2012 - Alfred Brendel und sein Beethovenbild

  • Alfred Brendel ist wohl der am schwierigsten einzuordnende Pianist dieser Serie
    Joachim Kaiser bezeichnet ihn als "immer schon Interessant"", wenngleich zu Beginn seiner Kariere nicht "erstklassig",er habe sich erst im Laufe der Zeit entwickelt...dann aber außerordentlich (Als diese Einschätzung geschrieben wurde war Brendel gerade 40 Jahre alt !!)
    Diesem Urteil mag man sich anschließen oder auch nicht. Brendel war natürlich immer ein hervorragender Interpret. Allerdings hat er seine Interpretationen stets hinterfragt und im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert. Während Kempff dereinst den Spitznamen "Seher" erhielt, wird Brendel gelegentlich als "Philosoph am Klavier" bezeichnet, wozu sicher auch seine hochintelligenten Vorträge, bzw Aufsätze, bzw Bücher über Interpretationsmöglichkeiten von Wiener Klassikern - mit Bezugnahme auf diverse Pianistenkollegen der Vergangenheit - beigetragen haben. (Brendel ist übrigens als Autor durchaus witzig und interessant - daß er kompetent ist, steht ja ausser Zweifel
    Tatsache ist, daß man eine Entwicklung zu immer mehr Rafinesse seiner Interpretationen verfolgen kann, wenn man seine existierenden Beethoven-Zyklen miteinander vergleicht. Auf jeden Fall hat er es vermieden einen Interpretationsstil starr beizubehalten, er hat immer Neues versucht, sich hiebei jedoch auf einige Komponisten beschränkt. Uns interessiert in Zusammenhang mit diesem Thread ohnedies nur Beethoven.
    Interessant auch der Unterschied der Gestik des Künstlers zu anderen Kollegen.
    Kempff sitzt still versunken und hört seinem eigenen Spiel mit Hingabe, fast verklärt zu
    Backhaus, mit fast ausdrucksloser Mine plant er sein Spiel - mit sich selbst im Reinen - sicher in jeder Hinsicht
    Brendel, nervös , fiebernd, teilweise mit verzerrtem Gesicht, emotionell stark eingebunden


    Einige Aufnahmen von Sonaten - vermutlich jene von Vox
    1970-1983
    1992-1995


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Guten Morgen zusammen!
    Alfred Brendel passt meines Erachtens hervorragend in diese Gruppe Pianisten, denn er ist nicht mehr aktiv, lebt aber noch - man hat also noch etwas von ihm! Welch seltener Glücksfall!
    Sein Beethoven, damals live gehört in den Konzerten in der Alten Oper, besticht durch eine erzählerische Komponente. Brendel erzählt Geschichten, wenn er spielt - keine selbst erfundenen, sondern die Geschichten im Notentext natürlich, die andere Pianisten aber nicht verstehen, oder nicht erkennen, oder aber (egoistisch?) für sich behalten.
    So wird, ob freudig oder dramatisch, die Musik um eine im besten Sinne unterhaltende, mitunter deutlich humorvolle Komponente bereichert.
    In Brendels Vorträgen über Musik erfährt man, mit welcher Akribie er dem "richtigen" Ausdruck nachforscht, wie er versucht, einerseits sein Wissen über Werk, Entstehung, Umfeld, Zeitgeschichte etc. mit einfließen zu lassen, andererseits schlicht dem Notentext zu entnehmen, was über den ersten Blick hinaus möglicherweise noch darin steckt.
    Wenn er sich jede Sonate Takt für Takt so erarbeitet, wie man an solchen Abenden den Eindruck erhält, dann ist das eine riesen Aufgabe.
    Dies alles drängt sich mir auf, wenn ich an Brendels Beethoven denke. Allerdings gilt das auch für Schubert oder Haydn...
    Beste Grüße
    Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Felix Meritis schrieb:

    Zitat

    Jetzt, da ich einen Brendelianer griffbereit habe, möchte ich Dich nämlich fragen, was Du an Brendels Interpretationen so einzigartig findest? Ich habe ja einiges von Brendel, u.a. Beethoven, aber ich komme einfach nicht dahinter, was die Leute an ihm so fasziniert. Das ist nicht polemisch gemeint, sondern ernsthaft.


