.) haben sie eingespielt, von Sergiu Celibidache ganz zu schweigen, denn für letzteren begann Bruckner offenbar erst ab der 3. Sinfonie zu existieren (so wie auch Günter Wand die Sinfonien "0-2" nur mit dem Kölner RSO, nicht aber später mit dem NDR-SO aufgenommen hat).


    Ich finde diese Ignoranz bedauerlich, denn die "Nullte" ist ein ausgesprochen melodiöses, fast schon heiteres Werk voller schöner thematischer Einfälle und -wie ich finde- Warmherzigkeit. Die 1. Sinfonie, das "kecke Beserl", ist ungleich dramatischer gestaltet und zeigt im Scherzo bereits eine Wildheit, die sich später in anderen Scherzi forsetzt. Auch zu ihr haben wir beriets einen Thread: Bruckner, Anton: Sinfonie Nr 1 in c-Moll – das kecke Beserl


    Mario Venzago und das bestens disponierte, klein besetzte finnische Orchester (das aus 41 Musikern besteht, darunter neun 1. Violinen) widmen sich beiden Werken mit großer Spielfreude und Esprit.
    Der Melodienrechtum der "Nullten" kommt besonders schön zum Vorschein, sie ist frei von jeder "Erdenschwere", von jeglichem Bombast und glänzt durch eine tänzerische, beschwingte, Grundeinstellung. Oben angesprochene Warmherzigkeit ist besonders im Andante zu spüren.


    Die Tempi sind flüssig, aber nicht außergewöhnlich schnell. Mit jeweils ca. 44 Minuten Spielzeit unterbietet Venzago weder z.B. Inbal noch Skrowaczewski (zwei Dirigenten, die sich ebenfalls mit großer Akribie dem beiden frühen Werken gewidmet haben). Auch Chailly (von dem ich nur die "Nullte" kenne) befindet sich in einem ähnlichen Zeitrahmen.


    Auffällig bei beiden Sinfonien ist der seltene Einsatz des Vibratos. Venzago sagt dazu: "Auch ich verwende bis zur Vierten das Vibrato äußerst selten und nur zur Erlangung eines bestimmten Ausdrucks.". Es fehlt nicht, denn das frische, entschlackte, durchsichtige Klangbild verlangt imo nicht nach Vibrato.


    Interpretatorisch gefällt mir die 1. Sinfonie nicht so sehr wie die "Nullte", denn "das kecke Beserl" erzielt durch den reichhaltigen Einsatz von Rubati einen uneinheitlichen, fast zerrissenen Charakter. Dieser betrifft ibs, die ersten beiden Sätze. Skrowaczewski z.B. erreicht bei ähnlichen Tempi einen erheblich geschlosseneren Eindruck der einzelnen Sätze.
    Bei der "Nullten" sind diese Rubati viel weniger auffällig, bei der 2. Sinfonie (zu der später mehr) spielen sie eine besonders große Rolle.
    Besonders gut gelungen ist für das Scherzo mit seinem mitreißenden schnellen Tempo und dem ländlerartigen Trio, das durch große Anmut für sich einnimmt.
    Im Finale weiß Venzago ebenfalls mit großem Schwung und Virtuosität in der Behandlung der Orchesterstimmen zu gefallen, aber auch hier stören mich die Temposchwankungen. Sie sind gewollt, wecken im positiven Sinne Interesse, weil sie aufhorchen lassen, aber ich finde, daß Bruckners Musik, auch nicht bei den frühen Werken, diese Effekte nötig hat.
    Bruckners "Frühwerk" (sofern die Bezeichnung noch auf jemanden zutreffen mag, der bei der Komposition beider Werke die 40 schon überschritten hatte) ist interessant und einzigartig genug, um "aus sich selbst heraus" wirken zu können, aber das ist mein persönlicher Geschmack und kein allgemeingültiges Urteil ;) .

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Mit der 2. Sinfonie kann Venzago "Halbzeit feiern" (sofern er nicht auch noch die Studiensinfonie in f-moll einspielt).


    Für die nach meiner Meinung nach ebenfalls sträflich und zu unrecht vernachlässigte 2. Sinfonie wählte sich Venzago das Northern Sinfonia, ein Orchester, das u.a. durch den Chefdirigenten, Thomas Zehetmair, gewohnt ist, sich abseits von "eingetretenen Pfaden" zu bewegen und mit scharfen Klangfarben und Transparenz, aber auf der anderen Seite auch großer Virtuosität zu brillieren.


    Venzago pflegt seinen eigenen Bruckner-Stil u.a. durch die ausgiebige Verwendung des Rubatos. So zieht er in manchen Passagen das Tempo schneller an als gewohnt und bremst es auf der anderen Seite gerne auch einmal ab, auch wenn kein Ritardando notiert ist. Siehe vorheriger Beitrag: Das Ergebnis gefällt mir nicht immer, aber unabhängig davon findet er in der 2. Sinfonie ein ideales Betätigungsfeld.


    In vielen Passagen (das umfangreixche Beiheft weist darauf hin) finden sich die Vorschriften "rubato" oder "sempre rubato". Venzago deutet diese als "Dehnen und Verkürzen auf kleinstem Raum, ein Anhalten, Luftschöpfen, ein Verweilen und Vorwärtsgehen im Auf und Ab der Musik" und nicht etwa als traditionelles Ritardando.


