Gute, "bessere" - und "noch bessere" Aufnahmen ......

  • Meine Lieben,
    hier sind wir bei einem Kernthema dieses Forums, nein der gesamten Musikkritik angelangt:
    Wie definiere ich "besser" - wer ist hier der "oberste Richter", wie wird eine Aufnahme zur "Referenz" - und inwieweit ist hier ein Konsenz zu erzielen - und warum ?
    Viele Fragen in einer verpackt. Und in der Tat nicht befriedigend zu beantworten.
    Vielleicht macht aber gerade diese Unbeantwortbarkeit den Reiz dieser Frage aus.
    Man wird mir vorwerfen, einen "hypothetischen" Thread gestartet zu haben - aber ich glaube, daß "hypothetische Fragen" auch ihre Berechtigung haben, können sie doch durchaus interessante Antworten hervorbringen, die man ursprünglich gar nicht erwartet hat.
    Selbstverständlich ist die Frage nach der "besten" Aufnahme - zb. einer Beethoven Sinfonie, einer Schubert Klaviersonate, oder der Brandenburgischen Konzerte von Bach stets einer der Kernpunkte dieses Forums - wenngleich nicht befriedigend zu beantworten. Denn wir müssen uns, wenn wir Aufnahmen der Vergangenheit bewerten, stets die Frage stellen, wie denn unsere Vorfahren die Aufnahmen der Gegenwart beurteilt hätten.
    Generationen haben seit - man kann sagen Jahrhunderten - den Klavier- und Orchesterklang modernisiert und verbessert, sei es durch modernere Instrumente (nicht nur im Klavierbau) - eine allgemeine Tendenz - und wären vermutlich bass erstaunt, wenn sie sähen mit welcher Begeisterung man partiell zu alten Instrumenten und alten Spieltechniken zurückkehrte.
    Aber dieser Thread ist kein HIP versus MODERN -Thema, es sollen vielmehr Richtlinien gesucht werden, welche den "zeitlosen" Wert von Tonaufnahmen garantieren. Warum wird beispielsweise an Karajan (aber auch Karl Richter, Karl Böhm, und anderen) Kritik geübt, die zu Lebzeiten schlicht und einfach als das Maß aller Dinge in ihrem Fach gesehen wurden ?
    Warum werden heute Aufnahmen favorisiert, welche das "grelle" so betonen, an stelle des Schönen und erhabenen?
    Ich meine, es ist eine Erscheinung der Zeit, ebenso wie man derzeit freche, unerzogene Kinder akzeptiert und als "authentisch" bezeichnet - während man sie in der Vergangenheit zu Idealbildern geformt hat, vielleicht ein wenig weniger ungestüm, dafür aber weniger unangenehm.
    Und hier suche ich wieder den Bogen zur Musik. Haben die "alten" Dirigenten die heute so beliebten Brüche in Partituren nicht gesehen, oder nicht sehen wollen ?
    Ich meine (und von einigen Fällen weiss ich es definitiv ) sie haben sie schon gesehen, aber als Kompositionsmängel eingestuft - und - ohne das Notenbild zu verändern - so geglättet, daß man es dem P.T. Publikum auch zumuten konnte.


    Aber all das sind nur gedankliche Streiflichter zum eigentlichen Thema, das ihr gestalten sollt -wie es Euch gefällt.


    mit freundlichen GRüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    die Entscheidung über gut und besser entscheidet der eigene Geschmack. Denn nicht umsonst empfehle ich, sich jede Aufnahme vor dem Kauf anzuhören.



    :hello: LT

  • Warum werden heute Aufnahmen favorisiert, welche das "grelle" so betonen, an stelle des Schönen und erhabenen?
    Ich meine, es ist eine Erscheinung der Zeit, ebenso wie man derzeit freche, unerzogene Kinder akzeptiert und als "authentisch" bezeichnet - während man sie in der Vergangenheit zu Idealbildern geformt hat, vielleicht ein wenig weniger ungestüm, dafür aber weniger unangenehm.