    Ich finde das ist ein guter Ansatz diesen Thread hier fortzusetzten - oder besser gesagt in Schwung zu bringen.
    EINE Antwort ist ja schon in Beitrag 2 zu lesen....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    clck 190

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das, was Accuphan schreibt, habe ich natürlich auch schon oft gehört. Das erinnert mich an bisschen an Schostakowitsch, bei dem die Leute mehr übere Stalin reden als über die Musik selbst ;) . Aber ernsthaft, wie würdet Ihr Brendels Klavierspiel selbst charakterisieren? Mir fällt ganz einfach nichts besonderes auf.

  • Ich würde hier gern einhaken, mich hat an Brendel immer sehr sein Wille zur Gestaltung der gespielten Stücke fasziniert, die sich bei zahlreichen Einspielungen finden läßt (mir fällt grade ganz vage eine Schubert live Aufnahme ein, das müßte ich aber noch einmal überprüfen).
    Es ist zwar immer seltsam, wenn man sich einem musikalischen Ansatz über das geschriebene Wort nähert, aber ich fand hier Brendels Buch "Nachdenken über Musik" (aus den späten 1970er Jahren) recht interessant, weil auch dieses Buch, ebenso wie seine Lyrik und Malerei, ebenjenem Willen zur Gestaltung entspringt. Für mich überwiegt dieser Gestaltungswille Brendels, der sich musikalisch imO in vielfältigen Klangfarben äußert (die einem nicht immer passend erscheinen mögen) noch seinen immer als "intellektuell" bezeichneten Ansatz, der auf Brendels analytische Auseinandersetzung mit den Werken zurückgeht.
    Eine ähnliche Balance zwischen Durchdringung/ Verständnis eines Werkes und phantasievoller Ausgestaltung ist nicht so leicht zu finden und das macht für mich auf jeden Fall den Reiz Brendels aus. Ob das als weitere Antwort auf die Frage gelten mag, lasse ich einmal dahingestellt ...


    Herzliche Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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  • Lieber Felix, vielleicht ist es ja genau das, was ich eben im Sonaten-Thread auch mit anderen Worten zu sagen versuchte. Wenn man im Brendel-Spiel auf das Besondere wartet, wartet man oftmals vergeblich. Sein Spiel ist so natürlich, so entspannt, hat sich in seiner letzten Auftrittsdekade zunehmend unspektakulär weiter entwickelt, was gewiss kein Widerspruch ist. Ich versuche ja, bestimmte Floskeln zu vermeiden, aber sein Spiel ist in bestem Sinne "von klassischem Ebenmaß" geprägt, es ist "fein", und in dieser "Feinheit" bringt es oftmals erschütternde Wirkungen hervor. Nicht nur in dem von mir im anderen Thread erzählten Beispiel, als ich zum ersten Mal von ihm das f-moll-Impromptu D. 935 hörte, flossen meine Tränen, sondern auch viele Jahre später, als er das gleiche Stück in der Kölner Philharmonie spielte. Und ich habe mich ihrer nicht geschämt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber JLang,


