Musikalische Kunstwerke - künstlerische Freiheit - Bewertung - Relativität

  • Ein wirklich ungeordneter Titel - aber mir ist beim besten Willen keiner eingefallen, der genauer beschreiben könnte worum es hier überhaupt geht....
    Zunächst müssten wir uns einigen, was denn die Kennzeichen eines musikalischen Kunstwerks sind -
    ich behaupte - daß wir schon an dieser Frage scheitern werden.
    Welche Wirkung soll ein Kunstwerk auf den Hörer haben ?
    Und welche entsprechen den beiden weiter oben definierten Anforderungen ?
    Welche Wichtigkeit wurde - bzw wird dem Künstler (Komponisten) zugestanden ?
    Wie sieht sich der Künstler selbst.
    Ist künstlerische Freiheit ein "Naturrecht" ?
    Wer hat diesen Begriff erstmals eingeführt - und aus welchem Grund ?
    Wie weit darf sie überhaupt gehen ?
    Wer bestimmt, was Kunst ist - und was nicht.
    Welcher Zeit - bzw Ortsrahmen bestimmt Verdikte über ein Kunstwerk.


    All diese Fragen- und es sind beileibe nicht alle - habe ich Euch zu einem Paket in diesem Thread geschnürt, welches nur darauf wartet aufgewickelt zu werden. Aber: Vorsicht - nur allzuleicht bleibt man an Fallstricken hängen.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Fünf Tage ist sie nun schon alt, diese Threaderöffnung, und keiner lässt sich drauf ein. Mich macht dieses "keine Antwort" in der Threadübersicht immer nervös, weil ich denke, dass derjenige, der da Fragen aufwirft, auch eine Antwort verdient hat. Dabei unterstelle ich natürlich - ob zu Recht? - dass diese Fragen auch wirkliche sind, - und nicht nur rhetorische.


    Warum hat sich bislang keiner auf den Thread eingelassen? Weil die Fragen, die da aufgeworfen werden, nahezu alle unbeantwortbar sind, - jedenfalls für unsereinen, der weder Musik-Philosoph noch Musikwissenschaftler ist. Das fängt schon mit der zentralen Frage nach dem Wesen eines musikalischen Kunstwerkes an. Dass Mahlers Neunte Sinfonie - die jetzt gerade im Parallelthread im Gespräch ist - ein musikalisches Kunstwerk ist, steht außer Zweifel. Ein Blick in die Partitur macht das jedermann deutlich: Das "Kunsthafte" wäre hier durch die ungeheure Komplexität der musikalischen Faktur sozusagen mit Augen und Ohren "greifbar". Würde man etwas konkreter, könnte man die "Kunsthaftigkeit" an der Art erkennen, wie Mahler mit den Themen etwa des ersten Satzes umgeht, die er zwar aufeinanderprallen lässt, aber dennoch in der klassischen Manier der Sinfonik "verarbeitet". Hier ist viel "Kunst" im Sinne von "handwerklicher Kompositionskunst" zu erkennen.


    Da hätte man also schon einmal ein konstitutives Element für die Frage: Was macht ein Stück Musik zu einem "musikalischen Kunstwerk". Denn dieses - in der Partitur fassbare - Element der "handwerklichen Kompositionskunst" gilt ja auch etwa für ein Werk von Bach, Mozart, Beethoven und all der anderen Schöpfer großer Musik. Aber heikel wird´s wenn man mal einen Blick auf die "einfachen Formen" wirft. Keine(r) von uns dürfte Zweifel anmelden, wenn ich sage: Das "Wiegenlied" von Brahms ist ein musikalisches Kunsterk. Das Lied "Hänschen klein ging allein..." ist es nicht, auch wenn es mit ordentlicher Klavierbegleitung von einem guten Sänger vorgetragen wird. Wieso aber eigentlich?


    Der Thread fragt nach dem "Künstler", der ein musikalisches Kunstwerk schafft , und nach dessen "künstlerischer Freiheit". Diesen "Künstler" gibt es aber erst seit der Romantik , - wenn man einmal vom Selbstverständnis ausgeht, das der Komponist seiner Tätigkeit zugrundelegt. Der erste, der - ,mit einem gewissen Stolz - von sich sagte, dass er nur "zum Componieren auf die Welt gekommen" sei, war Franz Schubert. Selbst Beethovden, der schon ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein als Komponist besaß, wäre so weit nicht gegangen, stand er doch, wie das bis dahin der Regelfall war - "in Diensten" irgendeiner "Organisation" oder eines Hofes. Demgemäß wäre also die sog. "künstlerische Freiheit" eine Ausgeburt des romantischen Ideals, die Welt aus dem schöpferischen Potential der Kunst gleichsam in ihrem ursprünglichen Wesen neu zu erschließen, - wieder zu erschließen, nachdem sie dieses ihr ursprünliches Wesen verloren hat.