    Das ist ein interessanter Zusammenhang, über den man nicht so einfach hinweg gehen sollte. Er macht nämlich deutlich, wie sehr die Wahrnehmung von musikalischer Interpretation von weit mehr nur als dem persönlichen Geschmack des jeweiligen Hörers diktiert wird. Bei inhaltlich ähnlich gelagerten Fragestellungen hier im Forum habe ich den engen Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung und der Entwicklung eines 'zeitgeisttypischen', weite Teile (in diesem Falle die musikhörenden Teile) der Gesellschaft umfassenden musikalischen Geschmacks bereits dargestellt.


    Nur in aller Kürze: Ist es denn ein Wunder, dass das von Alfred so genannte 'Grelle' - man könnte auch die abgeschmackten Formulierungen von 'gegen den Strich gebürstet', 'aufgeraut' u.ä. verwenden - besonders ab den 70er und allerspätestens ab den 80er Jahren solchen Zulauf hatte? Das hängt doch engstens mit den gesellschaftlichen Veränderungen in jener Zeit zusammen. Niemand wird bestreiten wollen, dass die Bundesrepublik des Jahres 1981 von den sie bestimmenden geistig-moralischen Parametern eine völlig andere war als die Bundesrepublik des Jahres 1961. Es sind Mentalitätswandel an den Menschen zu beschreiben, die sich natürlich in einem unaufhörlichen Prozess befinden, sich also permanent fortsetzen. In diesem Zusammenhang ist auch der von Alfred beschriebene Blick auf kindliche Verhaltensweisen von den gleichen Entwicklungen geprägt. Und die Entwicklung hieß nun einmal, plakativ formuliert: Weg vom Erhabenen (das stand und steht bisweilen im Ruch des historisch befleckten), hin zum Gebrochenen, zum Aufgebrochenen, zum Dekonstruierten, mit Blick auf die Kindeserziehung hieß das eben auch weg vom Zwang zur Konformität. Dass das leider von vielen Eltern, Erziehern und (ja, leider auch) Lehrern bis in die aktuellste Gegenwart missverstanden wird als ein "Lass-sie-doch-machen" oder "Das-Chaos-ist-so herrlich-kreativ" - gipfelnd letztlich in einem absurd überbetonten gemeinschaftsunverträglichen Individualismus - ist bedauerlicherweise die dunkle Kehrseite einer ansonsten zu begrüßenden Entwicklung.


    In der Musik haben sich diese gesellschaftlich motivierten Kämpfe bis heute immer in Gegensätzen wie "HIP versus 'Althergebracht'" oder "Regietheater versus Werktreue" und vergleichbaren Parolen abgespielt. Vielleicht sind wir hier aber schon am Rande einer neuen Phase, in der diese Gegensätze miteinander versöhnt werden und sich solche Fragestellungen nicht mehr dazu eignen werden um an ihnen festzumachen was die bessere Interpretation sei.


    Grüße,


    Garaguly

  • Sorry, aber das ist mir jetzt wirklich zu hohl...
    Freche Kinder gab es wohl zu allen Zeiten, nur wurde ihnen das früher eben rausgeprügelt, während man heute subtilere Methoden verwendet. Die Laissez-Faire-Idee in der Erziehung wurden nicht von den "68ern" erfunden, sondern spätestens in den 1920er Jahren ("Summerhill-Pädagogik") und ebenso scheint mir, dass evtl. Auswüchse, die diese Ansätze vorübergehend gehabt haben mögen, längst durch anderes ersetzt worden sind.


    Hier aber einen Zusammenhang mit der Musik oder mit Interpretations- oder Rezeptionshaltungen herzustellen, ist m.E. ziemlich absurd. Das einzige, was man vielleicht sagen könnte, ist dass kritikloses Bewundern von Autoritäten oder "Päpsten" mehr denn je zweifelhaft erscheint (das schien es aber schon bei Luther, Voltaire, Kant usw., selbst wenn es natürlich immer mal wieder Rückschläge gegeben haben mag). (Und natürlich ist, teuflische Dialektik, keine zunächst reformatorische Bewegung davor gefeit, ihrerseits kritiklos "Päpsten" anzuhängen.)


