Sibelius: Symphonie Nr. 6 (d-Moll) op. 104 – Die Dorische

  • Die 1923 vollendete 6. Symphonie op. 104 von Sibelius wird häufig als in der Tonart "d-Moll" komponiert bezeichnet, obschon ihr die Partitur keine eigene Tonart zuschreibt. Vielmehr ist ein großer Teil des Werkes tatsächlich im Dorischen Modus komponiert. Wieder leitete Sibelius persönlich die Uraufführung am 19. Februar 1923 in Helsinki. Das Werk ist Wilhelm Stenhammar gewidmet, auch wenn die Widmungsseite heute verloren ist. Die erste Schallplattenaufnahme erfolgte 1934 durch Georg Schnéevoigt mit dem Finnischen National-Orchester.


    Die Sechste wurde vom Musikwissenschaftler Gerald Abraham als "Cinderella unter den sieben Symphonien" bezeichnet. Sibelius selbst schrieb 1943, daß ihn die Sechste immer an den Duft des ersten Schnees erinnere. Es handelt sich um die letzte klassisch viersätzige Symphonie des Komponisten.


    Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, Baßklarinette, 2 Fagotte, 4 Waldhörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Harfe, Pauken und Streicher


    Die Sätze:


    I. Allegro molto moderato
    II. Allegretto moderato
    III. Poco vivace
    IV. Allegro molto


    Aufnahmen:


    Es liegen zahlreiche bedeutende Aufnahmen der Sechsten vor, häufig im Zuge von Gesamtzyklen entstanden. Hier sollen einige aufgeführt werden.



    Hallé Orchestra
    Sir John Barbirolli
    1970







    Berliner Philharmoniker
    Herbert von Karajan
    1967







    Philharmonisches Orchester Helsinki
    Leif Segerstam
    2002







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    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Um besonders die Ashkenazy-Aufnahme herauszustellen, antworte ich als Erster auf diesen Thread zur Sinfonie Nr.6.


    Das Werk fastziniert mich ganz besonders in der Aufnahme mit Ashkenazy, der seine GA von 1980 bis 1986 mit dem gleichen Orchester gemacht hat, wie bereits Karajan im Jahre 1960 mit seinen besten Sibelius-Aufnahmen der 2 und 5 mit dem Philharmonia Orchestra London.
    :!: Nicht zuletzt hat die audiophil durchsichtige Klangqualität ihren Anteil daran: Es wird kein Detail verschluckt; die Harfe genau so präsent, wie die Bläser; brillante Streicherguppen und die Pauken sind bei keiner anderen mir bekannten Aufnahme so fantastisch direkt eingefangen wie hier.
    :thumbup: Ashkenazy´s Interpretation liegt genau auf meiner Wellenlänge: Fabelhaft, mit welcher Stimmung er die Sätze aufbaut; keine spannender Moment wird verpasst; megaspannend ist man während des Hörens gefesselt - jeglicher Anflug von Langeweile wird absolut ausgeschlossen.

    :yes: Ashkenazy inzeniert nicht das Bild vom schwerblütigen nordischen Hinterwäldler, sondern sieht ihn als einen großen Sinfoniker. Er ist für meinen Geschmack einer der ganz großen Sibelius-Dirigenten.


    Die Sinf.Dichtungen in der neuen GA-Ausgabe habe ich in der Einzelausgabe (ebenfalls ein MUSS !)
    Decca, 1980-1986, DDD





    :pfeif: Wenn ich mir hier eine interpretatorisch noch so gute Aufnahme in historischem Mono antun sollte, dann würde ich für mich nach diesen ergreifenden Hörerlebnisssen mit Ashkenazy hier keinen Hörspass mehr verzeichnen. :stumm: ... :jubel: Aber das muss ich ja auch nicht !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Die Sechste von Sibelius ist m. E. seine am schwersten zugängliche Symphonie. Ich habe sie im Vergleich mit den anderen (bis auf die ebenfalls recht spezielle Siebte) seltener gehört. Schon die Kuriosität der Dorischen Tonart ist auffällig.


