Plaudereien über ... L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68, "Pastorale"

  • „Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“ – so schrieb es Beethoven über sein Werk. An dieser Formulierung hat er gefeilt, und er trug Sorge, dass sie beim Erstdruck auch im Titel erschien. Aber trifft die Behauptung denn zu?


    Es ist doch nun einmal so, dass viel „Mahlerey“ in diesem Werk zu finden ist. Vor allem das Gewitter im vierten Satz – eine einzige auskomponierte Naturschilderung mit Blitz und Donner, Wind und Regen.


    Aber auch die Vogelstimmen in der „Szene am Bach“, in der ein ornithologisch offenbar nur wenig gebildeter Kuckuck seinen Ruf mit einer großen Terz anstimmen darf, sind doch wie „gemalt“.


    Oder die Verspottung der Dorfmusikanten – Beethoven lässt einen solchen erst auf der falschen Zählzeit einsetzen und dann tapfer weiter gegen den Takt spielen. Ein herrliches Genrebild! Immerhin hatte er dabei wohl Musikanten aus der Umgebung von Wien im Sinn, immerhin könnte der eine oder andere davon ein Ahnherr von Musikern sein, die später bei den Wiener Philharmonikern (gegr. 1842) mitspielten.


    Darum wollen wir Beethovens Spott auch gar nicht in unziemlicher Weise weiter vertiefen, sondern das Ohr vielmehr noch auf die Posaunen im letzten Satz lenken: Diese tiefen Blasinstrumente waren den Besuchern natürlich bestens vertraut – nämlich aus der Kirche, wo sie üblicherweise den Chorgesang unterstützten. Es entsteht für den Hörer der Beethoven-Zeit das Bild eines Dankchorals in einer Messe nach dem Gewitter.


    Also „Mahlerey“ allenthalben – was ist da mit Beethovens Untertitel? Nun – er lautet ja nicht „Keine Mahlerey!“, sondern „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“.


    Doch was ist nun dieser „mehr Ausdruck“? Ist es vielleicht umgekehrt wie bei Mussorgsky? Bei jenem ist die Promenade der Rahmen, in welchen die Bilder eingefügt werden, wohingegen hier die Bilder der Rahmen zu sein scheinen, in welchem die Empfindungen mit musikalischen Mitteln beschrieben werden.


    Wie ist es mit dem Verhältnis von „Mahlerey“ und „Ausdruck der Empfindung“ in dieser Sinfonie?


    :hello:

  • Müssen wir nicht unterscheiden, lieber Wolfram, wie wir alle diese "Bilder" aus der Natur wahrnehmen? Wir sehen sie ja nicht, wir hören sie und verknüpfen sie erst vermittels unseres Gehirns durch unsere Erfahrung mit entsprechenden Naturbildern. Und es gibt Naturlaute wie den Donner, den Wind, die Musik der Dorfmusikanten und die Vogelstimmen, die wir absolut nicht sehen, wir können sie nur hören und Entsprechendes dabei empfinden, Sorge (und Angst) bei Wind und Donner und Blitz, Wohlbehagen und Freude bei den Vogelstimmen und der Musik der Dorfmusikanten, dankbare Empfindungen nach dem Gewitter.
    In der Tat scheint es Eigenart von uns Menschen zu sein, dass wir unsere Empfindungen gerne mit Bildern verknüpfen, veilleicht auch, um sie besser zu verstehen oder in Worte kleiden zu können.


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hier ist ein sehr interessanter Aufsatz, der sich mit der Pastorale und ihrer Stellung in der "Programmusik" und im Schaffen Beethovens befasst. Das hat mich doch davon überzeugt, von der mir im Grunde sympathischen Toveyschen Lesart, die die Programmatik weitgehend negiert, abzurücken:


    "http://www.sfcmhistory.com/Laurance/Symphonic_poem_GRAD/articles/WillBeethovensPastoral.pdf


    Auch wenn Beethoven das in seinem Zitat nicht sagt, ist ein wichtiger Punkt, den Tovey in den Vordergrund stellt, dass Beethoven die Sinfonieform praktisch nicht verbiegen muss, um die darstellenden Elemente unterzubringen. Ähnliche Passagen wie die Vogelstimmen könnten auch in einer anderen Coda eines Satzes vorkommen, ebenso rhythmische Verschiebungen in einem Scherzo usw. Und der Dankgesang soll ganz gewiss religiöse Untertöne haben, aber wohl eher allgemeinere als die Darstellung eines ländlichen Gottesdienstes. Bleibt somit nur das Gewitter.


    Ich habe die Pastorale als eine der erste Beethovensinfonien kennengelernt (einige Zeit vor der 5.) und liebte das Werk als Anfänger sehr. Inzwischen ist es kein großer Favorit mehr. Aber schon damals, meine ich mich zu erinnern, mochte ich den Kopfsatz am liebsten. Der hat kein Programm, er evoziert die sommerliche Idylle nur durch die "Empfindungen".