    dein Posting hat sich mit meinem überschnitten, aber ich kann das, was du sagt, nur unterstreichen. In seinem Buch "Über Musik", das im März 2007 bei Piper als Taschenbuchausgabe erschien und die Texte des von dir genannten Buches enthält, geht dies in den Tat aus seinen Essays hervor, wie genau er sich mit den einzelnen Werken beschäftigt hat. Dass er nach seiner aktiven Karriere damit nicht aufgehört hat, zeigt die Tatsache, dass er mit seinen "Lectures" heute immer noch auftritt und in seine Vorträgen auch musikalische Besipele am Flügel einfließen lässt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Brendel wurde zunächst von den großen Plattenkonzernen kaum beachtet. Joachim Kaiser billigt dem jungen Brendel das Attribut "interessant" zu, für "erstklassig" hält er ihn erst ab 40. Er beschreibt Brendels Vorzüge und Nachteile im Konzertsaal und jene auf der Schallplatte sehr differenziert. Brendel selbst bestätigt dieses pauschale Urteil indirekt selbst, wenn er beklagt, daß Schallplattenfirmen nur widerwillig aufnahmedaten veröffentlichten und ausserdem in der Lage seien aus "passablen Tonbandaufnahmen" schlechte Schallplatten zu machen.Brendel spricht sich für "Notentreue" aus kann aber mit dem Begriff "Werktreue" nur bedingt etwas anfangen. Er sei kein kritikloser Befehlsempfänger des Komponisten, versuche diesen aber mit besten Kräften "zu unterstützen"


    Wenn man diese Aussagen liest - es gibt noch mehr davon, dann hört man Brendel mit anderen Ohren, Brendel ist kein Tatendonnerer, aber auch kein Grübler (was ihm oft nachgesagt wird) sondern jemand der sich lebenslang mit dem Notentext Beethovens auseinandergesetzt hat - immer wieder das eigne Beethovenbild korrigierend (einen Faktor den er gern betont) wohl wissend, daß seine momentane Meinung morgen durchaus obsolet sein kann - allerdings vermutlich nur in Details.
    Brendel hat sich auch mit Aufnahmen und Aussagen anderer Pianisten befasst - sie bestätigt, in Frage gestellt oder kritisch betrachtet. Wer Brendels Buch liest wird vermutlich seine Aufnahmen mit anderen Ohren hören. Keine Angst. Die Bücher könne auch von Laien gelesen werden - zudem hat Brendel einen süffisanten Humor, der die Lektüre angenehm macht.


    Brendel ist für mich der "Karl Böhm des Klaviers" (ob er das wohl gern liest ????) - Man hat bei ihm zumeist das Gefühl: So und nicht anders sollte es klingen.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred


    clck 261

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Na eben, Brendel war ein Suchender.

    Zitat

    Die Bücher können auch von Laien gelesen werden.

    Das kann ich bestätigen.


    Liebe Grüße


    Willi ^^

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Wenn man im Brendel-Spiel auf das Besondere wartet, wartet man oftmals vergeblich. Sein Spiel ist so natürlich, so entspannt, hat sich in seiner letzten Auftrittsdekade zunehmend unspektakulär weiter entwickelt, was gewiss kein Widerspruch ist. Ich versuche ja, bestimmte Floskeln zu vermeiden, aber sein Spiel ist in bestem Sinne "von klassischem Ebenmaß" geprägt, es ist "fein", und in dieser "Feinheit" bringt es oftmals erschütternde Wirkungen hervor.


    Diese Einschätzung Brendels Spiel geht noch am meisten auf meine ursprüngliche Frage ein - aber am Ende bin ich dadurch auch nicht schlauer geworden ;) . Ich werde in der nächsten Zeit mal wieder reinhören und - vor allem - vergleichhören.


    Bezüglich Brendels schrifstellerischer Tätigkeit: ich habe beim Doblinger (ein berühmter Musikalienhändler in Wien) einige seiner Bücher durchgeblättert und mehrere abwertende Urteile über Mendelssohn gefunden. So etwas vergebe ich niemals - und werde daher auch seine Bücher nicht kaufen und lesen X(

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  • Zitat

    Felix Meritis: Ich werde in der nächsten Zeit mal wieder reinhören - und vor allem - vergleichhören.

    Vergleichendes Hören ist eine gute Methode. Und achte auf die Antennen an deiner Hautoberfläche.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Brendel wurde zunächst von den großen Plattenkonzernen kaum beachtet. ...


