Plaudereien über ... Beethovens Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21

  • Der revolutionäre Beginn


    Was hat der Beethoven da nur gemacht? Eine „Sinfonie in C-Dur“ ist angekündigt – und sie beginnt in F-Dur. Skandalös. – Was sagt Ihr? „Stimmt nicht?“ „Sie beginnt mit einem C7-Akkord, also sehr wohl in C-Dur?“ Na, dann fragt doch mal den 2. Flöterich, den 2. Oboisten, den 1. Klarinettisten, die als ersten Ton ein „b“ blasen müssen: Kann es sein, dass das Stück in C-Dur beginnt? Also. Natürlich nicht. F-Dur könnte es sein, d-moll könnte es sein, sogar a-phrygisch könnte es sein. Gut, Letzteres wäre für eine Sinfonie um 1800 äußerst unwahrscheinlich, das gebe ich zu – aber es wäre immer noch wahrscheinlicher als C-Dur. Denn C-Dur ist unmöglich – die zweite Flöte, die zweite Oboe und die erste Klarinette sind schuld. – Und von wegen C7: Der C7 ist zwar Dominantseptakkord auf C, aber von F-Dur und in F-Dur. (Übrigens auch von und in f-moll.) – Was hat der Beethoven da nur gemacht?


    Nun hat er in F-Dur angefangen – C7-F, so sind die ersten Akkorde, aber nichts hält ihn da, schon schwenkt er mit fliegenden Fahnen zurück: G7 – also doch C-Dur? Nix – Trugschluss: a-moll. Und dann: D7 – dreimal wiederholt! Und dann G-Dur – volles Orchester! Boah! Sechs Akkorde in sieben Takten: C7/F, G7/a, D7/G, dabei die Bezirke von F-Dur, C-Dur, a-moll und G-Dur erreichend.


    Für unsere Ohren, die vom Trank der Tristan-Harmonik vergiftet wurden und sogar bei Strawinsky keinen Anlass mehr finden, einen Konzertskandal anzuzetteln, klingt das alles möglicherweise äußerst harmlos. Was soll denn da Besonderes sein am Anfang dieser 1. Sinfonie?


    Man kann ahnen, wie sensationell dieser Beginn gewirkt haben mag, wenn man überlegt, wo diese „langsamen Einleitungen“ zu Sinfoniesätzen herkommen: Von der Französischen Ouvertüre. Hört doch mal den Anfang von J. S. Bachs Ouvertüre (bzw. Orchestersuite) Nr. 3 D-Dur – so klingt’s staatstragend! Das ist die Musik des Absolutismus: Strahlendes D-Dur, Trompeten, Pauken. Erst am Ende des fünften Taktes erklingt mal ein Ton (gis), der nicht zur D-Dur-Tonleiter gehört. Okay, vorher waren Akkorde in G-Dur und A-Dur zu hören, aber der Tonvorrat war aus D-Dur. Wie man es auch wendet: Es klingt nach Macht, Stärke, Glanz - gottgegeben, immerwährend, staatstragend, systemstabilisierend.


    Bei Beethoven hört es sich definitiv anders an. Sechs Akkorde in vier Tonarten, gewürzt mit einem Trugschluss: das alles in sieben Takten. Irritierend. Destabilisierend. Tonartzersetzend. Subversiv. Da weht der Wind der Revolution. Man hört es nur nicht in jeder Aufnahme. Ich nenne keine Namen, aber 1977 wurde in einer damals geteilten Stadt eine Einspielung für ein großes deutsches Schallplattenunternehmen gemacht … ich sag nix. Wenn man durch solche Aufnahmen geprägt wurde (und wer wurde das nicht?), dann ist es schwierig, zu begreifen, worin die Größe der 1. Sinfonie liegt. Dann ist man durch die deutsche Nachkriegs-Biedermeier-Renaissance, durch die Hochphase des Bildungsbürgertums sozialisiert. Mit allen Schubladen, die dazugehören. Da kam doch noch eine Eroica, eine Fünfte, eine Neunte … ja, das sind doch „richtige“ Beethoven-Sinfonien! … aber die Erste?

  • Stellt Euch mal vor, Beethoven wäre nach der Uraufführung der 1. Sinfonie gestorben. Mit 29 Jahren. So ähnlich wie Schubert, der nur zwei Jahre länger lebte. Dessen „große“ C-Dur-Sinfonie D944 nur deswegen „groß“ heißt, weil Schubert zu früh gestorben war, um noch „größeres“ zu schaffen. Vermutlich an Syphilis oder an der üblichen Behandlung mit Quecksilberabreibungen oder an einer anderen Infektion, der sein geschwächter Körper nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Mit anderen Worten: Hätte Schubert nicht zur falschen Zeit einen Testosteron-Überschuss gehabt, so wäre die „große“ C-Dur-Sinfonie vielleicht nur die „mittlere“. Oder gar die „zweite frühe“.


    Aber zurück zu Beethoven: Wäre er nach seiner 1. Sinfonie gestorben, so wäre dieses Werk „seine“ Sinfonie. Die einzige. „Die“ Sinfonie Beethovens. Sein „Spätwerk“ (wie bei Schubert, wo der Begriff genauso lächerlich ist). Der „Gipfel seines Schaffens, der weit ins 19. Jahrhundert vorauswies“. Was war vorher? Drei Klaviertrios op. 1, sehr interessant das dritte in c-moll, das für Haydn schon zu weit ging. Drei Klaviersonaten op. 2, jede völlig anders: eine dramatische, eine weit gespannte lyrische, eine virtuose. Eine „Grande Sonate“ op. 7, die bis zur Hammerklaviersonate op. 106 die längste Klaviersonate Beethovens bleiben sollte. Die Klaviersonaten op.10 und die „Pathétique“ op. 13. Allemal genug, um Beethoven auf ewig einen Platz im Klavierolymp zu sichern. (Für uns stehen diese Werke halt im Schatten der noch berühmteren späteren Sonaten.) Sechs Streichquartette op. 18. Einige Violin- und Cellosonaten nebst weiterer Kammermusik und Lieder. Drei Klavierkonzerte – WoO 4 in Es-Dur, das war das erste. Dann kam das zweite in B-Dur op. 19. Und schließlich als drittes jenes in C-Dur, welches wir heute als „Nr. 1 op. 15“ kennen. Hört man die eher schematischen und konventionellen ersten Takte dieses Klavierkonzertes Nr. 1 in C-Dur, so wird klar, wie stark sich Beethoven danach weiterentwickelt hatte, bis er die erste Sinfonie schrieb. Na, wie würden wir heute diese Sinfonie nennen, wäre Beethoven danach gestorben … ? „Gipfel und Abschluss der klassischen Epoche“? „Beginn einer neuen Zeitrechnung“? Irgend so was halt. - Nebenbei: Die 1. Sinfonie Beethovens war Anfang 1800 fertig, Corellis op. 5 entstand genau hundert Jahre früher, Schönbergs „Verklärte Nacht“ Ende 1899. Da hat sich was getan in diesen jeweils knapp hundert Jahren.

  • Nochmal zur langsamen Einleitung. Eine solche war ja durchaus nichts Besonderes. Von Haydns zwölf Londoner Sinfonien haben elf eine langsame Einleitung. Aber hört doch, hört die Einleitungen zu Nr. 93, zu Nr. 99, zu Nr. 104 – trotz aller Kühnheiten atmen diese fast noch barocken Geist, ist das harmonische Tempo langsam, ist die Französische Ouvertüre noch zu ahnen. Hört die langsamen Einleitungen von Mozarts 36. oder 39. Sinfonie – wunderbar, meisterhaft, aber fast noch barock. Nix Revolution.


    Beethoven verwirrt nicht nur den Hörer mit den ersten sechs Akkorden (Wiederholungen der D-Dur-Akkorde mal nicht mitgezählt). Er baut auch Spannung auf. Nach den fünf bläserdominierten Akkorden des Anfangs folgt ein Ausbruch des vollen Orchesters (6. Akkord, G-Dur), dann stehen die Streicher im Vordergrund, die Bläser kontrapunktieren. Die Musik stabilisiert sich, pendelt zwischen C-Dur und der Dominante mit unklarem Ziel. Crescendo – dann: Kadenz! Wechsel zwischen Bläser- und Streicherakkorden, eine letzte langsame Tonleiter in den Streichern, dann geht es los, das

  • Um etwas präziser benennen zu können, welche Stellen ich meine, mache ich wieder von wohlbekannten Aufnahmen Gebrauch, und zwar von den Einspielungen aus den Zyklen von Otto Klemperer/Philharmonia Orchestra (1955-59), Herbert von Karajan/Berliner Philharmoniker (1961/62), Leonard Bernstein/Wiener Philharmoniker (1977-79) und Günter Wand/NDR SO (1985-88').


