2012 - Friedrich Gulda und sein Beethovenbild

  • Bei Gulda müssten ja die Beiträge nur so hereinfliegen, wenn man die Wertschätzung, die man seinem Beethoven-Klaviersonaten-Zyklus zur Zeit seines Entstehens entgegenbrachte als Maßstab nimmt. Gulda ist ja ein Zeitgenosse von Brendel, keiner Von Kempff und Backhaus. Noch heute geniesst diese Aufnahme einen gewissen Kultstatus. Das kann man auch daran ermessen, daß sie das einzige Relikt der einstigen österreichischen Schallplattenfirma "Amadeo" ist - Universal hat die Rechte erworben und vermarktet die die Einspielung in unzähligen Verpackungen und Compilationen auf den Makt gebracht.



    Man bemerkte die "rhythmische Orientierung" der Aufnahme, die von manchen bewundert, von anderen eher bemäkelt wurde.

    Joachim Kaiser schrieb beim Erscheinen der Aufnahmen:

    Zitat

    "Sein Beethoven-Spiel ist wahrhaft aufregend. Gulda gilt als der fesselndste, umstrittenste Beethoven-Spieler seiner Generation. Wie spielte er 1968 die Sonaten? Ausgesprochen maskulin, kraftvoll, bestimmt, entschieden. Große Zusammenhänge geraten ihm wie aus einem Guß, werden überschaubar, einfach. Mit seiner Beethoven-Kassette setzte Gulda einen neuen Standard."


    Hier noch ein kleiner Ausschnitt aus Beethovens Klavierkonzert Nr 5
    Auch hier ist Guldas eigenwillige Art gut dokumentiert...

    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ja, da lass ich mal einen fliegen....
    Ich kenne die Sonaten fast nur aus dieser Box. Und viele davon gefallen mir sehr gut. ABer da ich nur diese Aufnahmen kenne, interessiert mich vor allem: Höre ich da mehr Beethoven oder mehr Gulda! D.h., hat er die Stücke verändert? Oder spielt er sie Note für Note.
    Ich finde es toll, wie er manchmal in die TAsten haut und so ähnlich stelle ich mir persönlich Beethoven vor, wie er wild und zerzaust losjagt, wilde Sprünge vorführt, den Zuhörer vor den Kopf schlägt, Tanzrythmen aufblitzen lässt und wilde Gewitter.
    Ja, ja, so war er der Beethoven. Ich erinnere mich genau...
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zitat

    Höre ich da mehr Beethoven oder mehr Gulda ?


    Das ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt. Auf jeden Fall hat Beethoven nicht auf einem modernen Flügel gespielt, somit war das klangliche Ergebnis in jedem Fall anders. Zudem waren die Klaviere zu Beethovens Zeit - gemessen an den heutigen - filigrane Dinger mit teilweise träger Mechanik. Solche Bravourstücke, wie sie heutige Flügel ermöglichen, waren damals einfach nicht durchführbar. Somit könnten wir sagen, Beethoven hätte niemals das Tempo und die Dynamik eines Friedrich Gulda erreichen können - aber das wäre insofern falsch, als wie einerseits nicht wissen, wie Beethoven gespielt hätte, hätte er über einen "modernen" Flügel verfügt, andrerseits hat das damalige Publikum vermutlich sensibler reagiert als ein heutiges...


    Für Interessierte habe ich zwei Musikbeispiele herausgeklaubt (es kann natürlich JEDER Satz als Referenz herangezogen werden wo der Beginn des 3. Satzes der Sonate Nr 21 op 11 gegeneinander verglichen werden kann.
    Der introvertierte Tüftler Alfred Brendel gegen den extrovertierten "Jazzmusiker" Friedrich Gulda....



    Disk 4 von 10 Track Nr 12 (Menuetto)



    Disk 4 Von 12 Nr 2 (Menuetto)


    Natürlich kann dieses Vergleichsspiel mit jedem Satz jeder Sonate angestellt werden - mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen - aber ich warne vor Übersättigung....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zudem waren die Klaviere zu Beethovens Zeit - gemessen an den heutigen - filigrane Dinger mit teilweise träger Mechanik. Solche Bravourstücke, wie sie heutige Flügel ermöglichen, waren damals einfach nicht durchführbar.