    Na ja, Brendel begann schon früh, für VOX Platten aufzunehmen - und zwar ziemlich viele (eine 35-CD-Box mit Aufnahmen aus dieser Zeit ist verfügbar). In den 60ern wechselte er zu Philips und blieb sein ganzes Leben dort. Da Philips damals ja ein eher kleiner Player war, konnten die "großen" Plattenkonzerne eigentlich nie an ihn heran...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Wer Brendels Buch liest wird vermutlich seine Aufnahmen mit anderen Ohren hören. Keine Angst. Die Bücher könne auch von Laien gelesen werden - zudem hat Brendel einen süffisanten Humor, der die Lektüre angenehm macht.

    Das würde ich absolut unterschreiben, mir hat Brendel bereits vor der Lektüre als Pianist gut gefallen, aber ich habe ihn danach anders wahrgenommen.



    Zitat

    Alfred Schmidt: Brendel spricht sich für "Notentreue" aus kann aber mit dem Begriff "Werktreue" nur bedingt
    etwas anfangen. Er sei kein kritikloser Befehlsempfänger des Komponisten, versuche diesen aber mit besten Kräften "zu unterstützen"

    Die Aussage halte ich hinsichtlich Brendels Klavierspiel für ganz wesentlich, er gestaltet im besten Sinne die Werke, gibt ihnen eine musikalische Form, die ihnen seiner Meinung nach am besten entspricht. Interessanterweise hat er einmal geäußert, daß es ihm nur in ganz wenigen Momenten gelungen sei, ein Stück so zu gestalten, daß er es für sich rundherum akzeptieren konnte. Diese stete Beschäftigung mit den Werken hat ihm das Attribut "Grübler" eingebracht, das so als Schlagwort sicher nicht treffend ist. Eine gewisse Nachdenklichkeit kann man Brendel aber sicher nicht absprechen.



    Zitat

    Felix Meritis: Bezüglich Brendels schrifstellerischer Tätigkeit: ich habe beim Doblinger (ein berühmter Musikalienhändler in Wien) einige seiner Bücher durchgeblättert und mehrere abwertende Urteile über Mendelssohn gefunden. So etwas vergebe ich niemals - und werde daher auch seine Bücher nicht kaufen und lesen

    Sich das Lesen dieser Werke durch abwertende Bemerkungen über Mendelssohn gleich ganz zu verbieten würde mir allerdings schwer fallen, dazu sind sie einfach zu lesenswert. Ich müßte noch einmal nachschauen, in welcher Form er Mendelssohn abgewertet hat, bin aber bereit viel nachzusehen (und das, obwohl ich nicht nur als zugezogener Leipziger Mendelssohn sehr schätze).
    Letztlich können wir hier immer versuchen, unsere Erlebnisse beim Brendel hören zu beschreiben, zu ersetzen ist das Selberhören nicht. Das feine Spiel, ausgewogene das erschütternde Wirkung haben kann, so wie es William B. A. ausgedrückt hat, finde ich sehr treffend. Brendel selbst sprach einmal in der Zeit von "Equilibrium". Eine Chance, ihn noch einmal vergleichend zu hören, hat er m. E. allemal verdient und seine Beschäftigung mit Beethoven ist unzweifelhaft von großer Tiefe.


    Beste Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Sich das Lesen dieser Werke durch abwertende Bemerkungen über Mendelssohn gleich ganz zu verbieten würde mir allerdings schwer fallen, dazu sind sie einfach zu lesenswert. Ich müßte noch einmal nachschauen, in welcher Form er Mendelssohn abgewertet hat, bin aber bereit viel nachzusehen (und das, obwohl ich nicht nur als zugezogener Leipziger Mendelssohn sehr schätze).
    Letztlich können wir hier immer versuchen, unsere Erlebnisse beim Brendel hören zu beschreiben, zu ersetzen ist das Selberhören nicht. Das feine Spiel, ausgewogene das erschütternde Wirkung haben kann, so wie es William B. A. ausgedrückt hat, finde ich sehr treffend. Brendel selbst sprach einmal in der Zeit von "Equilibrium". Eine Chance, ihn noch einmal vergleichend zu hören, hat er m. E. allemal verdient und seine Beschäftigung mit Beethoven ist unzweifelhaft von großer Tiefe.