    Erst in einer Zeit, in der einer sagen kann "Die Welt muss potenziert werden", entsteht so etwas wie "der Künstler", nach dem dieser Thread fragt. Davor konnte ein Haydn von sich allenfalls sagen: "Ich war von der Welt abgesondert. Niemand konnte mich quälen und an mir irremachen, und so mußte ich original werden." Da ist zwar schon so etwas zu spüren wie künstlerisch-kompositorisches Selbstbewusstein, aber es ist eigentlich mehr eine autobiographische Feststellung, eine bestimmte Lebenssituation betreffend. Von dem Bekenntnis Schuberts ist Haydn noch weit entfernt.


    "Was sind die Kennzeichen eines musikalischen Kunstwerks?" wird gefragt, und gleich wird hinzugefügt: "ich behaupte - daß wir schon an dieser Frage scheitern werden." Das ist zwar richtig, aber kann man so einen Thread eröffnen? Man müsste sich - und daher Alfred Schmidts düstere Prognose - erst einmal auf die Frage einlassen, was überhaupt "Kunst" denn eigentlich sei, bevor man sich auf diese Spezialfrage einlassen kann. Von Kant über Hegel bis Martin Heidegger und Theodor W. Adorno könnte man da zwar jetzt eine Reihe von Definitionsversuchen vorlegen, aber das allein würde diesen Thread schon hoffnungslos überborden lassen. Den Namen Adorno dürfte ich - wie ich inzwischen erfahren musste - hierbei ja auch gar nicht in den Mund nehmen, obwohl er zur Frage nach dem Wesen der Kunst eine Menge Gescheites gesagt hat.


    Aus Spaß und Tollerei werfe ich einmal eine Frage in diesen Thread:


    Nach Martin Heidegger ist "Kunst das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seins" (er zeigt das an einem Bild von Bauernschuhen van Goghs). Mahlers Neunte Sinfonie ist ein muikalisches Kunstwerk. Welche "Wahrheit des Seins" ist da ins kompositorische Werk gesetzt? Der Musikwissenschaftler Eggebrecht behauptet, in Mahlers Sinfonien seien "musikalische Vokabeln mit bestimmter Bedeutung" zu finden. Welche sind das hier in der Neunten? Und was sagen sie aus?


    Es hat also ganz den Anschein: Dieser Thread ist eine "Falle". Sprach der Initiator nicht sogar von "Fallstricken"? Wer begibt sich denn freiwilig in solche?

  • Wer sich auf Glatteis begibt, darf sich nicht wundern, wenn er stürzt. Und das kann machmal sehr weh tun.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Falls Du damit mich meinst, lieber Bernward, - ich bin nicht gestürzt.


    Ich habe nur die Nase in diesen Thread gehängt und die Luft geschnuppert, die mich dabei umwehte.

  • Zitat

    Warum hat sich bislang keiner auf den Thread eingelassen?


    Nun derartige Phasen, wo jeder mit seinen eigenen Befindlichkeiten befasst ist und die eigentlichen Threads links liegenlässt gibt es in fast jedem Forum - und hat schon viele derartige Projekte zum Erliegen gebracht, wenn der Forenbetreiber letztlich "den Hut drauf gehaut hat"
    Aber natürlich gibt es Themen die eben niemanden interessieren - damit muß man leben. Ein Forum bietet eben Threads verschiedener Komplexitätsgrade an - und ich habe die Erfahrung gemacht, daß diejenigen Themen, wo eignetlich keine Musikkenntnisse erforderlich sind - am besten besucht sind.
    Der vorliegende befasst sich in der Tat mit lauter unbeantwortbaren Fagen. Oder besser gesagt ist die zu gebende Antwort oft eine unangenehme. So beispielsweise die Frage nach der Berechtigung "der Freiheit in der Kunst"


    Zitat

    Demgemäß wäre also die sog. "künstlerische Freiheit" eine Ausgeburt des romantischen Ideals,


    Hier ist schon eine (noch nicht bewiesene) Teilantwort auf eine wichtige Frage versucht worden - und ich bin sicher, viele würden lauthals protestieren, wenn sie wüssten wohin der Beweis der Richtigkeit dieser Behauptung in letzter Konsequenz führen könnte.....