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Werte Leser,


    bei der Pastorale habe ich immer das Gefühl, die Abstraktion der Grundidee kommt zu kurz. Man wird viel zu sehr in eine oberflächliche Deutungsart verleitet. Man hört die Vogelstimmen, das Gewitter , wie soll man das interpretieren?


    Möglichst Realitätsnah, als Abbild, Malerei, oder ist die Darstellung durch die Instrumente nicht schon die Abstraktion an sich?


    Irgendwie komme ich mir selber beim Hören in`s Gehege. Sind die Vogelstimmen nicht nur ein Ausdruck für das im Inneren zu Ruhe kommen, Einklang von Geist und Natur, Entspannung, Regeneration?


    Ich glaube, man muss die ganze Symphonie mehr von außen betrachten. Man ist Urlauber, wird in eine neue Umgebung geworfen, im Grunde ist alles Fremd. Auch das eigene Empfinden ändert sich, innere Zusammenhänge aus der Kultur der Umgebung erschließen sich einem nicht, man transformiert das in seine eigenen Zusammenhänge, so wie man es haben möchte.


    Ist das Gewitter wirklich bedrohlich oder ein perfekter Aufhänger für den Höhepunkt des musikalischen Ausdruckes?

  • Wie ist es mit dem Verhältnis von „Mahlerey“ und „Ausdruck der Empfindung“ in dieser Sinfonie?


    Lieber Wolfram,


    zuerst einmal: Ein schön geschriebener und Interesse weckender Eröffnungsbeitrag. :thumbup::)


    Beethovens 6. Sinfonie nimmt für mich in sofern eine Sonderstellung ein, als daß sie diejenige ist, die sich am längsten und hartnäckigsten allen "Hippisierungsversuchen" widersetzt(e). Bezogen auf Deine Anfangsfragen bedeutet dies, daß natürlich Tempoangaben, Dynamikvorschriften, Rhythmik etc. für die Interpretation des Werkes wichtig sind, aber das auch das "Programm der Sinfonie", die Quintessenz des Ausdrucksgehalts, für eine (für mich) gelungene Interpretation unerläßlich ist.


    "Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerei" bedeutet für mich, daß ich nicht zwingend dem naiven, stilisiertem Naturbild, das in den Satzbezeichnungen suggeriert wird, folgen muß, aber daß ich deutlich die Empfindung der Ruhe im zweiten Satz, der Dramatik im vierten und der Freude und Dankbarkeit im fünften verspüren möchte.
    Also keine reine Notenreproduktion, sondern Beachtung des "ungeschriebenen Gesetzes", demzufolge das Entscheidende nicht in den Noten, sondern "hinter" den Noten steht.
    Und das noch ein bißchen mehr als bei allen anderen Beethoven-Sinfonien.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    "Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerei" bedeutet für mich, daß ich nicht zwingend dem naiven, stilisiertem Naturbild, das in den Satzbezeichnungen suggeriert wird, folgen muß, aber daß ich deutlich die Empfindung der Ruhe im zweiten Satz, der Dramatik im vierten und der Freude und Dankbarkeit im fünften verspüren möchte.
    Also keine reine Notenreproduktion, sondern Beachtung des "ungeschriebenen Gesetzes", demzufolge das Entscheidende nicht in den Noten, sondern "hinter" den Noten steht.


    Werter Norbert,


    sehe ich genau so.


    Aber geht Beethoven nicht in seiner Ausgestaltung der Grundelemente etwas zu sehr an der Oberfläche lang?


    Wollte er vielleicht sogar das ländliche Idyll karikieren, indem er die Grundelemente nicht zerlegt, verändert, höchstens in Nuancen, man irgendwie den Eindruck bekommt, er will uns bewußt einschläfern?

  • In der Tat scheint es Eigenart von uns Menschen zu sein, dass wir unsere Empfindungen gerne mit Bildern verknüpfen, veilleicht auch, um sie besser zu verstehen oder in Worte kleiden zu können.

    Hallo Willi,


    wenn Du bei Solti Digital bei der Sechsten angelangt bist, denke bitte daran - bei von Dohnanyi 2010 NDR-Version ertönt etwa 10 min. vor Schluss der Sinfonie (kann den Satz nicht genau angeben, da die Sinfonie in einem Block runter geladen wurde) ... so nimm den meine Hände...(Silchers Anleihe). Ich gehe davon aus, dass das bei Solti auch so klingt. Werde es mir gleich mal anhören, wenn ich die CD gefunden habe. Gefunden. Am Ende des viertes Satzes!


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Hallo Thomas,


    an eine Karikatur des ländlichen Treibens mag ich nicht so recht glauben, denn Beethoven galt als großer Liebhaber der Natur und empfand dort seine weiter fortschreitende Taubheit als nicht so belastend.


    Nichtsdestotrotz ist die Beschreibung der Natur natürlich stark idealisiert und erscheint recht naiv. Ich erkläre mir diese Effekte am ehesten damit, daß Beethoven mit der Idylle einen größeren Kontrast zum Schwesterwerk, der 5., schaffen wollte.
    In Anlehnung an den US-amerikanischen Musikwissenschaftler William Kinderman: „Wie die ‚Waldstein‘ und ‚Appassionata‘-Sonate stellen die Fünfte und die Sechste Sinfonie disparate musikalische Werke dar, die [...] einander ergänzen“ (Wikipedia entnommen).