    Piano kommt das erste Thema daher – das ist doch überraschend! – und in tiefer Lage. Bis zu ihrem tiefsten Ton müssen die ersten Violinen, denen das erste Thema alleine gehört, hinabsteigen, bleiben lange zwischen g und c‘, bis sie zum c“ aufsteigen. Und es hat etwas Bohrendes, Drängendes, Insistierendes durch die Wiederholung des ersten Motivs und dessen beschleunigte Einsätze. Dann eine Modulation durch die Bläser – es erinnert doch stark an deren Einsatz zu Beginn der langsame Einleitung, nicht wahr? Dann nochmal das Thema, eine Stufe höher, wieder eine Modulation durch die Bläser. Dann nochmal das Thema, nun auf der Dominante, und endlich dürfen die Violinen über c“ hinaus (1:40/1:46/1:47/1:37), Kadenz, volles Orchester, Nachsatz zum ersten Thema im Tutti.


    Die Überleitung baut Beethoven mit dem ersten Thema (1:55/2:00/2:00/1:50). Das ist nun weniger genial, das hätten viele so schreiben können. (Ja, Beethovens 1. ist nicht nur revolutionär – sie ist beileibe kein „Sacre du Printemps“ von 1800. Aber eben auch kein Werk eines schüchternen Schülers, der zitternd seine Zensur erwartet.)


    Das zweite Thema (2:09/2:14/2:14/2:03) ist völlig anders als das erste. Es keine zusammenhängende Melodie, sondern besteht aus Verkettungen eines Motivs, das (zweitens) nacheinander von nicht von einer Instrumentengruppe, sondern von verschiedenen Instrumenten vorgetragen wird („durchbrochener Satz“). Drittens wird es von Bläsern, nicht von Streichern gespielt. Viertens spielt es in der zweigestrichenen Oktave und höher. Fünftens ist es nicht instrumental wie das erste Thema, sondern lyrisch-kantabel. Sechstens ist es überwiegend abwärts gerichtet statt aufwärts wie das erste Thema. - Wer findet mehr Gegensätze?


    Bei seiner Wiederholung wechseln Streicher und Bläser ab. – Auch hier folgt ein Forte-Ausbruch des Orchesters, dem überraschend eine Wendung nach moll erfolgt (2:43/2:45/2:45/2:32), bis die Schlussgruppe der Exposition wiederum das erste Thema aufgreift (2:58/2:59/2:59/2:45). Wiederholung der Exposition.


    Die Durchführung (5:37/5:29/5:25/5:03). Beethovens moduliert quintfallweise: A-Dur, D-Dur, G-Dur. Modulieren soll er hier ja auch. Das gehört sich so in der Durchführung, das haben auch andere gemacht (hört die Durchführung im Kopfsatz von KV 550, die ist diesbezüglich noch viel extravaganter). Rasch wendet sich die Musik nach c-moll (5:52/5:44/5:40/5:17), f-moll, B-Dur, dort bleiben wir eine Zeit lang, doch Es-Dur liegt sozusagen schon in der Luft. Noch ein Tutti, dann sind wir da (6:21/6:11/6:07/5:41 – man bedenke, vom A-Dur zu Beginn der Durchführung haben wir über sieben Quintfälle Es-Dur erreicht. Dieser Tritonus A-Es ist enharmonische Maximaldistanz, der nächste Quintfall wäre Es-B, dieses B wäre von A aber auch durch 7 Quinten aufwärts erreichbar), und das Kopfmotiv des ersten Themas treibt die Musik weiter. Statt weiterer Quintfälle geht es nun stufenweise voran: Es-Dur, f-moll, g-moll, a-moll – Letzteres erklingt immer nur kurz, stattdessen dominiert dessen Dominante (das ist ja auch ihr Job ;) ) E-dur das Geschehen, bis die Musik auf einem E im Unisono innehält und die Holzbläser auf dem gebrochenen Dominantseptakkord von C-Dur nach Hause finden: Reprise (7:06/6:54/6:49/6:20). – Ja, die Durchführung war gar nicht so extrem. Es war eher das Repetitive, es waren die rhythmischen Energien, in denen sich entlud, was in der langsamen Einleitung schon brodelte.


    In der Reprise spielen alle, Streicher und Bläser, das erste Thema. Ist das Thema eine Stufe höher erklungen, scheint Beethoven aufgefallen zu sein, dass er in der Durchführung vergleichsweise brav war: Jetzt beginnen abenteuerliche Modulationen, jetzt gibt es eine chromatische Linie vom d“ (7:20/7:07/7:02/6:32) bis zum g‘‘‘, also über anderthalb Oktaven, in der nur dis“ und dis‘‘‘ fehlen. – Das zweite Thema kommt dann schulmäßig in C-Dur daher (7:43/7:29/7:23/6:52). Schlussgruppe und Coda runden die Sache würdig ab, Beruhigung der Zuhörer ist angesagt. Denn in den nächsten Sätzen wird es gewagt genug weitergehen.

  • Der so ausführliche, imponierend-analytische Beitrag von Wolfram zu BEETHOVEN's SINFONIE Nr. 1 und ihrer Entstehungsgeschichte ist wirklich hochinteressant. Hier wird einmal mit Recht mit der oft anzutreffenden, geringschätzenden Meinung aufgeräumt, daß es sich hier um ein gefälliges, noch nicht ausgereiftes Anfangswerk handele, das von seinen späteren Sinfonie dann doch weit in den Schatten gestellt worden sei. Tatsächlich machte die 1. Sinfonie, wie von Wolfram so informativ und treffend beschrieben, einen langen Reifeprozeß durch, der von ersten Skizzen aus dem Jahre 1791 bis hin zur späteren Uraufführung am 2. April 1800 in Wien währte, wo sie prompt von der zeitgenössischen Fachwelt teilweise ob ihrer Kühnheit - nicht zuletzt durch ihren dissonanten Anfangsakkord - mit einigem Befremden aufgenommen wurde. Beethoven erregte mit dieser ersten Sinfonie auf jeden Fall allgemeines Aufsehen. Wenn man auch in dieser Sinfonie stellenweise noch den Lehrmeister HAYDN erkennt, so verrät sie stellenweise, wie z. B. auch im Menuett, doch schon die deutliche Handschrift und den Charakter des späteren BEETHOVEN.


    Die für mich überzeugendste Interpretation dieses Werkes liegt in der Einspielung durch PAUL KLETZKI mit der TSCHECHISCHEN PHILHARMONIE vor, der dieser Sinfonie den ihr gebührenden Respekt und Ernst entgegenbringt, und ihr gerade mit seiner unexzentrischen down-to earth Auslegung Würde und Größe verleiht. Hätte sich PAUL KLETZKI nicht durch mitunter sehr undiplomatsiche Äußerungen immer wieder mit dem Publikum angelegt, so hätte er seinen Beliebtheitsgrad sicher noch deutlich erhöhen, und als ein ganz großer Dirigent in die Musikgeschichte - nicht zuletzt als BEETHOVEN-EXEGET - eingehen können.


    Viele Grüße


    wok

  • Hallo Wolfram,
    diesenThread habe ich ja ganz schnell in mein Forum-Abo gestellt, um bestimmt alle Beiträge mitzubekommen.


    Randbemerkung: Wie anders ist doch da der Variationensatz aus dem Forellenquintett (zufällig mitgehört 10 Uhr 30, Bayern 4 Klassik). Da kann jeder musikalische Laie - wie z. B. ich - auch ohne eigentliche Kenntnis des Werkes, nur weil er das Schubertlied kennt - seine eigenen Variationen (vielleicht sogar zu den Moll-Variationen) aus dem Stand dazu mitpfeifen/-summen usw.. (Ich bin mir sicher, Du weisst, was ich damit ausdrücken will.)


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    Es war eher das Repetitive, es waren die rhythmischen Energien, in denen sich entlud, was in der langsamen Einleitung schon brodelte.


    Hallo Wolfram,


    ich finde, das passiert im ganzen Satz, trotz der vielen Gegensätze, eine runde Sache! Und Beethoven "spielt" schon mit den Srukturen, sagenhaft!


    Viele Grüße Thomas

  • Lieber Thomas,


    was meinst Du mit "spielt mit den Strukturen"? Den Fugato-Beginn des zweiten Satzes? Den dritten Satz, wo "Menuett" draufsteht, aber keines drin ist (kein Wunder, denn der zweite ist ja schon das Menuett ... :D )? Oder das Finale mit seiner Einleitung - hat man je mehr Spannung mit einer einzigen Stimme erzeugt? (Leonard Bernstein hat diese Einleitung mit den Wienern genial dirigiert - wer sie mit ihm nicht gehört hat, der hat sie nicht gehört ... ).

  • Hallo mal wieder!


    Einen Thread dezidiert zur "Plauderei" über ein Musikstück aufzumachen, finde ich sehr gut! Das impliziert eine etwas zwanglosere Diskussion als in den Werkthreads und nimmt damit ein wenig die Bürde, formell Genügendes schreiben zu müssen. Danke auch an Wolfram für den ausführlichen Rundgang durch den ersten Satz der Ersten!