    Aber auch der Rest der Themen, auch die Frage inwieweit Mahlers 9. Sinfonie "Kunst" ist (mein Kulturkunde-Lehrer für Buchhandelsaspiranten war da anderer Meinung)ist durchaus diskussionswürdig. Die Problematik besteht hier lediglich darin, daß jene, die Mahles Werke generell in Frage stellen kaum bereit sein würden, dies öffentlich zu bekennen. Und hier haben wir schon wieder einen weiteren Themenkreis hinzugefügt - ohne den alten - rhetorisch oder nicht - überhaupt erst begonnen haben aufzuarbeiten.
    Adorno darf hier bei Bedarf jederzeit zitiert werden - Ich mag ihn nur nicht . Aber das ist meine private Meinung - hat mit dem Forum nichts zu tun....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat Alfred Schmidt:


    "...wenn sie wüssten wohin der Beweis der Richtigkeit dieser Behauptung in letzter Konsequenz führen könnte....."


    Das wüsste ich jetzt aber auch mal gerne! Und das meine ich ganz ernst!

  • Zitat

    Das wüsste ich jetzt aber auch mal gerne! Und das meine ich ganz ernst!


    Aber gerne.


    In unserer Zeit wird gerne der Begriff "künstlerische Freiheit" in den Mund genommen, als wäre er ein unabänderliches Naturgesetzt, eines das immer schon bestanden habe, eines das immer bestehen wird. Herkunft und Legitimität dieses Begriffes werden nicht weiter hinterfragt, denn die künslterische Freiheit ist solch ein bequemer und wirksamer Schutzschild gegen jegliche Kritik, vor allem dann, wenn es sich um ungeliebte und unbequeme Kunst handelt, deren lebensnotwendige Subventionen in Gefahr sind. Alles was diese Kunst in Frage stellt wird als "Zensur" angeprangert etc etc...


    Wenn wir aber hinterfragen, wie lange es diesen Begriff der "Freiheit der Kunst" schon gibt, wer ihn postuliert hat - und vor allem WARUM - dann fühlt sich eine privilegierte Gruppe schon unterschwellig bedroht - und das noch dazu völlig zu recht.
    Bohren wir weiter, dann kommt eine weitere unangenehme Frage zum Vorschein - nämlich jene, ob denn diejenigen, die das Postulat von der "Freihit der Kunst" aufgestellt haben überhaupt dazu legitimiert waren, oder aber auch ob hier Eigeninteressen der Gruppe im Spiel waren.


    Blicken wir in die Vergangenheit, dann gab es wenig Freiheit in der Kunst. Zumeist wurde Gott oder der jeweilige Herrscher bzw eine politisch zurechtgebogene Sagenfigur künstlerisch dargestellt, im Auftrag des Herrschers - nach zumeist relativ strikten Vorgaben. Wichtig war der Auftraggeben - nicht der Künstler. Irgendwann hat dann der "Künstler" es soweit gebracht, daß er meint, auf Auftraggeber und Betrachter, bzw Hörer keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, es ginge lediglich um seine persönliche Selbstverwirklichung. Selbstverständlich habe die Gesllschaft - ob an Kunst interessiert oder nicht -für diese Selbstverwirklichung aufzukommen und zwar in einem Künstler angemessener Weise......


    Man stelle sich vor, die endgültige Antwort auf all diese Fragen wäre, daß es dieses Privileg der künstlerischen Freiheit gar nicht gäbe, es sei nur eine Chimäre, ein Trugbild welches man über ein Jahrhundert lang der staunenden Menge vor Augen geführt habe, bis man es für real hielt.


    Solche Fragen sind heiss. Die einen haben Angst davor, daß sie jemand anfasst, weil sie die Kunstwelt radikal zu ihren Ungunsten verändern könnten - die anderen haben Angst, sie anzufassen, weil sie sich davor fürchten, als rechtskonservativ abgestempelt zu werden (wobei in manchen Ländern das schon längst keine Waffe mehr ist...) -und deshalb bleit - zumindest noch für kurze Zeit - alles beim alten.....