    Warum sollte in einer Kunst, die nicht im Museum hängt, sondern immer neu "hergestellt", wenn auch "nur" reproduziert werden muss, wie der Musik, irgend etwas "zeitlos" und "am besten" sein? Und warum sollte diese Zeitlosigkeit in besonderem Maße auf eine bestimmte Richtung von bei großen Labeln verorteten "Mainstream"-Interpretationen der 1960er Jahre zutreffen?


    Wage zu hören, habe den Mut, dich deines eigenen Gehör (und Gehirns) zu bedienen! Werbetexter sind Werbetexter, die alle paar Jahre eine neue Aufnahme als "ewige Referenz" und "perfect sound forever" proklamieren müssen, und auch die meisten "Kritikerpäpste" kochen nur mit Wasser.


    Und "erhaben" bedeutet etwas anderes als Reichsparteitagsbombast oder wunschkonzertkompatible, bequem konsumierbare "Klassiker". Erhabenheit als ästhetische Empfindung verspürt man angesichts des gestirnten Himmels oder des Matterhorns oder auch eines Sturms (sofern man sich im sicheren Hafen befindet). Es ist die Empfindung angesichts des "Unendlichen", Inkommensurablen, also eines unüberschaubar weiten oder mächtigen (und damit auch potentiell vernichtenden) Phänomens.


    "Denn das Schöne ist nichts
    als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
    und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
    uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich."


    Rilke (aus der ersten Duineser Elegie)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • HIP ist nicht neu.
    HIP ist ein alter Hut.
    Angeblich soll HIP den Klang der Musik darstellen,den Bach und Händel gehört haben.
    Mithin gab es HIP schon vor 250 Jahren.
    Wenn man das als wahr unterstellt,so hat sich seit Bach und Händel der Klang verändert.
    Dazwischen liegen rund 250 Jahre.
    Schon vor 50 Jahren hat Karl Richter den Klang erneuert.Heute wird er als altmodisch angesehen.
    In den folgenden Jahren wandelte sich der HIP-Klang zu dem,was er heute ist.
    Was in den 200 Jahren zwischen Bach und Richter klanglich passierte,liegt größtenteils im dunklen der Musikgeschichte.
    Erst die Tonaufzeichnung des 20. Jahrhunderts ermöglicht uns,Klangveränderungen,die dem Zeitgeschmack unterliegen,nachvollziehen zu können.So haben wir aber nur wenige Jahrzehnte zum Vergleich.


    In den letzten 60 Jahren konnte man in der POP-Musik erleben,das sich das Tempo der Musik erheblich veränderte.Es wurde schneller.
    Dasselbe passierte in der E-Musik.Schnelligkeit war angesagt,jeder übertrumpfte den anderen.
    Von der Langsamkeit Klemperers zur Schnelligkeit Goebels.
    Heute sucht man den Mittelweg.
    Die Tonaufzeichnung der letzten Jahrzehnte läßt uns die Wahl zwischen den unterschiedlichen Interpretationen.
    Im Live-Konzert sind wir jedoch auf den Zeitgeschmack angewiesen.


    In meiner CD-Sammlung und auf meiner Festplatte sind viele unterschiedliche Interpretationen vorhanden.
    Ich will dabei nicht von gut,besser und noch besser sprechen.
    Jede Aufnahme hat ihren Reiz.
    Händels Messias mit Scherchen,Klemperer höre ich genauso gerne wie mit Gardiner,Christie oder Chailly.
    Ich liebe die Abwechslung und ich muß nicht immer und immer wieder die Aufnahme hören,die mich seit Kindheitstagen oder gar im Mutterleib geprägt hat.
    Auch liegt es mir fern,Richter,Karajan oder Thielemann zu kritisieren.Das mag den ewigen Nörglern und mit sich selbst Unzufriedenen vorbehalten bleiben.Den Wichtigtuern,die gern aus einer Mücke einen Elephanten machen,die sich immer im Recht meinen und immer das letzte Wort haben wollen.
    Mir soll Musik Freude machen,ich will mich damit nicht rumärgern.
    Deshalb lasse ich Kritiker kritisieren,kümmere mich aber nicht darum,weil mein eigener Geschmack mein Maßstab ist.

    mfG
    Michael

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  • Sorry, aber das ist mir jetzt wirklich zu hohl...
    Freche Kinder gab es wohl zu allen Zeiten, nur wurde ihnen das früher eben rausgeprügelt, während man heute subtilere Methoden verwendet. Die Laissez-Faire-Idee in der Erziehung wurden nicht von den "68ern" erfunden, sondern spätestens in den 1920er Jahren ("Summerhill-Pädagogik") und ebenso scheint mir, dass evtl. Auswüchse, die diese Ansätze vorübergehend gehabt haben mögen, längst durch anderes ersetzt worden sind.