    Ich möchte mich ein wenig am Topos "revolutionär" reiben, der sich durch Wolframs Einführungsbeiträge zieht (und an dem auch andere Einführungen aufgehängt sind, die ich gelesen habe). Im Prinzip kommt der ja glaube ich eher von den späteren Werken Beethovens und wird ziemlich häufig auf die früheren (wie auch diese Symphonie) übertragen, um zu bekräftigen, wie echt dieser Beethoven schon sei (und nicht selten wie viel aufregender als Haydn oder Mozart). Ich frage mich manchmal, inwieweit das gerechtfertigt ist, oder inwieweit manches, das wir beim frühen Beethoven als revolutionär entdecken, bei z.B. Haydn relativ normal wäre. Überspitzt gesagt: Wäre das, was wir beim frühen Beethoven seinem revolutionären Impetus zugute schreiben, bei Haydn ein Witz mit Zopf?


    Als Kontrast zum Revolutionären möchte ich zwei Stellen in Beethovens Erster herausstellen, die m.E. ziemlich haydnscher Witz sind. Die erste ist im ersten Satz der Beginn des Allegro. Da wird m.E. der Beginn des Allegro durch die Bläserpassagen verschleiert: Der Hörer hört zwar die starke Kadenz auf dem ersten Ton des Allegro, einhergehend mit der Beschleunigung des Tempos und wähnt sich demnach im Allegro, aber dann kommt diese Bläserpassage, die nicht nur das Tempo rausnimmt, sondern, wie Wolfram oben schon ausführt, sowohl "thematisch" auf die Einleitung zurückverweist als auch die Tonart wieder schwächt (und die Suche nach der richtigen Tonart war ja der Topos der Einleitung!). Der Hörer wird hier also zweifeln, ob er wirklich schon im Allegro angekommen ist, und bevor er sich sicher ist, dass er die Einleitung verlassen hat, ist er schon in der Überleitung zum Seitensatz: Witzigerweise ist die Passage, die zur Überleitung führt, ja wieder eine ziemlich deutlich herausgearbeitete Kadenz auf C-Dur, die auf dem ersten Ton der Überleitung mündet, und es könnte sich genausogut an dieser Stelle der Beginn des Allegro anschließen. Das ist genau die Art von witzigem Verwirrspiel, die ich in einer Haydn-Symphonie erwarten würde!
    Das zweite Beispiel ist der Beginn des Finales: Dieses ständige Anlaufen und wieder Verebben ist ebenfalls ein konsequentes Täuschen der Hörerwartung, das ich mir auch irgendwo bei Haydn vorstellen könnte.


    Vor diesem Hintergrund nochmal zum Beginn der Symphonie: Dass die Tonart zu Beginn erst einmal verschleiert wird, was das Zeug hält, gibt es bei Haydn ja durchaus auch, am bekanntesten vielleicht im Quartett op. 33,1. Auch dissonante Beginne gibt es sicherlich, mindestens in den Quartetten (mir fällt allerdings gerade kein spezifischer ein ;) ). Wie haben den Beginn wohl die Zeitgenossen wahrgenommen? Als "Wind der Revolution" oder doch eher als musikalisches Spiel?



    Viele Grüße,
    Frank.

  • Zitat

    Wie haben den Beginn wohl die Zeitgenossen wahrgenommen? Als "Wind der Revolution" oder doch eher als musikalisches Spiel?


    Wohl als etwas Ungeheures! Natürlich hat auch Haydn uns im Themenkreis "verschleierte Tonart" sein Meisterstück hinterlassen: Die Einleitung zur Schöpfung. Das aber ist Programmmusik "Chaos" und keine absolute Musik wie eine Sinfonie. Mir ist jedenfalls bis zu eben dieser ersten Sinfonie kein Werk bekannt, das mit dem Dominantseptakkord zur Subdominante (C7 -> F) eröffnet wird, dazu die Septe noch durch die Instrumentation derartig herausgestellt! Das geht weit über alles dagewesenen hinaus, sogar über die bekannte dissonante Schichtung in Mozarts 39., die Beethoven in der Eroica aufgreift. Hier zeigt sich in Beethoven ein Komponist mit Phantasie und Mut zur Invention: selbst wenn er nur diese eine Sinfonie geschrieben hätte, müßte sein Werk für diese Einleitung in den Geschichtsbüchern stehen.


    Gerade dieses im wahrsen Sinne bis dato "Unerhörte" muß der Interpret betonen. Das ist das "Schockierende" an der Einleitung, das auch heute noch, selbst nach Wagner und der Auflösung der Tonalität im 20. Jh. so elektrisierend wargenommen werden kann. Wenn, ja wenn die Interpretation stimmt: klangliche Betonung der Bläser, kein Vibrato, akzentuiren und Betonung der Dissonanz, eben so wie es in der Beethovenzeit intepretatorischer "common sense" war. Alles andere als das heraustellen dieses Beginn, ja des allerersten Akkordes, ist Thema verfehlt, "setzen: sechs!"

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Die Überleitung baut Beethoven mit dem ersten Thema (1:55/2:00/2:00/1:50). Das ist nun weniger genial, das hätten viele so schreiben können.


    Hallo Wolfram,


    gehe ich Recht in der Annahme, das du dieses "Manko" in allen von dir genannten Interpretationen gehört hast?


    Hier wird das erste Thema also wiederhölt. Wann macht so etwas Sinn? Doch wohl nur dann, wenn ich etwas betonen möchte. Dies ist natürlich völlig unnötig, wenn ich den Satz so spiele, das man den Aufbau ohne Probleme erkennt. Alles in einem Tempo, damit der Hörer auch damit umgehen kann.
    Dann wird die Wiederholung überflüssig.
    Dies wird dann damit erkärt, Beethoven konnte es noch nicht anders.


    Wie sieht es aber aus, wenn Tempo in`s Spiel kommt?


    Plötlich verdichtet sich alles. Die Informationen in der Musik verdichten sich, Übergänge werden nicht mehr klar sichtbar, es ist gar nicht mehr einfach, den Aufbau zu verfolgen.


    Hier macht dann die Wiederholung Sinn!!!


    Denn sie stellt das Thema als Dreh und Angelpunkt des Satzes heraus. Das Thema wird herausgehoben, verdeutlicht und zwar so, das es jeder auch ohne Partitur hören kann. Es ist das Zentrum, noch unterstrichen durch den Charakter des zweiten Themas, wie du es ja wunderbar beschrieben hast.


    Und erst im Tempo wirkt dann das ganze Konstrukt, das "Spiel" Beethoven`s, mit seinem ganzen komplizierten Aufbau, der eigentlich doch so simpel sein soll und die Überleitung ein "Ausrutscher".


    Viele Grüße Thomas


  • Wohl als etwas Ungeheures! Natürlich hat auch Haydn uns im Themenkreis "verschleierte Tonart" sein Meisterstück hinterlassen: Die Einleitung zur Schöpfung. Das aber ist Programmmusik "Chaos" und keine absolute Musik wie eine Sinfonie. Mir ist jedenfalls bis zu eben dieser ersten Sinfonie kein Werk bekannt, das mit dem Dominantseptakkord zur Subdominante (C7 -> F) eröffnet wird, dazu die Septe noch durch die Instrumentation derartig herausgestellt! Das geht weit über alles dagewesenen hinaus, sogar über die bekannte dissonante Schichtung in Mozarts 39., die Beethoven in der Eroica aufgreift.


    Ja, das sehe ich ein; aber ein Mittel, um eine alte, bekannte Pointe wieder aufzufrischen, zumal eines, das dem jungen Beethoven wohl gut zuzutrauen ist, ist, "noch einen draufzusetzen". Ich habe oben die Extreme "Wind der Revolution" (als Zitat von Wolfram) und "musikalisches Spiel" genannt, aber ist es nicht beides zu einem gewissen Grad? Ja, da geht ein junger, erfolgshungriger Komponist mit großem Ungestüm an die Sache, und genau in diesem Sinne beginnt er seine Symphonie - aber andererseits ist das, was er da auf die Spitze treibt, doch eine Facette haydnschen Witzes.



    Viele Grüße,
    Frank.

  • Tempo und Artikulation


    „Cantabile“ heißt gesanglich. Aber viele lassen „legatissimo“ spielen, wo der Komponist „cantabile“ vorschrieb. Als ob ein Sänger immer nur legato singen würde.