    Ich bin ein wenig zu ausführlich geworden, deshalb in Kürze:


    Zitat

    Demgemäß wäre also die sog. "künstlerische Freiheit" eine Ausgeburt des romantischen Ideals,


    Man könnte das so interpretieren, daß es sich hier um einen Irrweg handelte ("Ausgeburt") oder aber zumindest um eine veraltete Grundhaltung ("Romantik") Somit wäre es möglich - ohne viel Federlesenes - den Begriff "Freiheit der Kunst" wieder zu egalisieren, an unsere Zeit anzupassen. Manch einer wird hier den Kopf schütteln und meinen, dies liesse sich nicht machen. Das Gegenteil ist der Fall. Allmählich wandert die Finanzierung der Kunst in private Hände zurück, was auf mittlere bis längere Sicht auch Auswirkungen auf die Grundrichtungen in der Kunst haben wird.....


    mit freundlichen Grüssen aus Wien


    Alfred Schmidt

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Aus Alfred Schmidts Beitrag zum Thema "Künstlerische Freiheit" spricht eine gehörige Portion Skepsis dieser gegenüber. Ich vermute, dass diese Skepsis auch ganz wesentlich motiviert ist durch das Phänomen des "Missbrauchs" der künstlerischen Freiheit, wie er in verschiedenen Erscheinungsformen im heutigen Kunstbetrieb zu beobachten ist und so manchen Ärger verursacht.


    Nun meine ich aber, dass Missbrauch eines Prinzips nicht gegen dessen Berchtigung in Anschlag gebracht werden darf. Ein Blick in die die Geschichte der Musik vom neunzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert macht deutlich: Die großen musikalischen Kunstwerke dieser Zeit sind durch eben diese künstlerische Freiheit hervorgebracht worden. Ohne diese gäbe es sie nicht.


    Die Feststellung von Alfred Schmidt: " Irgendwann hat dann der "Künstler" es soweit gebracht, daß er meint, auf Auftraggeber und Betrachter, bzw Hörer keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, es ginge lediglich um seine persönliche Selbstverwirklichung..."


    ... wird der Sache, um die es hier geht, nicht ganz gerecht. Es geht, wenn man den Sachverhalt historisch sieht, bei der "künstlerischen Freiheit" erst sekundär um die Befreiung des Künstlers vom "Auftraggeber". Primär geht es um die Emanzipation von der musikalischen Tradition und von den ihr inhärenten Normen und musikalischen Formprinzpien. Man kann das sehr schön einer bestimmten "Form" beobachten: Der Sonate.


    Das musikalische Schaffen Haydns, Mozarts und besonders Beethovens ist - unter anderem - als eine Auseinandersetzung mit dem Ordnungsschema der Sonate zu verstehen. Es geht dabei um das Spannungsverhältnis zwischen regulativen Formprinzipien und dem individuellen kompositorischen Ausdrucksbedürfnis. Und in diesem artikuliert sich bereits bei diesen Künstlern - allerdings bei Haydn und Mozart noch weniger als bei Beethoven - in Ansätzen das Phänomen, um das es hier geht: Die künstlerische Freiheit.


    Was im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts einsetzt, ist ein Prozess der Autonomisierung der Kunst in Einheit mit einer Subjektivierung des künstlerischen Ausdruckswillens.


    Im Bereich der Musik geht er einher mit der langsamen, aber durchaus konsequent verlaufenden Auflösung der aus dem achtzehnten Jahrhundert überkommenen Auffassungen von Ordnung und Tonalität. Einen Höhepunkt erreicht dieser Prozess im absoluten Subjektivismus des Wagnerschen Konzepts vom "Gesamtkunstwerk".


    Und damit ist eigentlich das Wesen der künstlerischen Freiheit in Ansätzen fassbar: Sie realisiert sich im Grunde in einer dialektischen Spannung zwischen subjektivem Ausdruckswillen und überkommenen Ordnungsschemata und Regelprinzipien.


    Ich wage die These: Nur so lange dieses dialektische Spannungsverhlätnis besteht, ist künstlerische Freiheit wirklich schöpferisch und bringt ein gültiges künstlerisches Werk hervor. Verabsolutiert sie sich, dann geht dieses schöpferische Potential verloren.


    Die Schlüssigkeit dieser These könnte man durchaus beweisen. Das erforderte aber einen eigenen Thread und sehr viel Mühe damit. Nur eine Andeutung: Schubert lebte kompositorisch von seinem ausgeprägten lyrisch-subjektiven Ausdruckswillen. Aber er stand noch stark unter den Anforderungen der Formprinzipien der Wiener Klassik, die sich in vielfältiger Weise in seinem musikalischen Werk nachweisen lassen. In einer bestimmten Phase seiner Entwicklung als Komponist fühlte er sich sogar verpflichtet, sich mit dem Kontrapunkt und der Fuge auseinanderzusetzen. Hier, an diesem Beispiel, wird genau dieses diaklektische Spannungsverhältnis deutlich, von dem ich in meiner These sprach.