    Eine Aufnahme, die noch nicht genannt wurde, ist jene von Roschdestwensky mit dem Großen RSO der UdSSR (alias Moskauer RSO) (1973).



    Sie ist m. M. n. eine der stärksten Interpretationen dieses Werkes. Ich muß mir aber in nächster Zeit noch Barbirolli anhören.

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    – Luís de Camões

  • Es ist eigendlich ein Jammer, dass Sibelius Sinfonie Nr.6 hier mit 3 Beiträgen dahinsiecht ...


    In den Jahren haben sich eine Menge Einzel- und noch mehr Gesamtaufnahmen einfunden, sodass man jetzt noch eher für sich entscheiden und erkennen kann, welche Edelsteine man bereits im CD-Schrank hat.


    Bei der Sinfonie Nr.6 war ich dieser Tage von einer lange nicht gehörten Aufnahme, die man ohnehin als "voll brauchbar" abgespeichert hat, begeistert - es ist die Karajan - Aufnahme (EMI, 1986).
    Karajan ist nie langatmig und eher zügig unterwegs. Das ist klares Quellwasser und wunderbar ausgestaltet. Auch im Finale spürt er den Rhythmen nach, bietet einen herrlich emotionalen Höhepunkt. Gerade in diesem Punkt finde ich die von Josef in Beitrag 1 abgebildete Segerstam-Aufnahme (ONDINE) nicht besonders gelungen, der den Satz mit 10:39 im nordischen Nebel verschleiern lässt ... beispielhaft gut auch Ashkenazy (Decca).
    Die Spielzeiten bei Karajan liegen ganz auf meiner Linie: 8:29 - 6:01 - 3.16 - 9:19.



    EMI, 1981 (1.), 1986 (6.), DDD




    Auch die Sinfonie Nr.1 auf der EMI-CD kann sich, was spannenden Aufbau, ausgefeilte Detailarbeit an geht zu den Besten voll einreihen (bei der Sinfonie Nr.1 zwar nicht ganz so perfekt in Klang gesetzt, wie Ashkenazy (Decca), aber insgesamt ebenfalls sehr spannend gelungen). Fabelhafte Pauken bei beiden Sinfonien inclusive !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Danke für die Ausführungen zur letzten Karajan-Aufnahme der 6. Symphonie!


    1986 muss ein Fehler sein (oder das Jahr der Erstveröffentlichung auf CD). Tatsächlich entstand die Aufnahme zwischen 16. und 20. November 1980 in Berlin. Die 1. Symphonie übrigens am 2. Januar 1981. Genauere Informationen zu den Aufnahmedaten hier.


    Ich finde es übrigens sonderbar, dass Karajan offenbar lediglich die 5. Symphonie von Sibelius regelmäßig im Konzert aufführte. Die 4. und 7. scheinbar immerhin ein paar Mal; die 2. auch nur zweimal live in Wien Anfang der 60er Jahre, danach nie wieder.

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    – Luís de Camões

  • Ich finde es übrigens sonderbar, dass Karajan offenbar lediglich die 5. Symphonie von Sibelius regelmäßig im Konzert aufführte. Die 4. und 7. scheinbar immerhin ein paar Mal; die 2. auch nur zweimal live in Wien Anfang der 60er Jahre, danach nie wieder.


    Ja, und die Sinfonie Nr.1 existiert mit Karajan nur in dieser EMI-Aufnahme von 1981. :thumbup: Aber mit seiner starken Interpretation und Aufnahme bin ich absolut zufrieden.
    Dieser Eindruck hat sich bei mir erst jetzt wirklich eingestellt, nachdem ich eine Unmenge an Vergleichsaufnahmen gehört habe. 2013 hatte ich noch in einem Sibelius - Thread kritischer über diese CD bereichtet. Wenn ich selbst die Aufnahmen der Ersten von Segerstam, Maazel, sogar Blomstedt, Saraste, C.Davis ... vergleiche, sind selbst die rechte Langeweiler gegenüber Karajan.
    :angel: Da habe ich erst gemerkt, was man wiedereinmal an Karajan hat ... ein fabelhafter Sibelius-Dirigent !