    Ein Sänger versucht, den Affekt einer Arie möglichst gut herauszuarbeiten und seine Zuhörer mit hineinzunehmen in die vorgestellte Handlung bzw. Stimmung. Klar: Die Arie des Sarastro „In diesen heilgen Hallen“ braucht ein beseeltes Legato mit eher nur angedeuteter Artikulation (aber sehr wohl mit den richtigen Binnenbetonungen). Doch bei der Auftrittsarie des Tamino „Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren“ oder bei den Koloraturen der Königin der Nacht wäre ein Dauerlegato völlig deplatziert. „Gesanglich“ zu spielen, also mit instrumentalen Mitteln „wie ein Sänger“ zu agieren, heißt demzufolge etwas anderes als einfach nur „sempre legatissimo“. Es kommt halt drauf an.


    Beethoven hat „Legato“ und „Staccato“ im zweiten Satz sehr präzise vorgeschrieben. Fast jede Note ist bezeichnet. Den Rahmen damaliger Bezeichnungsmöglichkeiten hat er voll ausgeschöpft. Ein einziger Blick zeigt: Das „Staccato“ überwiegt bei weitem. Also: Eine wagnerische Legato-Idylle ist nicht gewollt. Wer hier den großen, satten Bogen spielen lässt, der hat die Partitur gegen sich – und hat „cantabile“ falsch übersetzt.


    „Andante“ gehörte übrigens zu jener Zeit – dank Harnoncourt wissen wir es wieder – zu den schnellen Tempi. „Andante“ war das langsamste der schnellen Tempi, so sagen es die damaligen Lehrbücher, war also ein „langsames schnelles“ Tempo. Und kein „schnelles langsames“ Tempo. „Con moto“ bedeutet eine Verstärkung des „schnellen“ Aspektes von „Andante“. Das sieht man auch an der Metronomangabe: Beethoven schreibt Achtel = 120 vor. Zwei Achtel pro Sekunde. Stellt es mal auf dem Metronom ein oder nehmt zur Not den Sekundenzeiger Eurer Uhr. Ganz schön flott.


    Mit Wiederholung des ersten Teils hat der zweite Satz 259 Takte, also 777 Achtel (keine Zahlenmystik, bitte … oder doch?), das macht ziemlich genau 6½ Minuten. – Toscanini 1951 scheint mit 6:21 dicht dran zu sein, Karajan war 1961 mit 5:50 sogar noch schneller, aber …. zu früh gejubelt: beide lassen die Wiederholung weg. War ihnen wohl selbst schon zu langweilig in dem Tempo, das sie wählen. Denn: Ohne Wiederholung hat der Satz nur 195 Takte oder 585 Achtel, d. h. knapp fünf Minuten hätten den beiden eigentlich reichen müssen. Haben ihnen aber nicht gereicht. – Mit Wiederholung spielen übrigens John Eliot Gardiner und Paavo Järvi, und zwar in 6:33 bzw. 6:28 – geht doch! (Guckt nicht so böse – ich hab‘ die Metronomangabe nicht in die Partitur geschrieben.)


    Karajan und andere haben sich über die Vorgaben von Beethoven in einer Weise hinweggesetzt, wie es die Regisseure des Regietheaters bei der Bühnendarstellung von Opern erst Jahrzehnte später wagten.


    Abgesehen von so viel trockenem Zahlenwerk: Wenn man spielt, was Beethoven wollte, klingt es halt völlig anders als bei Karajan und Bernstein. Die Werbetexter haben ausnahmsweise mal nicht gelogen: Ein ganz neues Stück ist da zu hören, wenn man Beethoven nur beim Wort nimmt. - Dies entgegen anderslautender reaktionärer Propaganda. Man muss schon die Partitur in die Hand nehmen, um zu erkennen, wer da mit dem Finger auf die anderen zeigt und lügend „Lügner“ ruft. (Guckt nicht so böse - ich habe weder das Tempo von Karajan und anderen zu verantworten noch die Ernennung derer Beethoven-Aufnahmen zu ewigen Referenzen. Hab ich nie behauptet.)

  • Fugentechnik und Sonatenform – lange vor Bruckners 5. Sinfonie


    Was geschieht nun im Andante? Nochmal zum Kopfsatz: Beethoven hat in der dortigen Durchführung einen großen Modulationsplan durchgezogen. Unvermittelt begann er in A-Dur (3#) und modulierte quintfallweise abwärts bis Es-Dur (3b). Sozusagen symmetrisch bis zur anderen Seite von C-Dur. Die Haupttonart C-Dur sparte er dabei übrigens unterwegs aus und ersetzte sie durch c-moll – damit C-Dur in der Reprise ganz frisch und unverbraucht wieder erscheinen kann, er wollte den „Heimkehreffekt“. Danach ging es stufenweise über f-moll und g-moll zurück in den Bezirk von A, genauer: nach a-moll. Dass er modulieren kann, hat er nun gezeigt. – Das ist der Plan der Durchführung, umgesetzt mit einer den Hörer geradezu reizüberflutenden Ereignisdichte der Themeneinsätze, wie Thomas ganz treffend gesagt sagt! Jedenfalls, wenn der Dirigent im richtigen Tempo spielen lässt.


    So gut der Plan ist und so konsequent Beethoven ihn umgesetzt hat, so sehr fehlt doch etwas in dieser Durchführung: die kontrapunktische Arbeit. Ein paar Motivwiederholungen gibt es zwar, aber echte Imitationen oder gar Kanons und Fugati vermisst man. Diesbezüglich hat Mozart zehn Jahre vorher in der Durchführung des Kopfsatzes der Jupiter-Sinfonie mehr gemacht!


    Als ob Beethoven dieses Manko ausgleichen wollte, lässt er den zweiten Satz mit einem Fugato beginnen. F-Dur ist die Tonart, die zweiten Violinen fangen alleine mit dem Thema („Dux“) an. Violen und Violoncelli antworten regelkonform, so dass da, wo im originalen Thema („Dux“) der Grundton „f“ steht, nun die Quinte „c“ erklingt und umgekehrt. Dabei werden die Noten dazwischen sinnvoll aufgefüllt, so dass das Thema erkennbar bleibt. („Tonale Beantwortung“ – „real“ wäre die Beantwortung hingegen, wenn alle Intervalle erhalten blieben, d. h., wenn der der zweite Einsatz, der „Comes“, nur die Transposition des „Dux“ in die Dominante wäre.)


    In einer Fuge wäre der dritte Einsatz, den Beethoven jetzt folgen lässt, regelwidrig. Eigentlich wäre die „Urform“, der „Dux“ wieder dran. (Aber sogar Bach hat sich ausgerechnet in der ersten Fuge des WK I beim dritten Einsatz auch nicht dran gehalten ... ) Stattdessen spielen Fagötter und Kontrabässe das Thema in C-Dur („reale Beantwortung“), sanft gestützt durch die Hörner. (Jetzt kann man mit Blick auf die o. g. Bach-Fuge weidlich streiten, ob es eine Fugenexposition ist oder nur ein Fugato!) Als vierte Stimme setzen die ersten Violinen und die hohen Holzbläser ein, nun wieder mit der Originalgestalt des Themas in F-Dur. Beethoven spinnt das Geschehen ein paar Takte weiter fort, dann kommt die obligatorische Kadenz (hier aber nur als Halbschluss) in C-Dur, Generalpause.


    Einstimmig geht es weiter in der ersten Violine – ein zweites Thema in C-Dur, fragmentarisch klingt die Begleitung (Klemperer 1955-59/Karajan 1961-62/Bernstein 1977-79/Wand 1985-88 = 0:54/0:47/0:49/0:49). Sogleich wird dieses Thema in variierter Form wiederholt. Einen neuen punktierten Rhythmus bringen die ersten Violinen ins Spiel, dann ist derselbe Aufschwung in den Bläsern zu hören, fast schon militärisch, chromatisch geschärfte Kadenz, gefolgt von einem Pianissimo-Einsatz der Pauken und triolischer Bewegung in den ersten Violinen und den Flöten. Beethoven setzt das ganze Orchester ein, lässt es als kleinen rhythmischen Gag sogar hemiolisch begleiten, bleibt aber im Piano. Eine letzte Auftakt-Quarte, wie zu Beginn des Satzes, dann ist der erste Teil schon vorbei. Wiederholung (nicht bei Karajan).


    Ich sag’s jetzt: Auch der zweite Satz steht in Sonatenhauptsatzform. Erstes und zweites Thema haben wir gehört, jetzt wird die ganze Exposition wiederholt, dann kommt die Durchführung. Das ist schon ganz spannend: Beethoven verbindet Fugentechnik mit der Sonatenform. Ich würde es nicht so wichtigtuerisch herausstellen, wenn nicht manchmal Bruckners 5. Sinfonie ganz bildungsbürgerlich-verklitternd-verklärend als einmalige Synthese von Fuge und Sonatenform hingestellt würde, Barockes und Modernes gleichsam verbindend.


    Lesen wir, was Mark Audus im Booklet der Chailly-Aufnahme von Bruckners 5. schreibt: “ […] For in its fusion of counterpoint and symphonic form it looks at once back to the worlds of classicism and the baroque and forward to a new kind of music which remained the goal of Bruckner’s unfinished symphonic pilgrimage.”