    Was Rubati bedeuten, wird gleich zu Beginn des ersten Satzes deutlich: Venzago zieht das Tempo derart an, daß -selbst bei kleiner Orchesterbesetzung- die Trompete Mühe hat, ihr satzprägendes Fanfarenmotiv sauber und gut hörbar zu spielen. Hier, wie auch zum Ende des Satzes, macht für mich Venzago eindeutig zu viel des Guten, denn, wie auch bei der 1. Sinfonie, erhält der Satz einen uneinheitlichen, fast zerrissenen, Charakter, der mit dem Grundtempo "moderato" wenig zu tun hat.


    Andere Dirigenten, wie Hans Zender, verweisen ebenfalls darauf, daß das Tempo der einzelnen Sätze nicht einheitlich aufgefaßt werden. Allerdings interpretiert Zender das so: "Sicherlich kommt man nicht durch, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, daß es ein einheitliches Tempo gibt für einen Satz. Auf der anderen Seite, wenn man von vornherein darauf abzielt, ganz unterschiedliche Tempi zu nehmen für die zwei, drei Charaktere, die ein erster Satz etwa hat, macht das auch keinen Sinn. Es müßte die Anstrengung unternommen werden, die Tempovorstellung möglichst schlüssig zu realisieren insgesamt, und dann doch jedem einzelnen Charakter seine Individualität zu geben..."
    Heißt: Auch Zender modifiziert die Tempi in den einzelnen Sätzen, bloß er macht das moderater und subtiler als Venzago und kommt namentlich im ersten und dritten Satz zu -für mich- erheblich schlüssigeren Ergebnissen. Zwar sind die Grundtempi bei Zender langsamer, aber er schafft eine inhaltliche Einheit der Sätze, die Venzago nicht immer gelingt.


    Die größten Pluspunkte kann Venzago sammeln, wenn er die Musik fließen läßt. Der zweite Satz, das Andante, glänzt durch eine große Sanglichkeit und durch einige Momente der Verinnerlichung. Rubati, namentlich Ritardandi, schaffen schöne Momente des Innehaltens und der Ruhe.


    Das Scherzo läßt wieder eine Einheitlichkeit vermissen. Venzago beginnt es recht flott, bremst dann aber, bevor das Hauptmotiv in Variation zum zweiten Mal erklingt, zwischen ca. 1'00'' und 1'15'', die Musik fast bis zum Stillstand ab, um dann umso vehementer wieder "loszulegen". So erhält die Musik einen "Ziehharmonikacharakter und wirkt wie eine Feder, die erst gespannt und dann mit einem Mal wieder entspannt wird. Diese künstlich erzeugten Effekte hat sie imo nicht nötig, denn, siehe Trio, das im gleichen Tempo wie das eigentliche Scherzo gespielt wird, es geht auch anders.
    Der idyllische Charakter des Mittelteils wird von Venzago sehr prägnant und passend getroffen.


    Das Finale nimmt mit großem Schwung, guter Detailarbeit und sehr schönem Zusammenspiel zwischen Streichern und Bläsern für sich ein. Zwar wendet Venzago auch hier wieder umfangreiche Rubati an, aber sie wirken hier nicht so Unruhe stiftend wie in den anderen beiden Sätzen.


    Von allen bisher erschienenen Sinfonien ist das diejenige, in die ich mich am meisten "hineinhören" mußte, um die Vorzüge gegenüber den Irritationen höher zu bewerten.


    Ich schätze das schlanke, transparente, Orchesterspiel, die geschärften Klangstrukturen und die Virtuosiät im Zusammenspiel. Mit der Uneinheitlichkeit der Satzcharaktere im ersten und dritten Satz hingegen kann ich mich auch nach mehrmaligem Hören nicht ganz anfreunden.


    Muß ich aber auch nicht... ;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Mario Venzago, geboren am 1. Juli 1948, ist ein schweizerischer Dirigent und Pianist.


    mariovenzago_11_03.jpg


    Er entstammt einer italienisch-deutschen Familie und begann seine Pianistenkarriere bereits mit fünf Jahren. Er studierte in Zürich und war Dirigierschüler von Erich Schmid, dem Vorgänger von Sir Simon Rattle in Birmingham.


    Zwischen 1978 und 1986 war er Dirigent des Winterthurer Stadtorchesters. Danach bis 1989 Generalmusikdirektor des Stadttheaters Heidelberg sowie Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen 1991—1994 fungierte er als Chefdirigent der Grazer Oper und des Grazer Philharmonischen Orchesters. Es folgten weitere Chefdirigentenposten, so beim Sinfonieorchester Basel (1997—2003), beim Indianapolis Symphony Orchestra (2002—2009) und bei den Göteborger Symphonikern (2004—2007). Seit 2010 ist er Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters.



    Edit MOD1 : Die Cds sind nur mehr ald Box lieferbar - daher Bild umgestellt 2.3.2020

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe Venzago immer sehr gerne erlebt und sehr geschätzt. Sein "Trittico" 1994 an der Komischen Oper Berlin war große Klasse. Dann habe ich ihn auch mehrfach als Konzertdirigenten erlebt und einmal einen konzertanten "Titus" in Basel - alle sehr gut.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"