    Auf der einen Seite die dramatische, stellenweise wilde 5. Sinfonie und als Kontrast die ruhige, idyllische 6., die zu einem friedlichen und dankbaren Ausklang findet.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Vielleicht wollte Beethoven mit dieser Überschrift ja von vorneherein möglichen Kritiken den Wind aus den Segeln nehmen.


    Programmmusik war ja durchaus nicht immer als gleich wertvoll wie "absolute Musik" angesehen. Wer Orgel spielt, kennt vielleicht das fragwürdige Werk von Justin Heinrich Knecht mit dem Titel "Die durch ein Donnerwetter unterbrochene Hirtenwonne", welche die folgenden Satztitel aufweist:


    I. Die Hirtenwonne in angenehmen, mannigfach abwechselnden Gesängen
    II. Die allmähliche Herannahung des Donnerwetters, welches sich sowohl durch ein fernes Donnern, als durch die schwüle (mit dumpfen Harmonien ausgedrückte) Luft ankündigt, und die frohen Gesänge der Hirten stört
    III. Der heftige Ausbruch des Donnerwetters selbst, unter welchem einigemale die in Jammern gekehrten Lieder der Hirten vernommen werden
    IV. Der langsame Abzug desselben, und die darauf folgende Aufheiterung der Luft
    V. Die Fortsetzung und der Beschluss der vorher unterbrochenen wonnenvollen Hirtengesänge


    Ein Werk von seltener Einfalt, zumindest in seinen Rahmenteilen.


    Beethoven hat sich auch gerne über Tonmalerei lustig gemacht. Sein Schüler Ferdinand Ries teilt uns mit: "Beethoven dachte sich bei seinen Compositionen oft einen bestimmten Gegenstand, obschon er über musikalische Malereien häufig lachte und schalt, besonders über kleinliche dieser Art. Hierbei mussten die Schöpfung und die Jahreszeiten von Haydn manchmal herhalten."


    Vor diesem Hintergrund scheint die Entkräftung möglicher Kritik im Voraus durch Verweis auf "Ausdruck der Empfindungen" recht plausibel.


    :hello:

  • Zitat

    Bernward: bei von Dohnany 2010 NDR-Version ertönt etwa 10 min. vor Schluss der Sinfonie.....so nimm dein meine Hände (Silchers Anleihe). Ich gehe davon aus, dass das bei Solti auch so klingt.


    Lieber Bernward,


    durch deine Zeitangabe konnte ich die Stelle endlich orten. Es sind 7 Töne am Ende des Gewittersatzes in der Oboe, die noch einmal wiederholt werden und die exakt den ersten 7 Tönen des Liedes "So nimm denn meine Hände" von Silcher entsprechen. Aber da Silcher erst 1789 geboren wurde, war er bei Komposition von Beethovens Sechster erst 18 Jahre alt, und ich glaube nicht, dass er da das Lied schon komponiert hatte bzw. dass Beethoven da schon was von ihm bzw. seiner Melodie gehört hatte. Ich halte das Ganze für einen Zufall, bzw. es könnte höchstens umgekehrt gewesen sein. Da Silcher bis 1860 gelebt hat, hatte er sehr wohl Gelegenheit, die Beethovensche Melodie kennenzulernen.
    Eine ähnliche Begebenheit habe ich vor etlichen Jahren in Mozarts Klavierkonzert Nr. 25 KV 503 erlebt, wo das Hauptthema des ersten Satzes exakt mit den ersten 7 Tönen (komisch auch hier 7) der Marseillaise beginnt.


    Sachen gibts!


    Liebe Grüße


    Willi :S

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  • Hallo Norbert,


    ein schöner Gedanke, die 6. als Kontrast zur 5.


    Obwohl beide Kopfsätze ein große Ähnlichkeit aufweisen, nämlich das prägende Hauptthema, das sich durch beide Sätze zieht. Wiederum sind sie vom Charakter doch so unterschiedlich, das abfallende "Schlagthema" der Fünften und die fast schon tänzerisch, anmutige Klangstruktur der Sechsten.


    Toller Gedanke, danke schön Norbert, werde mir beide Symphonien mal unter diesem Aspekt zu Gemüte führen.


    Herzlichst Thomas

  • Irgendein Interpret verglich die Oboenphrase am Ende des Gewitters mit einem "Regenbogen".
    (ich glaube nicht, dass Silcher seine Melodie von Beethovens Pastorale hat, das ist ja ein sehr einfaches Tonleitermotiv.)