    Oh - zunächst möchte ich sagen: "filigran" stimmt.


    Zum Übrigen meine ich, es wäre so: Die damaligen Hammerklaviere benötigten viel weniger Tastendruck, um einen Ton zu produzieren. Gerade leggiero-Passagen sind auf diesen Instrumenten viel einfacher zu spielen.


    Und das berühmte Oktavglissando in der Waldsteinsonate führt am Steinway - je nach eingesetzter Kraft - entweder zu Hautabschürfungen oder zu gebrochenen Fingern, am Hammerklavier ist es hingegen völlig unproblematisch.


    Es ist also, was Bravura angeht, eher umgekehrt: Flinkes Spiel ist am Hammerklavier ungleich leichter. Außer Frage steht, dass der moderne Flügel in puncto Klangkraft und Tragfähigkeit des Tones des alten Instrumenten weit überlegen ist - und im Diskant brillanter, in den Bässen gewaltiger klingt.


    :hello:

  • Für Interessierte habe ich zwei Musikbeispiele herausgeklaubt (es kann natürlich JEDER Satz als Referenz herangezogen werden wo der Beginn des 3. Satzes der Sonate Nr 21 op 11 gegeneinander verglichen werden kann.
    Der introvertierte Tüftler Alfred Bendel gegen den extrovertierten "Jazzmusiker" Friedrich Gulda....


    Bis auf ein paar bekannte mittlere habe ich alle Beethovensonaten durch die Gulda-Box kennengelernt. Für viele Sonaten ist das immer noch die einzige Einspielung, die ich habe, aber ich höre die Sonaten fast nie. Dein Hörbeispiel zeigt ziemlich gut mein Problem: Gulda stellt für mich den Part der linken Hand zu sehr in den Hintergrund. Da hilft mir die dämonischere Erruption im B-Teil dann auch nicht mehr weiter, der Anfang klingt mir bei Gulda zu verwaschen und harmlos, und die Versuchung, einfach drüber hinwegzuhören, ist bei mir groß. So geht mir das bei so mancher frühen Sonate, und vermutlich weiß ich gar nicht, wie großartig diese Stücke sind, genauso, wie ich es bis eben - nämlich bis ich Brendels Hörbeispiel gehört hatte - bei dem Menuett aus op. 22 nicht wusste.
    Interessant, dass Du den "Jazzer" Gulda erwähnst: Von dem würde ich doch eigentlich erwarten, dass er die dissonanten/chromatischen Stellen am Anfang bluenotehaft auskostet - aber das tut Brendel viel mehr.


    Viele Grüße,
    Frank.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Um welche Sonate geht es nun? op.22 (Nr.11) oder op.53 (Nr.21)?


    Ich habe die Beethoven-Sonaten anfangs in drei Stufen kennengelernt: Zunächst einige der bekanntesten auf einzelnen MCs und dann CDs. Als ich damit vielleicht 70% oder so zusammenhatte, kaufte ich mir die damals (ca.1997) vergleichsweise preiswert herausgekommene DG-Box mit der beinahe kompletten Gilels-Einspielung. Hier konnte ich mich mit vielen der frühen Sonaten (jenseits von den bekanntesten wie op.13 oder 10/3 usw.) nur bedingt anfreunden. Ein oder zwei Jahre später gab es dann bei 2001 Guldas Aufnahmen (noch in der Amadeo-Schachtel, sehr spartanisch, nur mit einfachen Beiblättern und ein track pro Sonate!) und die hat mich erst richtig für die frühen Sonaten begeistert. Ich habe die Aufnahmen nun auch länger nicht mehr gehört, aber damals war ich von Guldas Energie und drive sehr angetan. Die langsamen Sätze zerfielen mir bei den sehr "monumentalen" Interpretationen Gilels' in Einzelheiten, während sie bei Guldas flüssiger Spielweise viel leichter zu erfassen waren.