    Ich habe eine noch andere EMI-Ausgabe der Sinfonien Nr.1 & 6 mit Karajan (EMI, DDD), als die Abgebildete, die ich aber bei amazon nicht mehr gefunden habe (Cover mit zwei halbrunden Kreisen (lila, rechter Halbkreis mit Bild - Kirche in Winterlandschaft).
    Die Angaben der Aufnahmedaten sind dort genau so angegeben, wie ich es in Beitrag 4 angegeben hatte:
    Sinfonie Nr.1 (1981)
    Sinfonie Nr.6 (1986)
    Erscheinung der EMI-CD C1991


    ;) Aber wir kennen ja auch vom Label Brillant zahlreiche Beispiele, wie ungenau diese CD-Angaben oft sind ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Die "Cinderella" unter den Symphonien von Sibelius habe ich mir die letzten Tage seit sehr langer Zeit einmal wieder vorgenommen. Tatsächlich sagte sie mir bei meiner Entdeckungstour in Sachen Sibelius vor einem guten Jahrzehnt am wenigsten von allen sieben zu. Das hat sich nun beim Wiederhören doch anders dargestellt.


    In seinem klugen Einführungstext, der sich auf der Rückseite der alten Eterna-LP (8 25 776) unter Paavo Berglund befindet, weist Erich Brüll darauf hin, dass die Sechste "die letzten vier bedeutungsvollen Werke" des Komponisten einleitete (neben der Siebenten, der Schauspielmusik zu Shakespeares "Sturm" und der Tondichtung "Tapiola"). "In diesen Werken war seine früher so engagiert erscheinende Haltung nobler Reserve gewichen. Wir begegnen nicht mehr der abgründigen Tragik der vierten, aber auch nicht mehr dem nationalen Pathos der ersten und zweiten, dem daseinsfrohen Ausschreiten der dritten und der expansiven Lebensbejahung der fünften Sinfonie. Verhalten kündigt sich Resignation an, die ihn schließlich ganz schweigen ließ."

    Abgehört wurden die folgenden vier Aufnahmen:


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    Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchester/Paavo Berglund (Eterna 1966)

    Großes Symphonieorchester des Allunions-Rundfunks Moskau/Gennadi Roshdestwenski (Melodia 1973)

    Japan Philharmonic Symphony Orchestra/Akeo Watanabe (Denon 1962)

    Berliner Philharmoniker/Herbert von Karajan (DG 1967)


    Spielzeiten:


    Berglund: 9:14 - 5:46 - 3:58 - 10:42
    Roshdestwenski: 9:51 - 4:46 - 3:51 - 9:24

    Watanabe: 8:16 - 5:27 - 3:55 - 9:17

    Karajan: 9:17 - 6:20 - 3:31 - 9:41

    Berglund war als Einstieg jedenfalls gut genug, das damals eher negative Urteil infrage zu stellen. Er scheint die Sechste geschätzt zu haben, es folgte noch eine Handvoll späterer Aufnahmen. Watanabe legte 1962 tatsächlich die Ersteinspielung in Stereo vor (zugleich der erste Stereo-Zyklus). Klanglich kann diese historisch bedeutsame Aufnahme nicht ganz mithalten. Zu meiner Überraschung (oder eigentlich auch nicht) befand ich gerade die Roshdestwenski-Interpretation für exzeptionell und mustergültig. Sie hat ein zupackendes Momentum vom ersten Takt an. Sehr guter, strahlender Klang. Karajans Lesart ist sicherlich deutlich "westlicher" angehaucht und auf ihre Art ebenfalls von ganz hoher Qualität. Klanglich dunkler und bassbetonter.

    Nachtrag: Die Uraufführung der Symphonie Nr. 6 erfolgte am 19. Februar 1923 in Helsinki mit den dortigen Philharmonikern unter Stabführung des Komponisten höchstpersönlich - in drei Tagen jährt sie sich also zum 100. Mal!

