MAHLER 2011 - Die Symphonien - Sir John Barbirolli


  • 2010/11, die großen Mahler-Doppeljubiläumsjahre, neigen sich bereits ihrem Ende zu. Bei Tamino wurde viel diskutiert über große Mahler-Dirigenten. Gielen, Klemperer, Kubelik, Norrington, Solti, Tennstedt, Walter – sie alle erhielten eigene Threads, die sich jeweils nur mit ihren Aufnahmen beschäftigten. Einer der großen frühen Mahler-Interpreten fehlt aber: Sir John Barbirolli.


    Erst relativ spät wandte er sich Mahler überhaupt zu, und doch war sein Ruf zumindest früher fast unumstritten. Daß das heute anders ist, weiß ich. Bei Tamino gab es öfters kritische Stimmen, sein Mahler wäre zu wenig schroff, nicht mehr zeitgemäß. Natürlich war Barbirolli ein Kind seiner Zeit. Ein Revoluzzer war er nie. Trotz allem haben sich zumindest die Aufnahmen der 5., 6. und 9. Symphonie in den Katalogen bis heute gehalten und es zum Status von "Great Recordings of the Century" gebracht. Es existieren zudem Aufnahmen der 1., 2., 3., 4. und 7. Symphonie, meist in Form von Konzertmitschnitten, und bis auf die 7. allesamt in Stereo. Es fehlen also lediglich die 8. (die Barbirolli haßte), die 10. und – wenn man so will – "Das Lied von der Erde". Ich denke, dieser 90%ige Zyklus ist ausreichend für diesen Thread.


    Ob Barbirolli aktuell bei Tamino noch viele Fürsprecher hat, weiß ich nicht. Er hatte sie zumindest mal. Ein Ex-Mitglied setzte sich ganz massiv für ihn ein, was zu interessanten Disputen führte (es ging konkret um die 9. Symphonie). Ob sein Mahler antiquiert klingt oder nicht, das will ich hier nicht beantworten. Ich kann nur für mich sprechen: Er klingt interessant, hörenswert und hat eine unverkennbare eigene Handschrift.


    Wie schätzt ihr Barbirollis Mahler ein? Ist er auch 2011 noch eine "erste Wahl"? Was ist noch heute referenzträchtig, was hat sich überlebt?


    Liebe Grüße
    Joseph
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Eine der letzten Aufnahmen von Sir John Barbirolli ist – Ironie des Schicksals – ein Live-Mitschnitt der "Auferstehungs-Symphonie" von Mahler aus Stuttgart. Barbirolli hatte keine Berührungsängste mit vermeintlich zweitklassigen "Provinzorchestern", und sein Dirigiertalent beweist, daß man auch aus einem "nur" Rundfunk-Orchester Großartiges herausholen kann. Alle Beteiligten machen ihre Sache sehr gut. Das fängt bei den beiden Solistinnen, Helen Donath und Birgit Finnilä, an und hört bei der Leistung von Chor und Orchester auf. Ein Beckmesser wird hie und da etwas zu kritisieren haben, doch kam in den Kritiken interessanterweise diese Aufnahme besser weg als jene, die Barbirolli 1966 mit den Berliner Philharmonikern (hört, hört!) machte.


    Den 1. Satz, die "Todtenfeier", nimmt Barbirolli dem Anlaß geziemend breit und majestätisch. Es könnte in der Tat bereits eine Symphonie für sich allein sein. Insgesamt ist er mit gut 21 Minuten eine knappe Minute langsamer unterwegs als Klemperer 1965 live. Etwas Morbides hafftet der Darbietung Barbirollis an, freilich hin und wieder von hoffnungsvolleren Passagen überlagert. Letztlich ist am Ende des Kopfsatzes noch nichts entschieden.


    Den Ländler im 2. Satz nimmt Barbirolli durchaus freudig, lebensbejahend. Die Satzbezeichnung Sehr gemächlich. Nie eilen! nimmt er ernst und kommt auf etwas über 10 Minuten, wieder etwas langsamer als Klemperer.


    Im 3. Satz, dem oft so bezeichneten Scherzo, wählt Barbirolli eher einen fröhlichen Grundton, wenngleich die Stimmung an sich durchaus "süßsauer" (Mahler) ist und die gewaltigen Crescendi des Orchesters an das Vergängliche gemahnen. Für diesen Satz benötigt er gut 11 Minuten und ist somit sogar etwas flotter als "Old Klemp".


    Den nahtlos übergehenden 4. Satz, das "Urlicht", interpretiert Birgit Finnilä sehr gefühlvoll und mit schönem Timbre. Mit 4:45 ist der Satz bei Barbirolli wiederum etwas langsamer als bei Klemperer.