    Zu Deutsch: ” [ … ] Denn die damit beschriebene Verschmelzung von Kontrapunkt und sinfonischer Form bedeutet zugleich Rückblick auf Klassik und Barock und Vorausschau auf eine neue Art von Musik, die das eigentliche Ziel von Bruckners unvollendeter sinfonischer Pilgerfahrt blieb.”


    Wunderschön. Wirklich. Eine Grabrede könnte nicht ergreifender sein. Nur: Bis auf den letzten Halbsatz passt es halt genauso auf das unscheinbare „Andante cantabile con moto“ der allerersten frühen Sinfonie des knapp 30jährigen Beethoven, der ja noch gar nicht richtig Beethoven war … und das Finale von Mozarts Jupiter-Sinfonie fiel dabei auch gleich hinten runter.


    Die Durchführung (4:26/1:54/4:01/4:08') bringt eine deutliche Eintrübung in c-moll – dunkle Wolken scheinen aufzuziehen. Wunderbar, wie Beethoven das mit ein paar dürren Tönen in den beiden Violinen und den beiden Oboen macht, geradezu minimalistisch. Aber ganz schnell hellt es sich wieder auf, nächste Modulation, Des-Dur, von wo aus es über b-moll und den hartverminderten Dominantseptakkord auf G (verminderte Quinte Des im Bass) nach C-Dur geht. Der Hartverminderte auf G besteht aus (enharmonisch) denselben Tönen wie der Hartverminderte auf Des, deswegen klingt die Modulation so überzeugend („der Hartverminderte ist bei Tritonus-Transposition enharmonisch invariant“, würden Mathematiker jetzt sagen). Orgelpunkt auf C mit Paukengegrummel, dann sind wir schon in der Reprise.


    In der Reprise (5:37/2:58/5:10/5:20) wird dem Fugatothema ein obligater Kontrapunkt zur Seite gestellt. Ansonsten nicht viel Neues, außer, dass der Satz eine veritable Coda erhält. Hornquinten am Ende – ist da was Außermusikalisches? Wohl nicht.

  • Hallo Wojfram,


    und gerade durch die Wiederholung des Fugato, also dem orchestralen Kanon, erhält der Satz eine formale und auch klangliche Ausgewogenheit und man kann sich erhören, wieviel Raffinesse im Fugato steckt. :thumbsup:


    Viele Grüße Thomas

  • Hallo Thomas,


    zweierlei sehe ich an dem Fugato:


    1) Dass Beethoven in der Reprise ein Doppelfugato (Thema mit obligatem Kontrapunkt) geschrieben hatte, musste er sich ja vorher überlegen - er kann ja nicht einfach mal am Anfang ein Fugato schreiben und hoffen, dass ihm nachher ein obligater Kp. einfällt, der sich durchziehen lässt. Nein, das war natürlich "von langer Hand" geplant. Also wurde die Reprise zwangsläufig zuerst komponiert. (Es könnte natürlich theoretisch so gewesen sein, dass ihm die Sache mit dem obl. Kp. erst später eingefallen ist und sich dann alles glücklich gefügt hat. Wäre aber nicht typisch für Beethoven ... ) Dabei war das Thema so zu wählen, dass die Sache ohne den obligaten Kp. nicht langweilig ist und mit dem obligaten Kp. nicht unangemessen überladen. - Ein Fugato schreiben, das kann jeder (C-Organisten lernen, so etwas zu improvisieren). Aber dass es mit und ohne obl. Kp. gute Musik ist - Hut ab. Also: Alleine die Idee "ich starte überraschend mit einem Fugato und setze dann in der Reprise noch einen drauf", ist außerordentlich kühn, und die Umsetzung bewundernswert.


    2) Dass Beethoven in der Durchführung des Kopfsatzes kontrapunktische Künste so auffällig vermeidet (ich kenne beim späten Haydn kein Beispiel dafür), hat vielleicht doch gerade in diesem Gag seine Begründung. Auch das spricht für planerisches Vorgehen.

  • Ich habe das Bändchen der Goldmann-Schott-Reihe mit Partitur + Kommentar (1986, Einf. u. Analyse von Alexander L. Suder). Das hat mir vor vielen Jahren mal ein klassikbegeisterter Freund zum 17.? Geburtstag geschenkt, als ich das Stück auch noch nicht lange kannte und vergleichsweise geringschätzte. Der Kommentar hat mir aber deutlich die Augen geöffnet.


    In keiner der dort referierten zeitgenössischen Rezensionen wird der Beginn in der "falschen Tonart" angemerkt (daher erst recht nicht als besonders oder gar verstörend). Natürlich mag es weitere Quellen geben, die dort nicht enthalten sind, dennoch scheint mir nicht klar, ob wir den Effekt vielleicht deutlich überschätzen, wenn wir wesentlich mehr darin sehen, als den von Spradow genannten originellen "Witz".
    Sie sind weitgehend positiv gehalten. Noch 1810 wird die Erste als Beethovens "gefälligste und populärste" Sinfonie bezeichnet und 1805 nach der Eroica wünscht ein Rezensent, dass Beethoven seine Fähigkeit doch lieber auf Werke der Art der ersten beiden Sinfonien, des Septetts oder des Streichquintetts verwenden solle.
    Als bemerkenswert oder mitunter leicht kritisch wird hervorgehoben: reichhaltige Instrumentation (zu viele Blasinstrumente) , originell und schwierig, "mit Details hin und wieder zu reichlich ausgestattet", "herrlich, klar, harmoniereich und doch nicht bizarr". Die negativste Einschätzung spricht von einem "aus Bizarrerie fast bis zur Karikatur hinaufgetriebenen Haydn".


    Was so weit ich sehe, noch nicht erwähnt wurde, sind die relativ umfangreiche Coda des ersten (und mehr noch des letzten Satzes), was A. Suder besonders hervorhebt. Anders als bei Haydn, der die "Coda" meistens unauflösbar mit der Reprise verschmilzt und nicht so deutlich absetzt und umfangreicher als fast immer bei Mozart, wirken sie beinahe zu massiv für die sonst eher knapp gehaltenen Sätze. Aber die Expansion und Selbständigkeit, oft eben als affirmativer Triumph, dieses Formteils, der später bei Beethoven selbstverständlich wird, ist hier schon recht deutlich zu erkennen.

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    Du bringst es auf den Punkt:


    Ist die 1. Sinfonie Beethovens nun die Zusammenfassung dessen, was schon gang und gebe war, oder ist sie ein Aufbruchssignal zu neuen Ufern? Blickt sie eher zurück - oder nach vorne?


    Die gewagte langsame Einleitung zum Kopfsatz ist natürlich nur ein Aspekt dabei. Ich kenne allerdings keine frühere Sinfonie, die so "daneben" beginnt. Jede frühere Sinfonie (die mir gerade einfällt) beginnt mit der Etablierung der gewählten Tonart - und nicht mit derer Demontage.


    Wahrscheinlich kann man die obigen Fragen in dieser Allgemeinheit nur mit "sowohl als auch" beantworten. Also muss man präziser fragen: Was ist eher konventionell - und was ist neu?


    Die zeitgenössischen Kritiken waren überwiegend positiv, aber es gab auch die, die von der von Dir zitierten "Bizarrerie" sprechen. Finde ich auch spannend.


    Was Interpretationen angeht, bin ich zu einem klaren Ergebnis für mich gekommen: Ich will diese Sinfonie nicht aus dem Blickwinkel der Eroica, der Achten, des Meistersinger-Vorspiels hören, sondern aus dem Blickwinkel Haydns und aus dem Blickwinkel der frühen Klavierkonzerte Beethovens. Ich will das Moderne, das Bizarre, das Konventionsverletzende hören. So wurde sie nämlich komponiert.


    Karajan 1977 geht also gar nicht. :D

  • Unbestritten, dass der Beginn "gegen die Regeln" war!
    Das genannte Buch zitiert noch eine Abhandlung eines Theoretikers (H. Birnbach) aus Beethovens Todesjahr, in dem dieser meint, dass wenn man schon nicht mit einem Tonika-Akkord am besten in Grundstellung beginnt, dann müsse die Haupttonart jedenfalls baldmöglichst eindeutig etabliert werden. (30 Jahre hinterher ist ja noch ganz ordentlich für einen Theoretiker...)


    Eine Einleitung hat mehrere Funktionen. Bei Haydn wird ja oft mit einem eindeutigen Tutti-Akkord u.ä. klargestellt, dass es losgeht (bitte Aufwachen in der Loge!) und in welcher Tonart, worauf dann gewisse harmonische Abschweifungen folgen (mitunter steht eine Einleitung größtenteils in der gleichnamigen Molltonart, so meiner Erinnerung nach in 101), damit das Einsetzen des Allegros in der Hauptonart wieder ein kleines Ereignis wird. Irgendwo las ich auch einmal, dass die Einleitung durch einen gewissen Pomp "leichtere" Themen für das Allegro erlaubt. Ebenfalls ja sehr häufig bei Haydn, das hier ein zunächst sehr harmloses Thema im p oder pp einsetzt. Und der Paukenwirbel in 103 mag sogar die Funktion gehabt zu haben, die Aufmerksamkeit für eine *leise* beginnende Einleitung einzufordern.