    Hier aber einen Zusammenhang mit der Musik oder mit Interpretations- oder Rezeptionshaltungen herzustellen, ist m.E. ziemlich absurd.


    Das einzige, was man zu dieser Reaktion, lieber Johannes, sagen kann, ist, dass in ihr die Unredlichkeit von mangelnder Höflichkeit und allerbilligstem Totschlagsargument eine reichlich abgeschmackte Melange eingehen.


    Schade.


    Grüße,


    Garaguly

  • Warum wird beispielsweise an Karajan (aber auch Karl Richter, Karl Böhm, und anderen) Kritik geübt, die zu Lebzeiten schlicht und einfach als das Maß aller Dinge in ihrem Fach gesehen wurden ?


    Nun, lieber Alfred, es geht auch immer um einen gewissen Stand der Erkenntnis, den ein Karajan und ein Böhm vielleicht nicht hatten - oder auch nicht haben wollten. Seit den 1960ern gab es Erkenntnisse der historisch-informierten Aufführungspraxis, die schlicht und einfach von gewissen Kreisen nicht zur Kenntnis genommen wurden.


    In jeder anderen Wissenschaft würde man sich lächerlich machen, würde man aktuelle Erkenntnisse, die die eigenen Arbeiten und Hypothesen falsifizieren, nicht zur Kenntnis nehmen. Aber Karajan und Böhm hatten irgendwie den Status von Halbgöttern und konnten trotz ihrer Ignoranz überleben, besseren Wissens zum Trotz.


    Warum werden heute Aufnahmen favorisiert, welche das "grelle" so betonen, an stelle des Schönen und erhabenen?


    Weil wir erkannt haben, dass die Komponisten das "Grelle" einkomponiert haben und von der zeitgenössischen Kritik dafür gehörig abgewatscht wurden. Weil wir erkannt haben, dass es Beethoven und Wagner und Mahler und Schönberg und anderen nicht um das "Schöne" und "Erhabene" an und für sich ging, sondern um Wahrheit. Und wir sind denjenigen Dirigenten dankbar, die diese Wahrheit von ihren Musikern aussprechen lassen.


    Ich kündige einen Thread zu Beethovens 1. Sinfonie an, in der ich das dumme Gerede vom "Frühwerk", von der "Haydn-Nachfolge", vom "noch nicht Eroica" Lügen strafen möchte. Beethoven war schon in seiner ersten Sinfonie revolutionär.


    Wer diese Musik ästhetisiert, ihre Kanten abrundet, ihre Kontraste einebnet, der ist natürlich frei, dies zu tun - aber er hat die Beweislast gegen sich. Nicht HIP hat sich zu rechtfertigen für das Herausarbeiten des "Grellen", wie Alfred es nennt, sondern die Schönfärber haben sich zu rechtfertigen für ihre Leugnung des Radikalen.

  • Zitat

    Weil wir erkannt haben, dass die Komponisten das "Grelle" einkomponiert haben und von der zeitgenössischen Kritik dafür gehörig abgewatscht wurden. Weil wir erkannt haben, dass es Beethoven und Wagner und Mahler und Schönberg und anderen nicht um das "Schöne" und "Erhabene" an und für sich ging, sondern um Wahrheit. Und wir sind denjenigen Dirigenten dankbar, die diese Wahrheit von ihren Musikern aussprechen lassen.


    Ich kündige einen Thread zu Beethovens 1. Sinfonie an, in der ich das dumme Gerede vom "Frühwerk", von der "Haydn-Nachfolge", vom "noch nicht Eroica" Lügen strafen möchte. Beethoven war schon in seiner ersten Sinfonie revolutionär.