    Wild herausfahrend beginnt der letzte, der 5. Satz. Eine Wucht! Dieser Satz ist einer der wenigen einer Symphonie, wo mir fast immer unweigerlich mindestens eine Träne kommt. Wenn ein Komponist etwas derart ehrlich Anrührendes zustande bringt, dann kann man nicht anders. Und wenn es noch dazu ein Maestro wie Sir John Barbirolli dirigiert, dann umso mehr. Natürlich hat das Pathos, aber wenn ein todkranker Mann, der mit einem Bein schon im Grabe steht, wohlwissend, daß es vielleicht sein letzter Auftritt sein könnte (es sollte wirklich seine letzte Aufführung der 2. von Mahler werden), hier die Auferstehung gleichsam bereits musikalisch durchlebt, dann nötigt einem das einfach gehörigen Respekt ab. Das war nicht irgendeine Aufführung, das war der krönende Abschluß eines (Dirigenten-)Lebens. Die Blechbläser geben ihr Bestes und können m. M. n. zumindest in dieser Aufnahme mit Spitzenorchestern konkurrieren. Das Blech und die Pauken erproben ihre Grenzen, von der Energie eines noch immer ungemein vitalen Dirigenten angespornt. Insgesamt steigern sich alle Beteiligten im Finalsatz noch einmal und liefern eine formidable Vorstellung. Hin und wieder hört man Sir John sogar, er ist hörbar voll involviert. Wenn der Chor erstmals einsetzt, kann sich nur ein völlig gefühlskalter Mensch der Wirkung entziehen. In wunderbar gemessenem Tempo gibt Barbirolli dem Ganzen die nötige Zeit, die es braucht. Es folgt Klimax auf Klimax, bis sich alles im weltbewegenden Schlußchor entlädt. Die letzten Zeilen des Chors bringen es auf den Punkt:


    Aufersteh'n, ja aufersteh'n wirst du,
    mein Herz, in einem Nu!
    Was du geschlagen,
    zu Gott wird es dich tragen!


    Die instrumentale Finalcoda zeigt noch einmal, daß hier einer der größten Mahler-Dirigenten aller Zeiten am Pult steht. So habe ich das wahrlich noch nie gehört. Spektakulärer könnte man einen Abgang gar nicht inszenieren. Bravo, Sir John! Bravissimo!


    Tontechnisch haben wir es mit einem guten Stereo zu tun, das zwar keine Preise gewinnen würde, aber doch sehr natürlich alles abbildet und besser klingt als manche Studio-Aufnahme aus diesen Tagen. Das Publikum hält sich erfreulicherweise mit Hustern größtenteils vorbildlich zurück.



    I. 21:12
    II. 10:19
    III. 11:21
    IV. 4:45
    V. 33:12
    Gesamtspieldauer 80:49


    Helen Donath, Sopran
    Birgit Finnilä, Alt
    Südfunk-Chor
    Chor der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
    Sir John Barbirolli
    Konzerthaus Liederhalle, Stuttgart, 5. April 1970


    Künstlerische Qualität: 10/10
    Klangqualität: 7/10

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Joseph: Ob Barbirolli aktuel bei Tamino noch viele Fürsprecher hat, weiß ich nicht.

    Ich gehöre zumindest dazu, lieber Joseph. Ich kann mich noch gut entsinnen, dass ich im Thread über Mahlers Neunte in der fabelhaften Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern
    mit Swjatoslaw an meiner Seite mir so manches Kämpfchen mit anderen Taminos geliefert habe.
    Auch diese CD
    mit den Kindertotenliedern und den 5 Rückertliedern (besondere Referenz Nr. 10 "Ich bin der Welt abhanden gekommen") und den Liedern eines fahren den Gesellen ist heute für mich noch absolute Referenz. Die Lieder eines fahrenden Gesellen probte er noch zwei Tage vor seinem Tod mit Dame Janet Baker für eine Japantournee. Diese Tatsache macht diese CD zu einer ganz besonderen.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich finde es sehr verdienstvoll von Dir, lieber Joseph II., dass Du Sir John Barbirolli einen eigenen Mahler-Thread widmest. Die Qualität seiner Aufnahmen hat bis heute überdauert, und sie wird es weiterhin tun. Es wird Zeiten geben, in denen man das Schroffe und Abgründige in Mahler Musik betonen wird, und es wird sicher auch Zeiten geben, in denen man die harmonischen Züge der Musik stärker suchen und herausarbeiten wird.


    Die Aufnahmen von John Barbirolli haben die Menschen seinerzeit mit ihrer Menschlichkeit angesprochen, so ist es in Berichten von Aufführungen und Aufnahmen zu lesen. Gerade damit war Sir John Barbirolli einer der Dirigenten, die Mahler auch in deutschland etabliert haben. Seine Konzerte und Aufnahmen mit den Merliner Philharmonikern waren Neuland - auch für die ausführenden Musiker. Eine Persönlichkeit wie John Barbirolli war in der Lage, den Musikern und dann auch dem Publikum einen persönlichen Zugang zu dieser Musik zu verschaffen.


    Die "erste" Aufnahme, die ich von der 9. Symphonie Mahlers als CD erworben und immer wieder gehört habe, ist die Aufnahme von Sir John Barbirolli.



    Mahler: Symphonie Nr. 9
    Sir John Barbirolli/Berliner Philharmoniker


    Das Hören dieser Musik vermittelt eine ganz besonders konzentrierte und gleichzeitig natürliche Atmosphäre, die unmittelbar anzusprechen vermag. Ich würde diese Aufnahme allen empfehlen, die einen Zugang zu dieser Symphonie suchen.