    Man mag dagegen halten, dass Gulda die "Tiefen" der Werke nicht angemessen auslote und "flach" über alles hinwegspielte. Ich fand ihn jedenfalls bei sehr vielen Werken erfrischend und überzeugend und ein Blick in die Noten zeigt auch, dass er keinesfalls flüchtig mit dem Text umgeht, selbst wenn rubato minimal ist und Einzelheiten immer dem Ganzen untergeordnet werden. Seine Phrasierung scheint mir auch immer sehr "natürlich", selbstverständlich zu sein, was natürlich nicht aufhorchen lässt wie ungewohnte Manierismen. (Wie sie sich meiner Erinnerung nach in einigen der späten Brendel-Aufnahmen finden, ich besitze die aber nicht.)


    Einige Tempi mag man grenzwertig schnell finden (sowohl in schnellen wie auch in langsamen Sätzen), es ist aber insgesamt eine der Aufnahmen, die sich mit am engsten an die von Beethoven (bzw. Czerny) überlieferten Tempi hält. Ich habe die nun auch ziemlich lange nicht mehr gehört (weil ich überhaupt nicht mehr so viele Beethoven-Sonaten höre oder wenn dann eben neu angeschaffte), aber in einigen älteren threads (Vergleiche zB bei op.31) war ich von Gulda meist wieder sehr angetan.
    Bei den späten Sonaten mag man einiges zu wenig poetisch finden, aber die beiden am wenigsten fantastisch-romantischen, op.106 und 111 fand ich bei Gulda immer sehr überzeugend.
    Während für mich wie anderswo geschrieben, Backhaus' Nüchternheit in Richtung Trockenheit geht, kompensiert Guldas unwiederstehlicher drive vieles, was sonst etwas "neutral" scheinen mag.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dieser Gulda Zyklus - bzw einige Aufnahmen daraus waren meine ersten Schritte in Sachen Beethoven Sonaten. Aufgenommen wurden sie - soviel mir bekannt ist - in einem Landesstudio des Österreichischen Rundfunks für das österreichische Label "AMADEO" Die Aufnahmen sorgten damals in Wien für Furore. Zusätzlich zur hervorragenden Interpretation Guldas ist noch die vorzügliche Tontechnik zu erwähnen. Ein gewisses Grundrauschen im Pianissimo war natürlich damals (1968) unvermeidlich - aber die Natürlichkeit des Klavierklanges ist meiner Meinung nach unübertroffen.


    Die AMADEO -Österreichische Schallplatten Ges m b H gibt es schon lange nicht mehr. Und ast alle ihrer Aufnahmen sind vom Markt verschwunden. Die Beethoven Klaviersonaten mit Friedrich Gulda jedoch sind von Universal übernommen worden und zählen noch heute zum festen Bestand des Angebots.


    Friedrich Gulda äusserte sich dereinst in einem Interview mit ORF Redakteur Kurt Hoffmann folgendermaßen:
    "Ich lese aus diesen Einspielungen mit einem gewissen wohlwollenden Interesse meine Entwicklung ab.
    Ich würde heute (ca 1988) die Beethoven Sonaten nicht so spielen wie auf dieser Auifnahme, aber man kann sich das durchaus anhören. Manches ist ein bisschen extrem im Tempo oder an der Grenze.
    Trotzdem muss ich sagen, bewundere ich das. Diese runde und völlig geschlossene Leistung, dass sämtliche Beethoven-Sonaten mit einer unheimlichen Perfektion da rüberkommen, das muss ich mit dem Abstand von über 20 Jahren sagen, ich verstehe, dass diese Aufnahme ein Bestseller wurde, und immer noch ist"
    (zitiert aus dem Booklet der Universalveröffentlichung)


    UND IMMER NOCH IST - Heute fast 25 Jahre nach diesem Interview und beinahe 45 nach der Aufnahme dieses Zyklus hat dieser Satz nichts an Gültigkeit verloren


    Ich habe mir soeben den ersten Satz aus der Sonate Nr 3 in C-dur vergleichend mit Kempff angehört und die Unterschiede gehört. Wer aber ist der Sieger ? --- Natürlich BEETHOVEN !!!