    Bei Beethoven betonen die Einleitungen der 1. und 4. Sinfonie extrem den hinleitenden Charakter. Wohingegen die festlichen, breit angelegten der 2. und 7. wesentlich eigenständigere Abschnitte sind. Die 3. reduziert die "Einleitung" auf 2 Tutti-Schläge (um mit einem zunächst unscheinbaren Thema im piano beginnen zu können), die 5. und 8. beginnen ff mit dem Haupthema/motiv (in der 5. unisono, die Tonart ist nach dem "Motto" auch noch nicht eindeutig), die 6. beginnt piano mit dem Hauptmotiv, die 9. bringt dann das "Entstehen aus dem Nichts"


    Gut möglich, dass der Beginn der ersten unter die beklagten "Bizarrerien" fällt, noch stärker scheint aber den Kommentatoren die bläserlastige Instrumentation der Einleitung aufgefallen sein. Ungeachtet der Unvollständigkeit der Quellenübersicht finde ich dennoch bemerkenswert, dass diese Kühnheit jedenfalls keinen verbreiteten Tadel oder Unverständnis ausgelöst hat. Die Rezensionen schon der zweiten Sinfonie waren wesentlich durchwachsener, von der Eroica natürlich gar nicht anzufangen.

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  • Bei Beethoven betonen die Einleitungen der 1. und 4. Sinfonie extrem den hinleitenden Charakter. Wohingegen die festlichen, breit angelegten der 2. und 7. wesentlich eigenständigere Abschnitte sind.


    Bei der 1. und 4. höre ich mehr den "verwirrenden" Aspekt: Dem Hörer soll verschleiert werden, wo es hingeht.


    Die 2. höre ich als "Beschleunigungs-Einleitung": Hier hat Beethoven die Französische Ouvertüre völlig verlassen. Ab Takt 12 spielen die Streicher ab der 2. Violine abwärts gleichmäßige 16tel (B-Dur). Es ist ein bisschen wie im Kino: Ist das noch Vorfilm oder schon Hauptfilm? Habe ich den eigentlichen Beginn verpasst? Kurz danach steigert sich die Begleitung zu 16tel-Triolen, dann kommt die berühmte d-moll-Stelle, die den Kopfsatz der 9. Sinfonie vorwegzunehmen scheint - aber da geht's doch los, oder? Und wenn's dann losgeht, dann wieder im Piano, wie in der 1. Sinfonie.


    Je länger ich drüber nachdenke, desto mehr gebe ich Thomas Recht: Es ist ein Spiel mit den Formen.


    Auch die Einleitung zur 7. Sinfonie ist so ein Stück, bei dem man sich während der Einleitung fragen kann: Ist das noch langsame Einleitung oder schon Exposition?


    Ob man bei der Eroica von einer Einleitung spricht oder nicht - geschenkt. Da müsste man erst mal definieren und dann über die Definition streiten. :no: Fünfte, Sechste und Achte haben keine langsame Einleitung. Die Neunte beginnt bekanntlich mit der leeren Quinte a-e, klingt also eher nach a-moll (oder A-Dur), ist also ein ganz anderer Fall, zumal sie auch schon im Tempo des ersten Themas beginnt.

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  • Ich finde, das Andante con moto ist ein großartiger Satz, für mich mit Abstand der stärkste (und eigenständigste) Satz der Symphonie! Trotz der Integration des Fugato in den Beginn klingt das alles völlig organisch; toll finde ich auch die Reprise mit dem zusätzlichen Kontrapunkt, der mit seinen "hüpfenden" Tonleitern so richtig den Scherzando-Charakter des Satzes herausarbeitet. Was für ein Höhepunkt! Diese Tonleitermotive haben ihren Ursprung ja im Seitenthema in der Exposition (dessen Wiederholung sie schon in einfacherer Form kontrapunktiert hatten), so dass die Reprise die beiden Themen quasi zusammenführt - ist das eventuell schon ein Vorbote des Modells von Entwicklung, das später zu einem Markenzeichen von Beethovens Symphonien wird?
    Ein vergleichbarer Satz aus den Streichquartetten ist übrigens das Scherzando aus op. 18,4, wobei das den Scherzando-Charakter noch stärker betont: Auch jener Satz steht in Sonatenform und hat einen ähnlichen fugierten Einstieg, in der Reprise ebenfalls mit einem neuen, zusätzlichen Kontrapunkt. Gibt es für diesen Typ von kontrapunktischen Scherzandosätzen eigentlich ein Modell bei einem anderen Komponisten? Bei Haydn ist Scherzando-Charakter in langsamen Sätzen ja eher in Variationssätzen zu finden, oder?


    Gruß,
    Frank.

  • Lieber Spradow,


    bei mir hat der dritte Satz unter den vieren noch die Krone auf ... Danke für Deinen Hinweis auf die Kombination von Seitenthema der Exposition und dem Fugato-Thema! Aber wo siehst Du den Zusammenhang zwischen dem Kontrapunkt und dem Seitenthema der Exposition? Oder meinst Du das Seitenthema aus der Exposition des Kopfsatzes?


    Beethovens Scherzando aus op. 18,4 muss ich nochmal hören. Auch für diesen Hinweis danke!


    Kontrapunktische Scherzando-Sätze? Auf Anhieb fällt mir nur das Scherzo aus Haydns Quartett op. 33 Nr. 1 ein, und zwar der B-Teil des Scherzos. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es da nichts gibt. Eventuell sind Klaviersonaten da die bessere Fundgrube.

  • bei mir hat der dritte Satz unter den vieren noch die Krone auf ... Danke für Deinen Hinweis auf die Kombination von Seitenthema der Exposition und dem Fugato-Thema! Aber wo siehst Du den Zusammenhang zwischen dem Kontrapunkt und dem Seitenthema der Exposition? Oder meinst Du das Seitenthema aus der Exposition des Kopfsatzes?


    Nein, ich meine schon das Andante: Ab Takt 31 sind da fallende punktierte 16tel und "gezackte" Motive, ebenfalls 16tel, zunächst in den ersten, dann auch in den zweiten Violinen - und der Kontrapunkt am Beginn der Reprise besteht aus ganz ähnlichem Material.


    Zitat

    Kontrapunktische Scherzando-Sätze? Auf Anhieb fällt mir nur das Scherzo aus Haydns Quartett op. 33 Nr. 1 ein, und zwar der B-Teil des Scherzos.


    Ich weiß nicht, ist das ein Scherzando-Tonfall? Für mich hört sich das eher ernst an. Auf jeden Fall ist es nur ein kleines Stückchen Musik, kein ganzer Sonatensatz; und es ist kein langsamer Satz, sondern ein Scherzo. Mir fallen bei Haydn bisher nur Variationssätze ein (und die dann auch nicht oder ganz anders kontrapunktisch), z.B. der langsame Satz in op. 64,1 oder einige Variationen in langsamen Sätzen in Symphonien. Auf jeden Fall keine Formmodelle für die beiden Beethovensätze.
    Die Klaviersonaten von Haydn kenne ich nicht gut genug, keine Ahnung, ob sich da noch solche Sätze verstecken. Da die meisten davon aber von vor 1780 sind, möchte ich eher bezweifeln, dass es da so ausgereifte Kombinationen von Kontrapunkt und Sonatenform gibt.


    Viele Grüße,
    Frank.

  • Es gibt keinen vergleichbaren Satz in einer Haydn-Klaviersonate, soweit ich weiß.
    Allerdings scheint mir "Verschmelzung von Fuge und Sonate" etwas stark als Beschreibung... Am Anfang und in der Reprise ist das Hauptthema als Fugato gestaltet. Der Rest des Satzes ist sonatenmäßig. In einer Reprise eine kleine Gegenstimme dazuzuerfinden, ist bei Haydn nicht selten (zB. wenn ich recht erinnere, Sinfonien 91 und 93,1. Satz, Haupthema, 95, i, Seitenthema, 99, ii; wobei das zugegeben keine vorher schon fugierten Stücke sind). Das ist im Grunde nichts so ungewöhnliches in der Klassik (es wird nur von übervereinfachenden Lehrbuchdarstellungen so getan, als ob die Klassik "homophon" wäre. (Der Barock ist auch homophon, in Arien oder vielen Konzertsätzen, ist ja nicht so, dass die nur Fugen komponiert hätten.) Beethoven schreibt ja irgendwo, "er sei mit dem obligaten Accompagnement auf die Welt gekommen." (Wozu man berechtigterweise ergänzt hat: er hat es an den Werken Haydns und Mozarts gelernt.)