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  • Die eingangs formulierte Frage, schon von Beethoven selbst in den Fokus möglicher Deutungsversuche gerückt, ist sicher von entscheidender Bedeutung bei diesem Werk. Ungeachtet einer verbindlichen Antwort determiniert aber Beides, Empfindung wie (Ton-)Malerei einen (sicherlich sehr wohl) beabsichtigten musikalischen Ausdruck, der über den angestammten 'Wortschatz' der Klassik hinausweist - hierin ist die Pastorale sicher nicht die einzige Ausnahme, man erinnerer sich an die Einleitung von Haydns Schöpfung, aber doch die Ausnahme par excellance. Beethovens 6. Symphonie ist definitiv ein Werk, das der nachfolgenden Romantik entscheidende Impulse gab, ja sie schon in überraschend hohem Maße in sich trägt, noch nicht unbedingt in der Struktur, wohl aber im Ausdruck, und eben auch in einer bisher weitgehend ungekannten Gewichtung dieses Ausdrucks.
    Insofern ist es sicher gerechtfertigt, bei dieser Symphonie auch in eher losem Zusammenhang zur musikalischen Struktur nach Antworten zu suchen.


    an eine Karikatur des ländlichen Treibens mag ich nicht so recht glauben [...]


    Eine deartige Deutung des GESAMTEN ist meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt. Die Karikatur steckt sicher auch in der Musik, Wolfram hat es bereits aufgezeigt, wie Beethoven die Dorfmusikanten darstellt. Doch auch hierin ist die Musik letztlich eindeutig und rein empfindend, ohne Doppelbödigkeit. Es ist schlichtweg ein Amusement über die rührige, aber etwas hemdsärmelige Musik der Landbevölkerung. Im Kopfsatz, dem langsamen Satz und dem Gewitter ist dann aber keine Spur von Ironie oder Karikatur zu finden, hier finden ungebrochene Empfindungen musikalische Form. Auch in den 'dankbaren Gefühlen' im Finale wird die Landbevölkerung nicht mehr überzeichnet dargestellt, schon die Überleitung zu diesem Satz - man spürt förmlich die ersten Sonnenstrahlen durch die abziehenden Gewitterwolken brechen, die Wassertropfen vom nassen Laub abperlen - ist der Komponist mit seinen Gefühlen ganz nah an der Musik, es ist ein Bekenntnis zu eigenen Gefühlen und nicht aus der Distanz erzählt, welche für die Karikatur obligatorisch ist.



    Nichtsdestotrotz ist die Beschreibung der Natur natürlich stark idealisiert und erscheint recht naiv.


    Das mag auf den ersten Blick so stimmen. Doch ist diese Naivität nicht der Darstellung Beethovens geschuldet, sondern drängt sich lediglich dem Hörer unserer Zeit auf, geprägt durch zweihundert Jahre kunstgeschichtliche Entwicklungen.
    Es sind die Ausdrucksmittel etwa eines Gustav Mahler, dessen Naturschilderungen stets das unterschwellige Düstere, das Zweideutige, einen unheilvolle Ahnung in sich tragen und die uns heute Beethovens aufrichtige und ungebrochene Empfindungen angesichts eines hörbar beglückenden Naturerlebnisses - selbst die musikalische Bedrohung des Gewitters gleitet nie in Hoffnungslosigkeit ab, das Katastrophische, wie es einem im Kopf- und Finalsatz der Neunten begegnet, ist hier nicht spürbar, das Lärmen des Unwetters verbeitet zwar Furcht, aber keinen Schrecken - plötzlich naiv erscheinen lassen. Die Moderne, nicht zuletzt geprägt von den Ereignissen der beiden Kriege, tat dann ihr Übriges, um einen gewissen Argwohn gegenüber aller Ungetrübtheit in die Rezipenten einzupflanzen.


    Doch man muss sich eben vergegenwärtigen, dass diese scheinbare Naivität nicht einer fehlenden Tiefe der musikalisch dargebrachten Emotion zu suchen ist, sondern nur in ihrer Eindeutigkeit. Dies kennzeichnet auch die Musik. An keiner Stelle, von den Bauernszenen abgesehen, ist die Musik in irgendeiner Weise oberflächlich-banal, der zweite Satz etwa ist ungetrübtes Wohlbefinden angesichts idyllischer Szenerie, aber in keiner Weise platte Gefühlsduselei. Nur ist es eben die ungetrübte Stimmung, die unserem heutigem Empfinden (leider) meist unmittelbar Naivität suggeriert.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Beides, Empfindung wie (Ton-)Malerei einen (sicherlich sehr wohl) beabsichtigten musikalischen Ausdruck, der über den angestammten 'Wortschatz' der Klassik hinausweist - hierin ist die Pastorale sicher nicht die einzige Ausnahme, man erinnerer sich an die Einleitung von Haydns Schöpfung, aber doch die Ausnahme par excellance. Beethovens 6. Symphonie ist definitiv ein Werk, das der nachfolgenden Romantik entscheidende Impulse gab, ja sie schon in überraschend hohem Maße in sich trägt, noch nicht unbedingt in der Struktur, wohl aber im Ausdruck, und eben auch in einer bisher weitgehend ungekannten Gewichtung dieses Ausdrucks.