    Ich bin da zugegebenermaßen etwas empfindlicher als gemeinhin üblich ;) . Es war aber nicht nur die negative Einschätzung an und für sich, die mich irritiert hat, sondern die fehlende Konsistenz seiner Aussage. Brendel sagte nämlich sinngemäß, dass es wahrlich tragisch sei, dass Mendelssohn als Genie begonnen und als Talent geendet habe. Diese wohlfeile Abqualifizierung war früher häufig (sie basiert auf einer Aussage Draesekes über Schumann - ist also entlehnt) ist aber, gerade bei Brendel aus zwei Gründen, unsinnig. Erstens fand Mendelssohn seine Entwicklung überhaupt nicht tragisch. Im Gegenteil, er fand seine jeweils neuen Werke immer "1000 x" besser als die älteren (dem muss man natürlich auch nicht zustimmen). Das wusste Brendel wahrscheinlich ganz einfach nicht. Aber dass ihm nicht aufgefallen ist, dass das einzige Stück Mendelssohns, das er häufig spielte und das als ein großes Meisterwerk der romantischen Klavierliteratur gilt, nämlich die Variations serieuses, ein Spätwerk sind (1841), also von einem "Talent" geschrieben wurden, ist schon ein ordentlicher Lapsus, der die "Durchdachtheit" seiner Ausführungen in einem schlechten Licht erscheinen lässt.

  • Ich habe mal in meinem Brendel-Buch "Über Musik" nachgesehen und dabei, wie ich finde, etwas überaus Positives gefunden, dass er über die "Variations sérieuses" geschrieben hat:

    Zitat

    Alfred Brendel: In Mendelssohns "Variations sérieuses", seinem wichtigsten Klavierwerk, tritt das latente Pathos des Themas immer bestürzender zutage. "Die Variationen gehen aus d-moll und sind verdrießlich", sagt Mendelssohn in einem Brief. Für die Klassiker war eine Variationsserie in Moll die Ausnahme und eine, die in Dur endete, die größte Seltenheit. Selbständige Variationenwerke dienten der Unterhaltung und dem Vorweisen pianistischer Fertigkeit. (Selbst Haydns zartmelancholische f-moll-Variationen tragen die Bezeichnung Un piccolo divertimento). Die "Variations sérieuses" hatten ein Vorbild in Beethovens c-moll-Variationen. Schuberts Variationen über "Der Tod und das Mädchen" aus dem d-moll-Quartett (erschienen 1831) und Schumanns "Symphonische Etuden" (1837) sind Beispiele dafür, dass die Romantiker nun das Moll bevorzugen; Mendelssohn muss beide Werke gekannt haben. Sein eigener Titel reagiert gegen die Tagesmode der "Variations brillantes", doch schwört Mendelssohn der Virtuosität nicht ab, macht sie vielmehr dem Pathos persönlichsten Ausdrucks dienstbar. Der Gehorsam, den die Variationen ihrem Thema gegenüber bezeugen, ist klassizistisch, zugleich vibirieren in ihnen dunkle Leidenschaften. Der Komponist mit den höflichen Manieren scheint hier von Dämonen bedrängt, die ihn, nach dem "Hexensabbath" (Alfred Cortot) in erschöpfter Resignation zurücklassen. (S. 292)


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Ich habe mal in meinem Brendel-Buch "Über Musik" nachgesehen und dabei, wie ich finde, etwas überaus Positives gefunden, dass er über die "Variations sérieuses" geschrieben hat:


    Wir sind ja hier bereits ziemlich off-topic, daher nur kurz: Ist ja schön und gut, aber weshalb schreibt er dann an anderer Stelle das von mir zitierte? Ich werde es Dir sagen: weil er einfach ein völlig unreflektiertes Mendelssohnbild hat und nur Klischees wiedergibt. Das ist in seiner Generation nichts besonders, daher laste ich es ihm nicht allzu sehr an. Geistvoll ist das aber auch nicht. Sorry.