    Wer diese Musik ästhetisiert, ihre Kanten abrundet, ihre Kontraste einebnet, der ist natürlich frei, dies zu tun - aber er hat die Beweislast gegen sich. Nicht HIP hat sich zu rechtfertigen für das Herausarbeiten des "Grellen", wie Alfred es nennt, sondern die Schönfärber haben sich zu rechtfertigen für ihre Leugnung des Radikalen.


    Danke schön Wolfram. Du sprichst mir aus dem Herzen.


    Vielleicht sollten wir das dem Thema mal von der anderen Seite beleuchten.


    Wann ist denn eine Interpretation wirklich schlecht?


    1. Wenn sich Ausführende überfordern.


    2. Wenn ein Werk als Pflichtporgramm heruntergespielt wird.


    3. Wenn Passagen weggelassen oder so seltsam "verhuscht" gespielt werden.


    Vielleicht fallen euch ja noch mehr Punkte ein....


    Viel Grüße Thomas

  • ich ergänze mal:


    4. Wenn Dirigenten sich mit ihren Ensembles zu Akzentveränderungen bzw. -verschiebungen in Kompositionen hinreißen lassen und uns so suggerieren wollen, wie neu und anders diese Werke sind (z.B. der Harnoncourt der letzten Jahre, Thielemann)



    :hello: LT

  • Mein lieber Liebestraum,


    wenn Du sagst, Harnoncourt wolle Werke "neu" erscheinen lassen, sagst Du vielleicht mehr über Deine Kenntnis von Harnoncourts Schriften aus als über Harnoncourts Interpretationen.


    Wenn ich es richtig gelesen und verstanden habe, dann wollte Harnoncourt die Stücke so darstellen, wie sie gemeint waren. Leider sind wir alle als nach-Wagnerianer verdorben - es gibt ja keine durchgehende Aufführungspraxis von Beethovens Sinfonien von 1800 bis heute.


    Da kam Wagner dazwischen mit seinem permanenten Portamento-Spiel, dem Dauerlegato, das dem deutlich artikuliertem, rhetorischen Vortrag, der bis dahin (alle Schriften zufolge!) vorherrschte, ein Ende machte.


    Klar sind in Harnoncourts Interpretationen auf einmal Akzente zu hören, die vorher nicht zu hören waren, gleichwohl aber einkomponiert sind. Das kann man mögen oder nicht - ich glaube, Du magst es meistens nicht? - aber nicht Harnoncourt muss sich rechtfertigen, sondern die, die bis dahin diese Akzente glattgebügelt haben.

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  • Lieber Wolfram,


    nun hat sich ja schon herumgesprochen, dass es eine tiefe Kluft zwischen dem gibt, was Harnoncourt theoretisch meint und praktisch umsetzt. In vielem kann ich dem folgen, was der Altforianer Ulli über Harnoncourt gesagt hat. Vom ursprünglichen Harnoncourt ist wenig übrig geblieben.


    Der 2006er "Figaro" war ein negativer Höhepunkt seiner Interpretationskunst: Tempoverschleppungen, Akzentverschiebungen...


    Ich kaufe jedenfalls nichts mehr Neues von dem jetzigen nur noch Selbstdarsteller Harnoncourt, der sich nicht nur bei Mozart als das Maß aller Dinge herausputzt und anderen somit Falschinterpretationen unterstellt.


    Ich weiß, das sind harte Worte über einen Dirigenten, der mal ein ganz Großer war.



    :hello: LT

  • Zitat

    Nun, lieber Alfred, es geht auch immer um einen gewissen Stand der Erkenntnis, den ein Karajan und ein Böhm vielleicht nicht hatten - oder auch nicht haben wollten. Seit den 1960ern gab es Erkenntnisse der historisch-informierten Aufführungspraxis, die schlicht und einfach von gewissen Kreisen nicht zur Kenntnis genommen wurden.