    Ich empfehle den oben von mir verlinkten Aufsatz, sofern man englisch versteht. Es gab in der Klassik durchaus eine Tradition programmatischer Musik. Nur ist davon nicht mehr sehr viel bekannt, ein Beispiel sind aber auch Haydns "Tageszeiten" 6-8.
    Insofern ist schon plausibel, dass sich Beethoven mit seinem Kommentar von simplizistischer Malerei abgrenzen will.


    Was meinst Du mit "Ausdruck"? Emotional ist in meinen Ohren die 5. Sinf. ein wesentlich ausdrucksstärkeres Stück. Es ist aber natürlich richtig, dass die Pastorale für viele Komponisten der Romantik ein wichtiger Einfluss gewesen ist. Freilich sahen viele der Romantikergeneration auch in anderen Werken Beethovens versteckte Programme. Irgendjemand, evtl. Bekker oder Riezler in ihren Beethovenbüchern sah dagegen gerade Andersartigkeit der Pastorale als Beleg dafür, dass den anderen Sinfonien keine programmatischen Züge eignen. (Es könnte sich auch auf die Les Adieux Sonate bezogen haben.)



    Zitat


    Das mag auf den ersten Blick so stimmen. Doch ist diese Naivität nicht der Darstellung Beethovens geschuldet, sondern drängt sich lediglich dem Hörer unserer Zeit auf, geprägt durch zweihundert Jahre kunstgeschichtliche Entwicklungen.


    Stark idealisiert ist etwas ganz anderes als naiv, evtl. sogar das Gegenteil! Einzig das Gewitter beansprucht einen gewissen Realismus (hier müsste man evtl. einen Vergleich zu der großen Zahl von Sturm/Gewitter-Darstellungen in der Musik, oft auch in der Oper anstellen). Die Ecksätze sind m.E. dagegen kein bißchen naiv, weil gar nichts realistisch dargestellt wird, sondern eben die Natur als Ideal und das ästhetische Naturerlebnis als einen wichtigen Aspekt im Leben der Menschen, im Finale auch mit der Verbindung zur Religiosität


    Dagegen Mahlers Herdenglocken: Das ist naiv (vielleicht auch pseudonaiv)!

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  • Stark idealisiert ist etwas ganz anderes als naiv, evtl. sogar das Gegenteil! Einzig das Gewitter beansprucht einen gewissen Realismus (hier müsste man evtl. einen Vergleich zu der großen Zahl von Sturm/Gewitter-Darstellungen in der Musik, oft auch in der Oper anstellen). Die Ecksätze sind m.E. dagegen kein bißchen naiv, weil gar nichts realistisch dargestellt wird, sondern eben die Natur als Ideal und das ästhetische Naturerlebnis als einen wichtigen Aspekt im Leben der Menschen, im Finale auch mit der Verbindung zur Religiosität


    Dagegen Mahlers Herdenglocken: Das ist naiv (vielleicht auch pseudonaiv)!


    Hallo JR,


    Deine Aussage im ersten Satz beantworte ich sowohl mit "ja", als auch mit "nein", je nachdem, welcher Naivitätsbegriff zu Grunde gelegt wird.


    Aus heutiger, eher negativ besetzter Sicht, hat jede Form der Idealisierung etwas naives im Sinne von "einfältiges" oder "blauäugiges". Aus (kunst-)historischer Sicht des Begriffs "Naivität" stimme ich Dir in soweit zu, als daß "Idealisierung" nicht gleichzusetzen ist. Naive Kunst z.B. hat grundsätzlich nichts abwertendes, törichtes.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Liebe Taminos,


    ich will hier nur auf einen Aspekt eingehen, der mich beim Lesen eurer Beiträge beschäftigt hat: Wir kennen ja die Natur als Sphäre der "anderen Seite" der Subjektivität, da ist sie heimelig und zugleich unheimlich, wild und vertraut, und eine große ungeheure Einsamkeit (und auch ihre Idyllik ist die des Verwunschenen). Also die romantische Natur.


    Mir scheint dennoch, daß in der Pastorale Natur als Folie niemals diese Züge aufweist - es ist eine eher noch im "englischen" Sinn anmutige Parklandschaft, eine gesellige, keine isolierende Begegnung. Schon der Untertitel des ersten Satzen unterläuft elegant jede exklusiv subjektive Zuschreibung.


    Damit verbinden möchte ich eine Spekulation - indem nämlich der Titel - "Pastorale" - auch auf eine religiöse Deutbarkeit hinzielt. Die geschilderte Natur in ihrer Janusgesichtigkeit, hier idyllsich-heiter (locus amoenus im 2. Satz), dort elementar und zerstörerisch, bedarf eines Vermittelnden "von oben". - Schon das "Lustige Zusammensein der Landleute" klingt ja kaum anders als die Genreszenen im Figaro und im Don Giovanni. - Welchen Stellenwert gibt man in diesem Zusammenhang dem "Gewitter und Sturm"-Satz? - Er sprengt, m.E., das Genre und mag, im Gewand eines Natursinnbilds, unliebsame Assoziationen beim Hörer geweckt haben, nämlich politische ("Sturm" ist ja seit dem "Sturm auf die Bastille" eine vielverwendete Metapher).