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Guldas Zyklus auf Amadeo war mein erster Zyklus, damals noch auf LP, und er ıst heute noch einer meiner Referenzzyklen, wobei er natürlıch einige Mitstreiter bekommen hat, Brendel, Backhaus, Arrau und Gilels (letzterer leider nicht ganz vollstaendig. Über die Vorzüge dieses Zyklus ist ja schon Einıges gesagt worden. Nachteile kenn ich keine.


    Liebe Grüsse aus der Türkei


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Aus gegebenem Anlass möchte ich diesen Thread erneut nach oben katapultieren.
    Durch den niedrigen Preis, um den diese Aufnahme heute angeboten wird - und vielleicht auch ein wenig durch das analoge Bandrauschen der Einspielung bedingt - wird immer wieder der Ausnahmerang vergessen, den diese Aufnahme bei ihrem Erscheinen hatte - und den sie in gewisser Weise auch heute noch für sich beansprucht. Mal abgesehen von der hervorragenden Interpretation finde ich auch den Klang des Flügel geradezu optimal eingefangen. Diese Aufnahme ist übrigen die einzige mir bekannte, welche das österreichische Klassiklabel "AMADEO" überlebte. Die Rechte liegen heute bei Universal, welche sie einerseits unter dem Label DECCA vermarktet, neben dem immerhin noch das Logo des Originallabels angebracht wurde - andrerseits an BRILLIANT CLASSICS in Lizenz vergeben wurde.


    Ich zitiere nur selten aus Musikkritiken - aber in diesem Falle scheint es angebracht.


    Zitat

    Joachim Kaiser: "Sein Beethoven-Spiel ist wahrhaft aufregend. Gulda gilt als der fesselndste, umstrittenste Beethoven-Spieler seiner Generation. Wie spielte er 1968 die Sonaten? Ausgesprochen maskulin, kraftvoll, bestimmt, entschieden. Große Zusammenhänge geraten ihm wie aus einem Guß, werden überschaubar, einfach. Mit seiner Beethoven-Kassette setzte Gulda einen neuen Standard." (zu den Sonaten)


    Mit diesem Zyklus erwirbt der Käufer nicht nur einen der schönsten (andere werden sagen "bedeutendsten") Zyklen der Beethovensonaten auf Tonträger - sondern auch ein Stück Schallplattengeschichte....


    Ein MUSS !!!


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich kann mich leider hier nicht beteiligen, möchte aber ein "Geständnis" machen.


    Als die Schallplattenkassette der Beethoven-Sonaten mit Gulda erschien, geriet ich damals in in eine Art Beethoven-Sonaten-Rausch. Ich kaufte mir das bei Fischer erschienene Buch von Joachim Kaiser über die 32 Sonaten und arbeitete mich von vorne bis hinten, Sonate für Sonate bei Gulda hörend und bei Kaiser studierend, durch das ganze Sonaten-Opus durch.


    Das war eine meiner schönsten Erfahrungen einer hörend-rezeptiven und reflexiven Begegnung mit Musik. Gulda sei Dank!

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Gulda spielt Beethovens 5. Klavierkonzert in 2 historischen Videomitschnitten auf Youtube.



    Dieses Konzert aus Wien von 1966 leitete George Szell.
    Die Bildqualität ist trotz HD natürlich nicht mit heutigen Maßstäben vergleichbar.
    Das Konzert ist auch als CD/DVD erhältlich, im Neuzustand allerdings teuer.
    Der download von Youtube in HD dürfte der DVD-Qualität entsprechen.



    Dieses Konzert kommt aus München.
    Gulda tritt in München als Pianist und als Dirigent auf.
    Trotz unbefriedigender Bildqualität muß man das Konzert gesehen haben, denn Gulda dirigiert nicht etwa so nebenbei vom Flügel, sondern er dirigiert auch stehend vor dem Orchester.
    So springt er hin und her, je nachdem, was gerade erforderlich ist.

    mfG
    Michael