    Ich bin auch nicht sicher, ob er als scherzando wirklich gut erfasst ist. Überraschend ist doch der relative Ernst der Durchführung. Zunächst war diese Passage der Schlussgruppe mit den punktierten Paukenmotiv noch halb witzig erschienen, in der Durchführung aber nicht mehr.


    Das finde ich insgesamt an der Sinfonie überraschend (fiel mir gerade auf, als ich Norringtons ältere Aufnahme hörte, wo Blech und Pauken ziemlich gut herauskommen). Ausbrüche wäre sicher zuviel gesagt, aber auch klanglich überraschende Steigerungen, die man bei den Satzanfängen nicht vermutet hätte. Etwa die fast schon zu massiven Codas, besonders die des ersten Satzes mit ziemlich reichhaltigem Blecheinsatz. Oder das Trio, das zuerst nur mit Bläsern und Violinen beginnt und dann aber mit vollem Orchester, inkl. Paukenwirbel und Blech. Das mag uns heute weniger auffallend, weil wir eben seit Beethoven gewohnt sind, das volle Orchester im Regelfall in allen Sätzen zu hören. Und natürlich gibt es auch schon bei Haydn und Mozart teils ähnliches (den "erhabenen" Effekt von pp Trompeten/Pauken im langsamen Satz der "Linzer" oder die klanglichen Steigerungen im langsamen Satz von Haydns 88 (wo Trompeten/Pauken im Kopfsatz fehlten). Aber das Orchester im langsamen Satz zu beschränken war nicht selten, ebenso im Trio.


    Die deutlichste Parallele des Satzanfangs ist m.E. der Beginn des 6/8-andante aus Mozarts g-moll (freilich ein von vornherein viel ernsteres Stück). Hier wäre sogar eine bewusste Anspielung nicht ausgeschlossen. Andere relativ bewegte x/8-allegrettos gibt es bei Mozart zB im letzten Quartett KV 590 und im Klavierkonzert KV 459.

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  • Lieber Frank,


    gerne stimme ich Dir zu - der Fugato-Beginn des zweiten Satzes scheint wirklich innovativ zu sein. - In das ungefähr gleichzeitig entstandene op. 18, 4 habe ich reingehört. Ja: das ist wohl das einzige nennenswerte Gegenstück.


    Lieber Johannes,


    ja, "Verschmelzung von Fugen- und Sonatenform" scheint etwas zu stark. Bruckner macht natürlich mehr, kombiniert das Ganze noch mit einem Choral und fugiert auch diesen. Dennoch: Für seine Zeit war dieser Satzbeginn neuartig. Dass Beethoven in der Durchführung des Kopfsatzes so auffällig auf kontrapunktische Techniken verzichtet, scheint mir seine Ursache gerade im kühnen Beginn des zweiten Satzes zu haben.


    Den kontrapunktischen Anteil im Beginn von KV 550/II finde ich allerdings deutlich schwächer, alleine schon wegen der Länge des "Themas". Bei Mozart ist die Imitation ja nach drei Takten schon wieder vorbei.

  • Ich hatte das auch nicht als ernsthaften Vergleich mit dem Bruckner-Finale (das m.E. eher an dem obsessiv-demonstrativen Beweisenwollen der Kunstfertigkeit leidet) verstanden und ich will Beethovens Originalität auch keineswegs bestreiten, allerdings schon etwas relativieren.
    Ich meinte den Vergleich mit Mozarts g-moll nicht in erster Linie bezogen auf die Imitation, sondern auf den Gestus des Themas. Normalerweiser wir der Satz ja auch viel langsamer gespielt (außer bei Harnonocourt, wenn ich recht erinnere). Und "schwächer" würde ich das gewiss nicht nennen, da es ja nicht um eine Übung im Kontrapunkt geht, sondern um einen stimmungsvollen langsamen Satz ;)


    Die Parallele des andantes der 1. Sinf. zu op.18/4 ist offensichtlich, aber dort scheint mir der Scherzando-Gestus doch wesentlich eindeutiger, selbst wenn der Satz auch im Quartett die Stelle eines "langsamen Satzes" einnimmt (anders als in op.59/1 wo das ausgedehnte Scherzando das Scherzo ersetzt)


    Ob kontrapunktische Verarbeitung in der Durchführung eines Kopfsatzes üblich ist, würde ich auch erstmal bezweifeln. Allerdings habe ich dazu nicht genügend Material "im Kopf". Ich glaube, dass das sehr stark vom Stück abhängt. Einzeln betrachtet wirkt diese Durchführung auf mich jedenfalls nicht ungewöhnlich oder defizitär.

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  • Hört man den zweiten Satz im richtigen Tempo, wie Beethoven es vorgeschrieben hat, so fragt man sich: „War das jetzt das Menuett?“ Der Dreitakt, die A-B-A-Form, das Tempo – alles da. Übrigens war es im 18. Jhd. durchaus möglich, dass ein „echter“ langsamer Satz wegfällt und somit als einziger Mittelsatz ein Menuett steht. Dies allerdings weniger in Sinfonien – ich finde nur Haydns Sinfonie Nr. 25 als Beispiel – als vielmehr bei Klaviersonaten (einige bei Haydn und Mozart).


    Aber nein. Natürlich war der zweite Satz nicht das Menuett. Das Menuett kommt erst jetzt. Jedenfalls steht „Menuetto“ über dem dritten Satz. Aber danach hört es sich nicht an. Oder? Was ist überhaupt das richtige „Tempo di Menuetto?“


    Harnoncourt ist (wie so oft) eine gute Quelle, um unsere Hörgewohnheiten zu hinterfragen. In seinem Buch „Der musikalische Dialog“ hat er ein Kapitel dem Thema „Vom Menuett zum Scherzo“ gewidmet. Darin zitiert er einige Quellen:


    1688, Lange, „Methodus“, Hildesheim: „ … Französischer Tanz, so geschwinde gehet …“
    1700, Johann Kuhnau, Clavierübung: „ … dass man die Giguen und Menuetten … etwas hurtig zu tractieren pflege …“
    1703, Sébastien de Brossard, Dictionnaire: „ … sehr lustig und sehr schnell …“

    1742, Jean Baptist Vion, „La Musique pratique“: „ … drei langsame Schläge: diese werden angewandt bei manchen schnelleren Arien, bei der Chaconne und dem Menuett etc. …“

    1789, Daniel G. Türk: „ … Die Menuett, ein bekanntes Tanzstück von edlem, reizenden Charakter, im Dreyvierteltakte (seltener im 3/8') wird mäßig geschwind gespielt und gefällig, aber ohne Verzierungen, vorgetragen. In einigen Gegenden spielt man die Menuetten, wenn sie nicht zum Tanzen bestimmt sind, viel zu geschwind …“


    Man erkennt die Verlangsamung, die dieser Tanz in seiner stilisierten Form erfahren hat.


    Harnoncourt weist auch darauf hin, dass wir eventuell durch das berühmte Menuett im „Don Giovanni“ verdorben sind – dieses hat sein Tempo ja daher, dass gleichzeitig (ein Geniestreich Mozarts) zwei andere Tänze erklingen, was Kompromisse erforderte. Er zeigt auch auf, dass der Tanz „Menuett“ schon zu Mozarts Zeit als Zitat für eine vergangene Zeit stand und dass durch das langsame Tempo das Gestelzte dieser Zeit ironisch hervorgehoben wurde.


    Dazu gibt es auch eine Anekdote, die Saint Simon über Ludwig XIV berichtet: Dieser habe die Gewohnheit gehabt, jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen zwölf Menuette zu tanzen. Als er im Alter dick und schwer geworden war, ordnete er an, die Menuette wesentlich langsamer zu spielen, was prompt Mode wurde und auch die Kompositionen beeinflusste.


    Ferner weist Harnoncourt nach, dass Menuett und Trio keineswegs immer im selben Tempo zu spielen sind.


    Beethoven schreibt also „Menuetto“ über den Satz, dazu „Allegro molto e vivace“, und als ob das nicht klar genug wäre, um diesen Satz von jeder Don-Giovanni-Menuett-Attitüde zu befreien, „punktierte Halbe = 112“. In den ersten acht Takten, welche wiederholt werden, trägt jede Note die Bezeichnung „Staccato“, ferner geht es im „Piano“ los, alleine mit den Streichern, am Ende des fünften Taktes beginnt ein „Crescendo“, das zum „Forte“ am Ende des siebten Taktes führt – dort unterstützen dann auch die Bläser.