    Die Pastorale blickt m.E weniger in Richtung einer romantisch erschlossenen Natursphäre als Wunsch- und Fluchtperspektive der Subjektivität, sondern eher auf eine für Beethoven typische Weise auf ein scheidendes und ein kommendes Jahrhundert; auf eine fröhliche, festlich gestimmte Natur, in der sich bereits das reinigende Gewitter, die Metamorphose ankündigt. Nicht nur die Sechzentel-Rollfigur im "Dankgesang" erinnert im Tonfall an das Andante con moto der V. Der bloße Hirtenfrömmigkeit übersteigende Schlußsatz der Pastorale baut auf dem Gewitter und damit auf einer heroischen Szenerie auf, die wiederum die 3. und die 5. Sinfonie evoziert. Hier wird mehr versöhnt als ein ins Wasser gefallener Bauernreigen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Mir scheint dennoch, daß in der Pastorale Natur als Folie niemals diese Züge aufweist - es ist eine eher noch im "englischen" Sinn anmutige Parklandschaft, eine gesellige, keine isolierende Begegnung. Schon der Untertitel des ersten Satzen unterläuft elegant jede exklusiv subjektive Zuschreibung.


    Ich denke, es gibt einen deutlichen Unterschied zur Naturromantik des "Freischütz" und späterer Musik. Aber doch auch einen ähnlich deutlichen zum stärker artifiziellen Pastoralstil, der Barock und auch noch einiges der früheren Klassik beherrschte. Ich glaube, Tovey hebt irgendwo als Unterschied zu der viel späteren Pastoral Symphony von Vaughan Williams hervor, dass Beethovens eindeutig das Werk eines Stadtbewohners sei. Das Land als Sommerfrische, nicht als dauernder Lebensraum.



    Zitat

    Schon das "Lustige Zusammensein der Landleute" klingt ja kaum anders als die Genreszenen im Figaro und im Don Giovanni. - Welchen Stellenwert gibt man in diesem Zusammenhang dem "Gewitter und Sturm"-Satz? - Er sprengt, m.E., das Genre und mag, im Gewand eines Natursinnbilds, unliebsame Assoziationen beim Hörer geweckt haben, nämlich politische ("Sturm" ist ja seit dem "Sturm auf die Bastille" eine vielverwendete Metapher).


    Wie schon aus dem Hinweis von Wolfram, besonders aber aus den in dem von mir verlinkten Aufsatz genannten seinerzeitigen Programmusiken, ist der Sturm im Gegenteil eher typisch für dieses Genre


    "The Pastoral belongs wholly to neither genre: the program and storm distinguish it from symphonies, but the remaining movements distance it from programmatic symphonies as well. While these latter works abound in passages like the storm and in continuous movements like those concluding the Pastoral, they do not, in general, simultaneously retain so many hallmarks of symphonic tradition. The Pastoral mixes traditions freely, and the resulting contrasts and juxtapositions allow it to limn the relationships between
    time, morality, and-in the end-humanity in the pastoral idyll." (278 f. in dem verlinkten Text)


    In Tabelle 1 (S. 283) sind etwa 16 Sinfonien mit "Sturm"-Sätzen aus den 1740er bis 1790er Jahren aufgeführt.



    Zitat

    Die Pastorale blickt m.E weniger in Richtung einer romantisch erschlossenen Natursphäre als Wunsch- und Fluchtperspektive der Subjektivität, sondern eher auf eine für Beethoven typische Weise auf ein scheidendes und ein kommendes Jahrhundert; auf eine fröhliche, festlich gestimmte Natur, in der sich bereits das reinigende Gewitter, die Metamorphose ankündigt. Nicht nur die Sechzentel-Rollfigur im "Dankgesang" erinnert im Tonfall an das Andante con moto der V. Der bloße Hirtenfrömmigkeit übersteigende Schlußsatz der Pastorale baut auf dem Gewitter und damit auf einer heroischen Szenerie auf, die wiederum die 3. und die 5. Sinfonie evoziert. Hier wird mehr versöhnt als ein ins Wasser gefallener Bauernreigen.


    Durchaus ähnliche Figurationen (auch 6/8 und ähnliches Tempo) in Verbindung mit choralartigen Passagen der Posaunen finden sich nicht zuletzt im "Friedens"-Abschnitt des Dona nobis pacem der Missa solemnis...

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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Ich glaube, Tovey hebt irgendwo als Unterschied zu der viel späteren Pastoral Symphony von Vaughan Williams hervor, dass Beethovens eindeutig das Werk eines Stadtbewohners sei. Das Land als Sommerfrische, nicht als dauernder Lebensraum.


    Das ist ein ganz wichtiger Aspekt.


    Beethoven hat sicher nicht hinter die Kulissen geschaut.


    Lässt und das Harmonische, eben nicht Zerrissene etwas über den tiefen Eindruck ahnen, die dieser Aufenthalt bei Beethoven hinterlassen hat?


    Ist es nicht wichtiger zu erkennen, das uns Beethoven gerade hier uns sehr viel mehr von seiner Person offenbart als in manchen "Überlieferungen", die angeblich historische Belege seines "Wesens" darstellen sollen.