    Ich bin ziemlich sicher, daß sie ziemlich gut informiert waren - aber meinten, daß man gewisse "Brüche" und "Schwachstellen" in der Komposition dem Publikum nicht zumuten konnte. Ich erinnere mich dunkel einst ein diesbezügliches Interview (mit Karajan ???) gelesen zu haben. Aber es war nicht das einzige. Immer wieder beklagten sich Dirigenten (und auch Pianisten) über Stellen, die einfach die Harmonie der jeweiligen Komposition störten. Derlei wurde dann - nach Geschmack des Interpreten - denn so sah man seine Aufgabe - ohne Veränderung des Notentextes - für die Hörerschaft aufbereitet.
    Diese Tendenz entprach durchaus der Zeit, wo man unangenhme Wahrhieten durch Korrekturen der Geschichte elegant umschiffte und eine heile Welt erzeugte.



    Zitat

    In jeder anderen Wissenschaft würde man sich lächerlich machen, würde man aktuelle Erkenntnisse, die die eigenen Arbeiten und Hypothesen falsifizieren, nicht zur Kenntnis nehmen. Aber Karajan und Böhm hatten irgendwie den Status von Halbgöttern und konnten trotz ihrer Ignoranz überleben, besseren Wissens zum Trotz

    .


    Es ist eben keine Wisccenschaft, sondern Kunst. Im Prinzip machten sie (in abgeschwächter Form) das, was heute das Regietheater dem Publikum antut - nur mit dem Unterschied, daß immer Lösungen angestrebt wurden, die der Komposition und dem Ohr des Hörers schmeichelten. Und wer das tut wird schnell und gern als Halbgott verehrt.



    Zitat

    Zitat von »Alfred_Schmidt« Warum werden heute Aufnahmen favorisiert, welche das "grelle" so betonen, an stelle des Schönen und erhabenen?


    Weil wir erkannt haben, dass die Komponisten das "Grelle" einkomponiert haben und von der zeitgenössischen Kritik dafür gehörig abgewatscht wurden. Weil wir erkannt haben, dass es Beethoven und Wagner und Mahler und Schönberg und anderen nicht um das "Schöne" und "Erhabene" an und für sich ging, sondern um Wahrheit. Und wir sind denjenigen Dirigenten dankbar, die diese Wahrheit von ihren Musikern aussprechen lassen.


    Ich weiß nicht wie viele damit einverstanden sein werden, daß Schönberg und Beethoven in einem Atemzug genannt werden -. aber seis drum. Klassische Musik hat sich (so meine ich wenigstens) nicht in den Salons und aristokratischen, bzw später bürgerlichen Konzert- und Opernhäusern etabliert - weil hier "Wahrheiten" verkündet wurden, sondern weil hier ein gewisser Unterhaltungs - Status - und Bildungsanspruch befriedigt wurde.


    Aber wir kommen vom Thema ab .


    "Gute" und "schlechte" Interpreten gibt es in der Liga von der wir sprechen eigentlich nicht.
    Lediglich solche unterschiedlicher Auffassung.


    Man hat Interpreten bejubelt, die ein Werk gegen den Strich gebürstet haben.
    Ich müsste Glenn Gould, so gesehen zu den schlechten Interpreten zählen (womit ich vermutlich auch Recht habe) -
    aber da kämen von einigen Seiten Proteste.....


    Man hat Interpreten "absolute Werktreue" und "Uneitelkeit" attestiert, während anderes sie zu "akademischen Langweilern" stempelten....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Immer wieder beklagten sich Dirigenten (und auch Pianisten) über Stellen, die einfach die Harmonie der jeweiligen Komposition störten. Derlei wurde dann - nach Geschmack des Interpreten - denn so sah man seine Aufgabe - ohne Veränderung des Notentextes - für die Hörerschaft aufbereitet.
    Diese Tendenz entprach durchaus der Zeit, wo man unangenhme Wahrhieten durch Korrekturen der Geschichte elegant umschiffte und eine heile Welt erzeugte.


    Wenn ich diese Zeilen als Eingeständnis lese, dass diese "Aufbereitung" der Werke am Willen der Komponisten vorbeiging, dann stimme ich sofort zu.


    Wer sagt denn, dass Beethoven, Wagner, Mahler, Schönberg eine "harmonische" Komposition schaffen wollten? Das hätten sie einfacher haben können ... Wer ein "harmonisches Werk" schaffen will, komponiert weder Beethovens 5. noch Wagners Götterdämmerung oder Tristan noch Mahlers 6. noch Schönbergs "Überlebender von Warschau".