  • Ich finde Brendels Ausführungen über die "Variations serieuses" (die ich besonders mag!) eigentlich sehr treffend. Da wird ein bestimmtes Genre, das brilliant-virtuose Klavierstück, von innen heraus umgemodelt in Ausdrucksmusik - der Klassizismus ist eigentlich nur noch Fassade, dahinter verbirgt sich durchaus dämonisch etwas ganz anderes. Die Mendelssohn-Rezeption ist seit Wagner leider sehr problematisch, bis heute...


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich versuche wieder zu BEETHOVEN und Brendel zurückzufinden. Auch wenn wir hier vorzugsweise über Beethoven Sonaten sprechen (sollten, :stumm: ) So gehoeren natürlich auch die Klavierkonzerte dazu. Brendel hat sie allein für Philips dreimal eingespielt - und ich gestehe, daß mich keine so richtig begeistert hat, wenngleich jene unter Rattle vermutlich in Deutschland den größten Anklang finden werden. Es wäre interessant hier die Meinung anderer Mitglieder zu lesen, vorzugsweise dann, wenn sie mehr als eine dieser Einspielungen besitzen, bzw auch nur ein beliebiges Beethoven-Klavierkonzert in verschiedenen Aufnahmen mit Brendel gehört haben. Diese eher kritische Sichtweise betrifft aber was meine Person betrifft keineswegs die Sonaten. Ich möchte hier durch meine Aussage nicht prägend wirken - schon deshalb nicht, weil MEIN Beethovenbild in Bezug auf die Konzerte von anderen Pianisten geprägt ist.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich nehme mir einmal die "Ermahnung" zu Herzen und finde zurück zu Brendel, allerdings über die Mondscheinsonate, weil ich diese gerade im Ohr habe. Ich habe den Abend damit verbracht, einige der Sonaten in beiden Aufnahmen Decca 1970er und 1990er Jahre zu hören. Bei der Mondscheinsonate sind dies die Versionen 1972 und 1994. Keine Sorge, jetzt folgt nicht noch eine Rezension der beiden Werke, ich will nur versuchen einige Dinge zu benennen, die mir beim Hören aufgefallen sind.
    William B. A. hatte mit Hinblick auf die Spielzeiten bereits zu Recht von einer "inneren Uhr" gesprochen, bezüglich der Tempi hat Brendel zumindest bei diesem Stück seine Auffassung nicht wesentlich verändert, abgesehen vom noch flüssigeren Adagio (zur Erinnerung: 1972 = 6'01, 2'25, 7'31; 1994 = 5'44, 2'18, 7'35). Aber hat Brendel überhaupt etwas an seiner Auffassung von Beethoven verändert?
    Das anhand einer Sonate zu beantworten, ist gewagt bis töricht. Zumindest läßt sich aber feststellen, daß Brendel seine Auffassung von der Mondscheinsonate partiell verändert hat: so nimmt er sich im ersten Satz zugunsten der Notation zurück, das crescendo beim chromatischen Bogen läßt er später beginnen und er spielt es nicht so ausgeprägt wie 1972 (hier ähnelt seine Auffassung eher der Aufnahme von 1962, das hatte Brendel offenbar mehr überzeugt). Gänzlich wollte er auf dieses Gestaltungsmittel aber nie verzichten (durch das in Takt 40 notierte decrescendo hat er immerhin einen Anhaltspunkt für seine Auffassung: er steigert die im Notentext vermerkte Dynamik). Im zweiten Satz hat er hinsichtlich der Frische des Anschlages die "goldene Mitte" zwischen seinen Einspielungen 1962 und 1972 gefunden: es spielt ein "sanftes staccato", ihm sind die Legatobögen wichtiger als die Akzente, aber er versucht punktuelle Akzente zu setzen. Am deutlichsten scheint sein gewandeltes Verständnis im letzten Satz, Brendel spielt hier in keiner der Aufnahmen einen "feurigen" Beethoven, aber in der letzten Einspielung gestaltet er imO ungleich akzentuierter als bei denjenigen zuvor, bei einer gegenüber den älteren Aufnahmen noch einmal gesteigerten Transparenz des Spiels (die Unterschiede hinsichtlich der Transparenz des Spiels auf eine unterschiedliche Aufnahmetechnik zurückzuführen, scheint mir hier nicht gerechtfertigt).
    Wie deutlich wurde, ist es nicht so einfach, die Unterschiede zu benennen, sie bewegen sich m. E. innerhalb eines Grundverständnisses der Sonate abseits einer Schere zwischen einem getragen vorgebrachten ersten Satz (ein Ansatz, den Brendel für verfehlt hielt) mit furiosem Presto am Schluß. Brendel versucht innerhalb einem gleichmäßigen Spielfluß Akzente zu setzen, an den verschiedenen Aufnahmen erkennt man, daß er sucht, probiert, verwirft oder ihm überzeugend scheinende Ansätze nuanciert. Vielleicht ist diese Suche nach Kleinigkeiten einer der Faktoren, der Brendels Beethovenbild ausmacht. Ich würde zumindest keine Programmatik im Sinne nach dem "Ursprünglichen", Richtigen" dahinter vermuten: Brendel verstand sein Wirken als Interpret ja immer als Wirken in die Gegenwart hinein "Aus den vielfältigen Energien, die jedem Meisterwerk zugrundeliegen, jene zu befreien, die heute am edelsten, am elementarsten berühren – diese Aufgabe hebt den Urtext-Interpreten über einen Museumsbeamten [scil. dessen Aufgabe ja grade der Erhalt des Ursprünglichen ist, JLang] hinaus. Insofern könnte man auch sagen, daß Brendels Auffassung von der Mondscheinsonate nicht nur auf die Person Brendel zu beschränken, sondern immer auch im Kontext einer gewandelten Aktualität zu verstehen ist.