    Viele Grüße Thomas

  • Deine Aussage im ersten Satz beantworte ich sowohl mit "ja", als auch mit "nein", je nachdem, welcher Naivitätsbegriff zu Grunde gelegt wird.


    Aus heutiger, eher negativ besetzter Sicht, hat jede Form der Idealisierung etwas naives im Sinne von "einfältiges" oder "blauäugiges". Aus (kunst-)historischer Sicht des Begriffs "Naivität" stimme ich Dir in soweit zu, als daß "Idealisierung" nicht gleichzusetzen ist. Naive Kunst z.B. hat grundsätzlich nichts abwertendes, törichtes.


    Was man heute naive Malerei nennt (also Grandma Moses etc.) hat aber durchaus etwas einfältiges, bewusst unkünstlerisches. Ist die Pastorale einfältig in diesem Sinne? Ich meine nicht.
    Freilich ist "idealisierend" ebenso schillernd. Ich muss zugeben, dass ich bei diesem Begriff weiter oben ebenfalls mehrere Aspekte vermengt habe. Einerseits die moralische Aufladung der Natur oder eines bestimmten Naturbildes als "bessere Welt, aber auch einen nüchternen Sinn, nämlich den der Abstrahierung von realistischer Darstellung. Ob erstere aus heutiger Sicht immer etwas naives hat, bin ich nicht sicher. Wir sollten jedenfalls nicht unterstellen, dass Beethoven eine simple heile Welt malen wollte und die Mistkarren und die prekären Lebensbedingungen (die damals vielleicht aber für die Landbevölkerung weniger schlimm waren als für die entstehenden Unterschichten der Städte?) aus Naivität nicht wahrgenommen hat.


    Bei näherem Überlegen enthält die Pastorale sowohl diese beiden Momente von "Idealisierung" als auch "naive" im Sinne einer vergleichsweise realistischen Darstellung. Letzteres aber eben im ersten Satz und Finale gar nicht, deutlich im Gewitter, andeutungsweise in der Szene am Bach und dem Tanz der Landleute.


    Es wäre sicher interessant, musikalische Gewitterdarstellungen bezüglich ihres "Realismus" zu vergleichen.
    Etwa bei Vivaldis Jahreszeiten, Haydn (Sinfonie Nr.8, Finale und "Jahreszeiten"(Sommer)), Beethoven und dannn evtl. Rossini, Berlioz, was es noch so in der Oper gibt, evtl. Beginn des 1. Walküre-Aktes bis hin zur "Alpensinfonie". Frage wäre etwa, ob zunehmend realistischer gestaltet wird oder wovon der Grad der möglichst realistischen Tonmalerei abhängen könnte.


    Ich habe gestern abend mal besagtes Finale der frühen Haydn-Sinfonie angehört. Da ist Beethovens Sturm in jeder Hinsicht "realistischer" (und damit vielleicht "naiv") Haydn schreibt ein durchaus als Sonatensatz erkennbares Stück, obendrein mit konzertanten Passagen für die Flöte, Beethoven ein formal sehr freies "Tongemälde". Wie angedeutet würde ich aber selbst die Szene am Bach auf der "abstrakten", kaum malenden Seite einordnen.
    Es gibt übrigens noch einen Sturm bei Beethoven, im zweiten Stück, direkt nach der Ouverture, des Prometheus-Balletts (war mir völlig entgangen, bis ich in dem verlinkten Aufsatz darauf gestoßen bin). Der ist, in bescheidenerem Rahmen nicht so unähnlich dem aus der Pastorale, jedenfalls auch ziemlich frei gestaltet.

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    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    vielen Dank für den Hinweis auf den wirklich sehr profunden und anregenden Essay von Richard Will.


    Das mit den Zeitstrukturen hat mich nicht ganz überzeugt - die Verklammerung der drei letzten Sätze ist zwar unverkennbar; aber der Titel des ersten Satzes deutet nicht nur ganz allgemein auf ein "beginning", sondern speziell auf eine subjektive Zeiterfahrung ("Erwachen" von Gefühlen), gebunden an einen Ortswechsel ("Ankunft"). - Ebenso müßte man die "Szene am Bach" nicht platt als zeitloses Idyll betrachten. "Andante molto mosso", also ein zügiges Tempo, die Schreitfigur zu Beginn in den 2. Vl. und Br. sowie den beiden Solo-Celli haben ebenso etwas mit Zeit zu tun wie die Symbolik des Wasserlaufs schlechthin. Die auch für Beethoven erstaunliche Fülle an duftig rieselnden Begleitfiguren, die ja die entsprechenden Passagen aus Tristan (des Quelles sanft rieselnde Welle) und Rheingold (Vorspiel) vorwegnehmen, weisen tatsächlich in die Romantik voraus. Denn man kann ja das sangliche Liedthema des Satzes mit seinen für Beethoven typischen Zäsurmöglichkeiten an jeder beliebigen Stelle, den harmonischen Stagnationen oder überraschenden Wendungen als eine Art unendlicher Melodie hören, deren vermeintliche Zuständlichkeit sich einer sich subtil steigernden Intensität und Innigkeit verdankt. Die Vogelstimmen am Ende wären insofern dem Vöglein aus Siegfrieds Waldweben nicht unähnlich - der Natur abgelauscht, scheint die reine Landschaft mit sich zu reden. Und dies beglückende Vernehmen der schwirrenden, säuselnden, rauschenden und singenden Stimmen setzt einen Hörer voraus, der einbezogen wird in dies Gewebe.