    Ich die hier schon erwähnte Einspielung der 5. Symphonie zählt zu den bleibenden relevanten Mahler-Einspielungen. Ich glaube, es war Norbert, der hier im Forum besonders auf die herausragende Einspielung von Mahlers 3. Symphonie hinwies:



    Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3
    Kerstin Meyer, Halle Orchestra & Choir, Barbirolli
    Label: BBC , ADD/LA, 69


    Hier ein Auszug aus einer Rezension:
    Barbirolli gelingt es, diesem sechsteiligen Schöpfungsmythos Mahlers durch großen Ernst, unbeirrbare Geradlinigkeit und Deutlichkeit eine würdevolle Strenge und zwingende Logik zu verleihen und uns so die Tiefendimensionen eines solchen Schöpfungsaktes gewahr werden zu lassen.


    Wohl nicht umsonst ist diese Aufnahme als BBC Legende wieder veröffentlicht worden und gilt als eine der herausragenden Mahler-Einspielungen überhaupt.


    Dies wird sicherlich kein Thread mit all zu vielen Beiträgen. Aber wenn er andere Leser/innen an diese großartigen Aufnahmen heranführt und den Respekt vor diesem bedeutsamen und verdienstvollen Mahler-Dirigenten angemessen zum Ausdruck bringt, dann ist für alle schon sehr viel gewonnen.


    Freundliche Grüße von der Nordseeküste, Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Lieber Andrew,


    schön, mal wieder etwas von Dir zu lesen. :)


    Der erste in diesem Forum, der auf die in der Tat wunderbare Aufnahme der 3. Sinfonie hinwies, war ich, glaube ich, nicht, aber der Hinweis auf diese Einspielung erfolgt vollkommen zurecht.


    Deryck Cooke nannte diese Interpretation "eine der besten Mahler-Aufführungen, die ich jemals gehört habe" und setzte sich (vergeblich) dafür ein, die Aufnahme auf Schallplatte zu veröffentlichen.


    Okay, seit 1969 ist einige Zeit vergangen, es hat seitdem viele hervorragende Mahler-Aufführungen gegeben, aber ihren besonderen Stellenwert hat Mahlers 3. trotzdem behalten. Das mit Mahlers Tonsprache bestens vertraute Hallé Orchestra und Sir John Barbirolli gehen für mich eine deutlich hörbare musikalische Symbiose ein; sie behandeln dieses (bei Barbirolli) 93-minütige Riesenwerk mit spürbarem Engagement, mit Detailfreude und Wärme.
    Mahler war 1969 noch keine Routine - und das ist hier, auch bei der hervorragenden Solistin Kerstin Meyer und den beiden sehr guten Chören, deutlich zu spüren.


    Würde man nicht wissen, daß die Aufnahme am 23. Mai 1969 live mitgeschnitten wurde, käme man ins Grübeln, ob es "schon" eine Digitalaufnahme sein könnte oder "noch" eone analoge ist. Das Klangbild ist hervorragend.
    Alle Orchestergruppen sind präsent und verzerrungsfrei abgebildet, die orchestrale Balance ist stimmig, Solistin und Chöre gut ins Klanggeschehen eingebettet; der räumliche Eindruck ist weder zu "trocken" noch zu hallig, sondern ausgesprochen natürlich.
    Auch am Klangbild ist anzumerlen, daß Mahler 1969 noch keine Routine war...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Es gibt übrigens noch eine Aufnahme der 3. Symphonie unter Barbirolli, und zwar mit den Berliner Philharmonikern, ebenfalls von 1969:



    In den Kritiken kommt sie fast durchgehend schlechter weg als die andere Aufnahme mit dem Hallé Orchestra. Auch soll die Tonqualität nicht so gut sein.


    Kennt eigentlich jemand Barbirollis Aufnahme der 1. Symphonie von 1957 (Stereo)? Sie soll eine der gelungensten Interpretationen des "Titan" sein:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Joseph,


    es scheint in den Archiven der EMI wohl sogar noch eine Studioaufnahme der 3. Sinfonie zu existieren, denn der Grund, weswegen die 3. mit dem Hallé Orchestra nicht veröffentlicht wurde, ist der, daß die EMI ihrerseits eine Aufnahme herausbringen wollte (was allerdings nicht geschehen ist).


    Daß die BBC-Aufnahme besser abgeschnitten hat, wundert mich indes nicht.
    Zum Zeitpunkt 1969 ist das Hallé Orchestra schlichtweg das bessere Mahler-Orchester gewesen, da die Berliner Philharmoniker seinerzeit keine große Mahler-Erfahrung aufweisen konnten (und die Musik wohl erst schätzen lernen mußten).
    Kein Qualitätskriterium, aber trotzdem erstaunlich ist die Tatsache, daß Barbirolli mit "seinem Orchester" fast durchweg schneller ist als mit den Berlinern (im ersten Satz über drei, im letzten fast zwei Minuten).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler