Charles Gounod
Gesetzlos
Akzeptiert man Richard Wagners musikdramatische Theorie in ihrer absoluten Strenge und wendet sie auch an, so reißt man grundlos eine Reihe der schönsten Blüten aus dem Kranz der Musik und beraubt sie um die Errungenschaften, die deren Herrschaftsbereich im Verlauf der Geschichte erweitert und bereichert haben.Auf welche dramatischen Grundsätze kann man sich schon berufen, um die folgenden musikalischen »Reformen« zu rechtfertigen:
1. Ersatz des Gesangs im eigentlichen Sinne durch die Deklamation (und sei sie auch rein und vollkommen).
2. Ausschluß der Vokalpolyphonie (der Ensemblestücke).
3. Abschaffung der Tonalität (der harmonischen Einheit).
4. Leugnung und Einebnung der Grenzen, die ein »Musikstück« bestimmen und abgrenzen, und Verkündung des Prinzips der »unendlichen Melodie«.
Ich wiederhole es noch einmal, weil ich glaube, daß es die ganzeWahrheit ist: Kein Ausdruck, kein wie immergearteter Ausbruch des dramatischen Gefühls verlangt oder erlaubt im musikalischen Drama die Übertretung eines einzigen Gesetzes von denen, die die Musik im eigentlichen Sinne bestimmen.Niemals hat sich das Genie – genauso wenig wie die Freiheit - in ein Gesetz eingeschlossen gefühlt, dieses ist vielmehr nichts anderes als die Voraussetzung des Lebens. Wie verschieden sind die Genies Bachs, Haydns, Mozarts, Beethovens, Webers, Glucks, Rossinis, Mendelssohns! Und dennoch, welch durchgehender Respekt vor den immer gleichen Gesetzen!
Nein, es kann nicht zugelassen werden, daß die Negierung grundlegender Gesetze sich als ein Moment des Fortschritts ausgibt; man greift nicht ungestraft die Grundlagen der menschlichen Natur an. Bemühungen in dieser Richtung können eine Zeitlang Anlaß zu Staunen und Überraschung geben, aber früher oder später stoßen sie unausweichlich und unwiderruflich auf das unerbittliche Dementi der Nachwelt. Wer sich von den Gesetzen frei macht, stürzt sich in alle Arten von Anarchie: allein unvergänglich ist der Ausdruck des Lebens - eine Tatsache, die durch die Gesetze dieses Lebens bestätigt wird.
Verehrte Taminos, das wird wohl niemand mehr so stehen lassen, doch wie weit will die Entwicklung der Tonalität, das heißt der Atonalität, gehen, bis der Pendel in die andere Richtung schwingt, wenn er es je tut?
Werden sich die menschlichen Organe jeder Form der musikalischen Beeinflussen notgedrungen anpassen? Wird das, was wir heute als Kakophonie empfinden, jemals für die Ohren unserer Nachfahren harmonisch klingen?
Sind wir Melodie-Nostalgiker noch zu retten? Armer Gounod, wenn´s denn nur um Wagner ginge!
Grüße
hami1799