    Ist der erste und vor allem der zweite Satz poetisch verinnerlicht, also schon dadurch von Genremalerei entfernt, so leuchtet mir die hier von Wolfram und anderen vertretene Anschaulichkeit des Genres im Scherzo noch weniger ein. Die verschobene Zählzeit des Oboeneinsatzes (im folgenden auch Kl. und Hrn.) ist formal zunächst ein mal ein Irritationsmoment, eine Störung (und die Deutung als ein "falsch" spielender Dorfmusikant mir viel zu illustratorisch). Wichtiger scheint mir, daß ein prominentes Motiv des "Sturm"-Satzes, ab T 35, die Kaskade [c g] as e f c des c c b as, direkt aus dem Themenbeginn des Scherzos (III, T1) entwickelt ist: [code=c] f c d c a b a f g usw.


    Für alle, die die religiöse Deutung im Sinne von Smith immanent an das Pastoral-Genre zurückbinden, gebe ich zu bedenken, daß die Tatsache damit kaum erklärt wäre, wie denn bereits das fröhliche Scherzo den Keim zum Gewitter in sich tragen könne. Denn dann müßte man das "Lustige Treiben" als verkappt sündenbehaftet ansehen (eine reine Spekulation). Viel näher liegt es m.E., die entfesselte Gewalt des Gewittersturms mit den zentrifugalen, accellerierenden Tendenzen des Scherzos zu verbinden. Denn im Allegroteil, III T 165 ff, erklingt nicht allein zum ersten Mal das widerborstig aufschnellende Vier-Sechzehntel-Motiv, das in IV zu Donnerrollen avanciert. Die in sich kreisende Achtel-und Sechzehntelfigur mit ihren Quart- und Quintsprüngen greift zum einen auf das Hauptthema des ersten Satzes zurück und bereitet, zusammen mit den zu Hörnerklang emporjagenden Arpeggien jew. am Ende des ersten Allegro- bzw. des Presto-Abschnitts T 75ff bzw. T 257ff , den Suggestivklang der Blitze vor, eines aufwärts gebrochenen Dreiklangsmotivs mit der für die gesamte Symphonie charakteristischen schwachen Zählzeit der beiden Sechzehntel (sie findet sich, augmentiert, z.B auch in der synkopierten Oboenmelodie im Scherzo).


    Vielleicht war es ja Beethovens Absicht, die Einheit der Natur zu schildern, in all ihren Erscheinungsformen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Auch mich hat das "Gewitter" immer wieder beeindruckt, und ich habe mich oft gefragt. was denn hier das Besondere (gemessen an anderen "Gewittermusiken2) sein möge. Ich glaube Beethoven ist hier an eine Grenze gegangen, wo die Dramatik und die "Realität" auf die Spitze getrieben ist - allerdings eben nur fast - denn an keiner Stelle wird die "Schönheit" der Musik wirklich zerstört, das Inferno ist in sich betrachtet noch immer ein musikalisches. Im Gegensatz dazu etwa Rossinis "Gewittermusik" aus dem Barbiere (er hat mehrere geschrieben), welche eher ein "domestiziertes" Naturereignis darstellt.
    Ich erinnere mich allerdings an EINE Interpretation, wo der Boden des "musikalischen" zugunsten des "realistischen" beinahe verlassen wurde. Ich glaube es war die Aufnahme mit Rattle. Vermutlich leisten es andere Aufnahmen auch, aber bei Rattle ist mir erstmals das Bedrohliche des "Gewitters" bewusst geworden, es war nicht nur mehr Musik, welche ein Gewitter darstellen soll, sogar das "Nachgrollen" schien hier noch gefährlich zu sein...
    Aber natürlich kann man das auch "verbindlicher" spielen.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Alfred: Im Gegensatz dazu etwas Rossinis Gewittermusik aus dem Barbiere (er hat mehrer geschrieben)

    In dem Zusammenhang möchte ich nur an seine großartige Gewitttermusik aus der Ouvertüre zu "Wilhelm Tell" erinnern, die, solange ich überhaupt mit klassischer Musik etwas zu tun habe, als eine der hervorragendsten Gewittermusiken überhaupt gilt.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • In dem Zusammenhang möchte ich nur an seine großartige Gewitttermusik aus der Ouvertüre zu "Wilhelm Tell" erinnern, die, solange ich überhaupt mit klassischer Musik etwas zu tun habe, als eine der hervorragendsten Gewittermusiken überhaupt gilt.


    Findest Du sie realistischer oder idealisierter als die in der Pastorale?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)