    Ob meine Gedanken wirklich klar sind, weiß ich nicht, ich werde auf jeden Fall in der nächsten Zeit immer einmal wieder Brendelsonaten querhören ... mal sehen, wohin es führt, ein Genuß ist es allemal.
    Herzliche Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Lieber JLang,


    Deine Eindrücke bezüglich der Wandlung Brendels Interpretationen teile ich weitgehend! Wie Du aus dem Mondschein-Tread weißt, hat mich Brendels 1994-Aufnahme des Werks sehr positiv überrascht. Inzwischen habe ich auch die übrigen Sonaten aus der Auskopplung gehört (Pathetique, Appassionata, Les Adieux) und fand meinen guten Eindruck bestätigt. Gerade heute habe ich die Les Adieux gehört und fand Brendels Interpretation ganz wunderbar. Das ist aber natürlich auch ein Werk, das Brendel ganz besonders gut liegt. Ich müsste da jetzt noch einmal die 1972-Version zum Vergleich hören. Andererseits, steht ja jetzt die Waldstein am Programm - da bin ich für die nächsen Wochen ausgelastet.....

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  • Lieber Felix Meritis,


    ich freue mich natürlich sehr, daß Dir die neue Einspielung Brendels gefällt :) . "Les Adieux" ist natürlich wie gemacht für Brendels Spiel, oder natürlich besser: Brendels Spiel für dieses Stück. Aber auch bei den anderen Interpretation fand ich genau das bestätigt, was Brendel in den 1960er Jahren in später immer wieder betont hat: die Suche nach einem Zugang, der dem Werk gerecht wird (Brendel hat sich ja ausgiebig mit den Notationen Beethovens auseinandergesetzt und vertraut z. B. auch nicht immer den Urtexten), aber zugleich immer aus dem Kontext des Zeitpunktes der Entstehung heraus verstanden werden muß. Ich habe in den vergangenen Tagen einige Sonaten im Wechsel 1970er und 1990er gehört und im Schnitt gefallen mir die in der neuen Decca Box besser (daher zählt sie ja auch zu meinen "Unverzichtbaren"). Aber auch ich bin mit Mondschein und Waldstein dann ausgelastet, so daß mein Brendel-Vergleich erst einmal ruhen wird.


    Herzliche Grüße
    JLang

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