  • Das einzige, was man zu dieser Reaktion, lieber Johannes, sagen kann, ist, dass in ihr die Unredlichkeit von mangelnder Höflichkeit und allerbilligstem Totschlagsargument eine reichlich abgeschmackte Melange eingehen.


    Was bitte habe ich "unredliches" gesagt oder getan?


    Die Ausgangsthese von Alfred ist erstmal falsch, weil er nur eine winzige Teilmenge der dokumentierten Musikinterpretationen der 1930er bis 1970er berücksichtigt. Nämlich die Flaggschiffe der DG, die bei seinen Bekannten in Wien als "Päpste" galten. Ich maße mir an, zu beinahe jedem Stück des Standardrepertoires eine "extremere", d.h. expressivere, Kontraste und "Brüche" auslotende, hochgradig emotionale Interpretation vor 1965 als nachher zu nennen. (Beispiele: Schnabels Beethoven und Schubert, Scherchens Beethoven, Bach und teils Haydn, Don Giovanni unter Walter an der Met, ca. 1942, oder Mitropoulos/Salzburg, alles mögliche dirigiert von Furtwängler, Mengelberg, Golovanov usw.)
    Was er behauptet, trifft ja nichtmal auf Karajan zu. Auf Richter mit seiner eigentümlichen Kombination von "Proto-HIP" und romantischer Inbrunst noch weniger.


    Es ist schließlich ebenfalls nicht wahr, dass "das "Grelle" usw. heute musikalischen Interpretationen dominieren würde. Es gibt anch wie vor massenweise klangschöne oder auch nichtssagend glatte Interpretationen. Abgesehen davon ist das eine derart plumpe Schubladisierung, die ohne sehr konkrete Beispiele überhaupt nichts bringt, weil völlig unklar ist, was das musikalisch heißen soll.


    Es ist also erst einmal mit Recht zu bezweifeln, ob das behauptete Phänomen überhaupt statthat.
    Und selbst wenn, gäbe es natürlich eine ganze Reihe alternativer Erklärungen. Z.B. ein bei Standardwerken hoffnungslos übersättigter Markt, der exzentrische Interpretationen erzwingt, um überhaupt irgendwie aufzufallen. Oder "trendsetting" einzelner einflussreicher Interpreten (man vgl. Haydns 104 unter Harnoncourt und Fey) u.v.a.


    Was Alfred, der gefühlt zum hundertsten Mal diese Behauptung der "modernen" Bevorzugung des "Grellen" aufstellt, nach wie vor schuldig bleibt, sind signifikante Beispiele. Da diese Haltung dominieren soll, kann das so schwer ja nicht sein.


    Weiter ist ein etwaiger Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen "Umbrüchen" (hier wird der Umbruch nach 1945 trotz Verdrängung und alter Nazis allenthalben wohl auch nicht völlig vernachlässigbar sein und nicht wenige Interpreten, die das schon miterlebten, geprägt haben) und Musikmachen und -rezeption natürlich nicht ausgeschlossen, aber erstmal recht weit hergeholt. Zumal in einer solchen Stammtischversion. Da muss man schon ein wenig konkreter werden, um solch eine These zu stützen. Fast alle bestimmenden HIP-Vertreter waren lange vor 1968 musikalisch sozialisiert. Denn die sind ja vermutlich mit den angeblichen Anwälten des "Grellen", Chaotischen gemeint.


    Ein Gegenbeispiel widerlegt keine Tendenz, aber dennoch: Es ist bekannt, dass Abbado und Pollini in den 1960ern und 1970ern politisch ziemlich weit links standen (Nono-Uraufführungen, Arbeiterkonzerte usw.). Würde irgendjemand diese beiden Musiker als Beispiele für "revoluzzerhafte" Bürgerschreckinterpretationen bei Brahms oder Beethoven nennen? Abgesehen davon ist der Künstler als Bürgerschreck, ganz unabhängig von der politischen Haltung ein Klischee seit mindestens 150 Jahren.


    Wie gesagt, bestreite ich erstmal das Phänomen und dann halte ich die Erklärung für wenig plausibel.

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)