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    – Luís de Camões

  • Auch ich tat mich lange Zeit sehr schwer mit der 6. Sinfonie. In Gesamtaufnahmen "hörte ich sie mit", ohne ihr in der Regel besondere Bedeutung beizumessen.


    Das aber änderte sich, als ich die Aufnahme mit Thomas Zehetmair kennen lernte:


    Sibelius: Symphonien Nr. 3 & 6

    +Strawinsky: Violinkonzert

    Northern Sinfonia, Thomas Zehetmair

    Saphir, DDD, 2008


    Der Blick auf die Tempi: Mit 7:50, 5:41, 3:03 und 8:51 ist er um einiges zügiger unterwegs als die Kollegen, die Joseph II zum Vergleich anhörte. Da er sich durch die Sätze gerne ausgiebiger Rubati, insbesondere Accelerandi, bedient, kommt hier von Anfang an keine "gemütliche Grundstimmung" auf.

    Es sind aber nicht nur die "nackten Zahlen", die diese Aufnahme einzigartig machen, es ist vielmehr Zehetmairs bewusste "nervöse", "schlanke", sehr dynamische Herangehensweise, die immer wieder aufhorchen lässt. Er setzt Akzente, hebt Nebenstimmen hervor, variiert bisweilen sehr stark das Tempo und animiert das bestens disponierte Orchester zu einem sehr transparenten Spiel. Er ist quasi ein "Anti-Karajan", nicht als Qualitätsmerkmal gemeint, aber Karajan bevorzugte "breite Klangflächen", während Zehetmair auf kammermusikalische Feinsinnigkeit setzt. Das ist sehr subjektiv und expressiv, aber für mich auch sehr gut.


    Im Beiheft heißt es: "Die traditionelle Sonatenform ist in dieser Symphonie abgestreift, und die zurückhaltende Instrumentierung verbietet jede leidenschaftlichen Höhepunkte, die die voraufgegangene fünfte Symphonie kennzeichnen. Statt dessen ist eine stetige Progression zu verzeichnen, die auf ihre eigene Weise nicht minder intensiv oder ergreifend ist."


    Diese Intensität spüre ich in keiner anderen Aufnahme so sehr wie in dieser und deswegen schätze ich sie ganz besonders.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Diese Intensität spüre ich in keiner anderen Aufnahme so sehr wie in dieser und deswegen schätze ich sie ganz besonders.

    Ich entsinne mich dunkel, lieber Norbert, dass Du diese Einspielung schon vor etlicher Zeit "über den grünen Klee" lobtest. Nun wird es also doch einmal Zeit, dass ich sie mir besorge, zumal auch die 3. Symphonie enthalten ist, die gleich nach der Sechsten wohl bis heute die am seltensten aufgeführte bleibt (selbst die Vierte gibt es ab und an außerhalb von Zyklen). Obwohl ein "schlanker" Ansatz nicht unbedingt mein Ideal ist, so bin ich doch auf die Tempowechsel gespannt, sobald mir die Aufnahme über den Weg läuft. Danke nochmal für den Hinweis.

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    – Luís de Camões

  • Manchmal ist es so, lieber Joseph, dass es einer "extremen" Interpretation bedarf, damit ich mich einer Sinfonie oder eines anderen Musikstücks nähern kann. Seitdem ich Zehetmairs Aufnahme kenne, höre ich die Sinfonie generell mit "anderen Ohren" und finde auch Gefallen an anderen Aufnahmen.


    Bei der 4. Sinfonie von Sibelius kommt das "Aha-Erlebnis" allmählich durch die Aufnahmen mit James Levine und Herbert Kegel, und bei Schumanns 2. Sinfonie konnte Leonard Bernstein mit seiner Wiener Aufnahme mich für das Werk erwärmen.


    Ich bin gespannt, wie Dir Zehetmairs Interpretation gefallen wird...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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