Wenn man in den sehr informativen Beiheften der bisher erschienenen Bruckner-Aufnahmen blättert, so wird man stets von der obigen Überschrift "Der andere Bruckner" empfangen.
Danach folgt die Frage: "Warum eine neue Gesamtaufnahme?" und es folgt das "Bekenntnis eines 'Bruckner Dirigenten'".
Der Einfachheit halber zitiere ich einige wesentliche Passagen von der JPC-Homepage:
ZitatWenn Mario Venzago ein größeres Projekt anfängt, kann man sicher sein, dass etwas Außergewöhnliches dabei herauskommt. Das war bei seinem Schumann-Projekt so, und das ist jetzt wieder der Fall, wenn er sich nun in radikal neuer Sicht sämtlichen Bruckner-Sinfonien widmet: „Diese Aufnahme soll darlegen, dass Bruckner nicht neun Mal die gleiche Sinfonie geschrieben hat (wie oft behauptet) sondern dass jede einzelne ihre unverwechselbare Aussage hat, für die der Komponist stets neue musikalische Prinzipien und ein stets wechselndes Klangbild erfand. Es war deshalb mein Wunsch, jeder Sinfonie ein spezifisches Orchester ganz unterschiedlicher Größe, Kultur und Tradition zuzuordnen. Wie jede Interpretation ist auch das Projekt „Der andere Bruckner“ eine Momentaufnahme. Diese Einspielungen betonen das Charakteristische jeder Sinfonie. Dennoch gelten folgende Kriterien für das Ganze: ein durchwegs schlanker Ton in der Tradition Schuberts (gegen jedes Massige, Pathetische), ein rubatoreiches, taktstrichfreies Musizieren und das Herausarbeiten sakraler, ritualer Momente.“ Seien Sie gewiss: Es ist ein Hörabenteuer, das Sie hier erwartet! Das Sinfonieorchester Basel eröffnet den Reigen.
Im weiteren Verlauf spricht Venzago davon, daß sich bei Bruckner eine "Tradition des Massigen etabliert" hat, "das sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Das Lärmige, Dicke, das Pathetische, das Protzige, die sich aufrecht den Taktstrichen entlang hangelnde Behäbigkeit, eine neoklassizistische Motorik, das alles hat sich erhalten und gilt als Bruckner Stil."
Starke Worte, die es mir wert erscheinen, in einem eigenen Thread genauer beleuchtet zu werden.
Bisher erschienen vom "anderen Bruckner" drei Ausgaben:
Ganz von der Hand zu weisen ist das, was Venzago vollmundig von sich gibt, nicht. Was sich bei vielen Barock-Komponisten, bei Mozart und Beethoven (u.a.) seit ca. drei Jahrzehnten, wenn nicht gar noch länger (bei Bach z.B.), begann zu etablieren, fehlt bei Bruckner fast vollkommen: Abkehr von der "fetten Romantik" und Rückkehr zu "den Wurzeln", zur Tradition, in der die Meisterwerke entstanden sind.
Beethoven (bei ihm kenne ich mich am besten aus und deswegen wähle ich ihn) erfuhr spätestens seit Michael Gielen eine "Renaissance". Er wandelte konsequent auf Spuren, die ihm von Toscanini, Scherchen, Schuricht, Leibowitz etc. vorgegeben wurden. Metronomangaben fanden ihre Berücksichtigung, die Orchesterstärke wurde reduziert, auf nicht notierte Rubati wurde mehr oder minder verzichtet, die "originale Orchesteraufstellung" (u.a. mit sich gegenübersitzenden Violinen) wurde wieder entdeckt etc.
1:1 kann man mit Bruckner nicht verfahren, denn weder existieren detaillierte Metronomangaben bei den Tempi noch ausführliche Dynamikangaben. Häufig entdeckt man z.B. die Bezeichnung "forte" und darf sich überlegen, was man daraus macht.
Nichtsdestotrotz hat sich hartnäckig ein recht einheitliches Bruckner Bild festgesetzt: langsame, getragene Tempi, großflächig agierende Blechbläser, eigeebnete Dynamik.
Aber es besteht "Hoffnung": Die Originalversionen verschiedenster Sinfonien setzen sich immer mehr durch und damit auch ein Bild des "revolutionären" Komponisten und nicht des "behäbigen". Thomas Dausgaard spielte die 2. Sinfonie mit dem schwedischen Kammerorchester ein, Philippe Herreweghe präsentierte die 4., 5. und 7. Sinfonie auf Originalinstrumenten, Sir Roger Norrington die 3. und wendet sich (bei imo uneinheitlicher Qualität) mit stellenweise rasanten Tempi zusammen mit dem RSO Stuttgart gegen jegliche traditionelle Gemütlichkeit.
"Braucht" man dennoch Venzago? Wird er seinem selbstbewußten Anspruch gerecht?
Immerhin verzichtet er auf die deutsche Orchesteraufstellung und damit auf Bruckners kompositorischen Wunsch, demzufolge die Violinen sich gegenüber und nicht nebeneinander sitzen sollen. Auch führt er bei der "Romantischen" die altbekannte Version von 1878/80 auf und nicht die Erstfassung von 1874. Ungeachtet von Geschmacksfragen war Bruckner selten kühner in der Rhythmik, der Dynamik und in Tempoangaben als in der Erstfassung.
Im Adagio der 7. Sinfonie hört man den umstrittenen Beckenschlag, von dem man in letzter Konsequenz nicht weiß, ob Bruckner ihn spielen lassen wollte oder nicht. Fast nirgendwo ist er so sehr verzichtbar wie bei Venzagos interpretatorischem Konzept der Abkehr von der "Tradition des Massigen".
Legt man also ganz strenge Maßstäbe an, so könnte man beckmesserisch feststellen "Mission gescheitert, Chance verpaßt", bevor man sich überhaupt mit den Interpretationen der einzelnen Sinfonien auseinander gesetzt hat, aber das wäre mir zu einfach.
Also: Ran an die Sinfonien . In den folgenden Threads werde ich näher auf die einzelnen Sinfonien eingehen.
Ich weiß, daß der ein oder andere Taminoraner die Sinfonien ebenfalls besitzt und freue mich daher auf einen hoffentlich regen Austausch.