    Danach wird wüst moduliert, bis Des-Dur (!) erreicht ist (Klemperer 1955-59/Karajan 1961-62/Bernstein 1977-79/Wand 1985-88 = 0:22/0:21/0:17/0:18'). Über b-moll und Ces-Dur (!!) geht es zurück nach Hause: In C-Dur erklingt das Thema mit vollem Orchester (0:34/0:33/0:28/0:28'), die Pauke spielt als einziges Orchesterinstrument Achtel, alle anderen spielen Viertel oder längere Notenwerte (die Pauke würde ich dann gerne in den Aufnahmen hören). Am Ende des „Menuetto“-Teils kostet Beethoven systematisch die möglichen Synkopen aus: Erst auf „2“ (0:44/0:44/0:37/0:38'), kurz danach auf „3“ (0:54/0:52/0:43/0:45).


    Waren es im Menuetto die Streicher, die allein begannen, so sind es nun die Bläser (ohne Flöten und Trompeten), deren Phrasen von dahinhuschenden Linien der beiden Violinen unterbrochen werden. Kann man das überhaupt Phrase nennen? Ein x-mal wiederholter Akkord – eher ist es eine Klangfläche, die erst nach und nach etwas Struktur erhält. Abschluss des Trios mit vollem Orchester und wiederum mit Synkopen.


    Ist dieses Menuett, welches eigentlich ein Scherzo ist, der modernste Satz der ganzen Sinfonie, der am meisten in die Zukunft weist, in Richtung spätere Scherzi? Einiges spricht dafür.

  • Ich meine, dass das Finale der konventionellste Satz der ganzen Sinfonie ist.


    Bis auf die langsame Einleitung: Die finde ich sehr wohl außergewöhnlich. Obwohl das eröffende „G“ im Unisono erklingt, also keinen vollständigen G-Dur-Akkord mitbringt, ist die Wirkung die, dass man meint, dass es auf der Dominante losgeht. Quasi als Gegengewicht zum Kopfsatz, der ja in der Subdominante F-Dur begann.


    Nach dem Unisono-G spielen die ersten Violinen alleine weiter. Erst drei Töne der G-Dur-Tonleiter, dann vier, dann fünf, … erst beim siebten Ton merkt man, dass es die C-Dur-Tonleiter ist. Raffiniert ist auch der Einsatz der Dynamik. Aber kaum ein Dirigent bringt diesen Witz, diese Irreführung des Hörers richtig rüber. Ich höre nur bei Bernstein und Krivine, wie man aufs Glatteis geführt wird. Dabei ist das mit einfachen Mitteln genial komponiert - man muss doch nur die Täuschung erkennen und vorführen, oder?


    Den Rest vom Finale finde ich konventionell. So eine Aussage wie die folgende ist immer falsch, zumindest angreifbar, aber sei‘s drum: das hätte auch Haydn so schreiben können. Es hat Witz, es hat Esprit, es hat diesen Kehraus-Charakter, den man oft bei Haydn hört. Es ist weit weg vom Verlegenheits-Variationen-Finale der Eroica (das ich nach den ersten drei Sätzen nie befriedigend finde), weit weg vom „ad astra“-Finale der Fünften, weit vom Dankchoral am Schluss der Pastorale, weit weg von der Raserei des Finales der Siebten.


    Das Finale der ersten Sinfonie ist im besten Sinne rückwärts gewandt. Ein klassischer Satz in Sonatenhauptsatzform mit zwei Themen, Durchführung, Reprise und Coda. Das erste Thema bringt mit seiner aufsteigenden Tonleiter und dem neckischen Doppelschlag gleich den richtigen Drive in die Sache. Gewürzt ist der Satz mit ein paar Synkopen. Die Tutti-Stellen sind gut kalkuliert platziert, eine Fermate kurz vor Schluss trägt nochmal zur Spannung bei. Ist es das … oder war da noch mehr?

  • Zitat

    das hätte auch Haydn so schreiben können


    Werter Wolfram,


    hat er aber nicht ;)


    aber zunächst möchte ich mich für den Hinweis auf Op.18/4 bedanken. Es hat mir sehr viel Vergnügen bereitet, dem nachzuforschen, was hier geschrieben wurde. Und es stimmt, die Ähnlichkeit ist verblüffend.


    Die Schwierugkeit einen adäquaten Schlusssatz zu komponieren ergibt sich aus der Fülle und "Pracht" in den Sätzen zuvor. Hier wird das "Ringen um die Musik" bei Beethoven einen Kulminationspunkt erreicht haben...


    Nochmals vielen Dank Wolfram für deine Beschreibungen.


    Toll wäre so etwas auch für die anderen Symphonien. 8o


    Viele Grüße Thomas

  • Ich meine, dass das Finale der konventionellste Satz der ganzen Sinfonie ist.
    ...


    Den Rest vom Finale finde ich konventionell. So eine Aussage wie die folgende ist immer falsch, zumindest angreifbar, aber sei‘s drum: das hätte auch Haydn so schreiben können.


    Den unerschöpflich abwechslungsreichen Haydn als Beleg für "Konvention" anzuführen, ist fast immer eine schlechte Strategie... ;)
    (Insofern könnte man vielleicht eher sagen, dass ungeachtet der Einleitung das Finale konventioneller ist als zB die der letzten 3 Haydn-Sinfonien.)
    Die Einleitung ist ein Haydnscher Gag, den dieser allerdings so nie gebracht hat. (Eine Art Einleitung mit rezitativartigen Soli gibt es in seiner Sinfonia Concertante.) Die Thematik des Beethoven-Finales ist konventionell. Aber das sind eigentlich fast alle Themen in dieser Sinfonie...


    Unbeschadet all der schönen Details, die in diesem thread aufgezählt wurden, ist die gesamte Sinfonie m.E. klar "konventioneller" als Beethovens Trios op.1 oder als die Pathetique-Sonate oder als das Quartett op.18/6 und sicher noch eine ganze Reihe vor der Sinfonie komponierter Werke. Das heißt ja nicht, dass sie nicht vielleicht doch ein "besseres", weil geschlosseneres, durchdachteres usw. Werk als einige von diesen wäre.


    Man ist sich wohl einig, dass der "Beethovenschste" Satz das Menuetto/Scherzo ist, weil der, mehr noch als das der 2., dem später als "typisch" empfundenen Beethoven-Scherzo entspricht. Wie schonmal angesprochen, findet man in den zeitgenössischen Reaktion allerdings kaum Stimmen, die sich speziell über diesem Satz gewundert hätten. (Und es gab ja in Kammermusik u.a. schon vorher schnelle Scherzi statt Menuetten.)


    Zitat


    Es hat Witz, es hat Esprit, es hat diesen Kehraus-Charakter, den man oft bei Haydn hört. Es ist weit weg vom Verlegenheits-Variationen-Finale der Eroica (das ich nach den ersten drei Sätzen nie befriedigend finde), weit weg vom „ad astra“-Finale der Fünften, weit vom Dankchoral am Schluss der Pastorale, weit weg von der Raserei des Finales der Siebten.


    Da die ersten Sätze der Sinfonie ja (mindestens?) ebensoweit von den entsprechenden der Eroica, Pastorale usw. entfernt sind, spricht das doch erstmal nur für die Angemessenheit des Finales, oder? Es gab keine Aspera und kein Gewitter usw. zu überwinden, keinen Helden zu feiern oder was auch immer. Und die Rasanz ist mit dem der 4. oder 7., bei insgesamt geringeren Dimensionen vergleichbar. (An Länge und Gewicht fraglos passender zum Kopfsatz als in der Eroica, wobei ich das Prometheus-Finale dennoch liebe und eventuelle Kritik höchstens sehr abstrakt-theoretisch verstehen kann. Was immer es mit dem Prometheus-Programm auf sich haben mag, ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass jemand wie Beethoven bei einem Werk wie der Eroica sich mit einer Verlegenheitslösung zufrieden gegeben haben sollte.)
    Was, wie oben schon angedeutet, auffällt, ist die außergewöhnlich lange und klanglich massive Coda, die zudem ein neues "Marschmotiv" einführt, eigentlich zu wuchtig für den Satz, gerade weil er sonst konventionell strukturiert ist und nicht (wie oft beim späten Haydn) von vornherein viel freier mit der Sonatenform umgeht.
    M.E. passt die "Konventionalität" sehr gut in den Rahmen der Sinfonie, die nirgends offensichtlich den klanglichen, emotionalen, formalen Rahmen sprengt, sondern dessen Grenzen so austestet, dass sowohl die Originalität des jungen Komponisten als auch sein Verankertsein in der "Tradition" (die man freilich kaum so nennen mag, Haydn lebte ja noch, seine letzten Sinfonien gerade mal etwa 5-7 Jahre vorher komponiert, Mozart noch keine 10 Jahre tot) deutlich werden.
    Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass Beethoven hier bewusst "äußerlich" konventioneller vorging als in einiger Klavier- und Kammermusik. Zumal die traditionelle Gewichtsverteilung zugunsten des Kopfsatzes nur bei der 5.,8. und 9, verlassen wird (die Pastorale ist ein Sonderfall, den man nicht so klar einordnen kann)

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