    Und noch ein Beispiel: Robert Schumanns Größe als Komponist beruht, stärker auch als bei Schubert, auf diesem ganz und gar subjektiv geprägten Asdruckwillen. Seine bedeutendsten Lieder sind jene, bei denen er sich von Lyrik in seinem ganz subjektiven Empfinden angesprochen fühlt. Seine bedeutendsten Klavierwerke sind nicht seine Sonaten, sondern jene Werke, in denen er die klassische Sonatenform sprengt. Das fängt schon mit seinem Opus 1 an: Die Abegg-Variationen sind ganz und gar von Liebe und Leidenschaft inspiriert. Auch bei den anderen großen Klavierwerken, etwa bei der genialen C-Dur-Fantasie, überlässt sich Schumann ganz und gar seinem subjektiven Ausdruckwillen und ignoriert in jeglicher Hinsicht von der Sonatenform hergleitete Ordnungsprinzipien, etwa das Prinzip der geregelten "Verarbeitung" eines Themas. Dennoch aber setzt er sich mit der Form der Sonate und mit der Grundstruktur der klassischen Sinfonie auseinander.


    Das könnte man nahezu endlos hier in dieser Weise fortsetzen. Schon bei Muzio Clementi kann man ja solche "Auflösungserscheinungen" der klassischen Sonatenform feststellen. Das ist hier aber nicht zu leisten. Mir kam es darauf an, auf folgenden Sachverhalt hinzuweisen (wie ich ihn sehe):


    Künstlerische Freiheit ist die Quelle großer musikalischer Kunst. Erst in ihrer Verabsolutierung birgt sie die Gefahr des Verlusts ihres schöpferischen Potentials in sich.

  • Der Begriff künstlerischer Freiheit, verstanden als selbstbestimmte Ästhetik nach subjektiven Maßstäben, ist geschichtlich gesehen eine gewaltige Einengung.


    Wenn man in der Geschichte weit zurückgeht, in die Renaissance als Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, so mögen einem drei berühmte bildende Künstler einfallen - Botticelli, Caravaggio und Leonardo da Vinci.


    Von Botticelli ist überliefert, daß einer seiner päpstlichen Auftraggeber und Schutzherrn den ausschweifenden Lebensstil des Malers damit rechtfertigte, daß Botticelli eben ein Ausnahmemensch sei und eine Kunst dieses Ranges eben auch einer außergewöhnlichen Natur zu verdanken sei.


    Caravaggios abenteuerliches Leben spiegelt sich bereits tendenziell in seinen Bildern, die voller kühner Konventionsbrüche sind.


    Leonardo da Vinci hat seine Malerei als Teilaspekt einer umfassenden Wissenschaft begriffen, deren Voraussetzung geistige Freiheit ist und die auch die Malerei einer einzigen Autorität unterordnet, nämlich der Wahrheitstreue, z.B. im Sinne der anatomischen Richtigkeit.


    Auch Dürer hat die Autonomie der Kunst im Sinn einer frühneuzeitlichen Genieästhetik gedeutet - nicht bloß im Sinn einer getreuen Abbildfunktion nach wissenschaftlichen Maßstäben, sondern auch kraft einer Aufwertung der "göttlichen" Inspiration, die das Tiefe, Dunkle und Abseitige mitumfaßt und an der Erschaffung der Kunst substanziell beteiligt.


    Welch ein Rückschritt ist es da, wenn die künstlerische Freiheit heutzutage eingeschränkt scheint auf den Baukasten des künstlerischen Werks, wenn Freiheit der Kunst nur Freiheit der ästhetischen Mittel um ihrer selbst willen bedeutet. Wenn der Künstler, wie ein antiautoritär erzogenes Kind, im Werk alles darf, aber diese Kunst nur bezweckt, individuelle Freiheiten zu symbolisieren, die gesellschaftlich keine Tragweite mehr erlangen. Kunst schrumpft zur Pointe, zum Gag, der darin besteht, eine gegebene Sichtweise in einem Teilaspekt zu unterlaufen. Oder Kunst ist bloß dann noch echte Kunst, wenn sie alles vermeidet, was der Begriff "Kunst" traditionell erwarten läßt. Oder sie läßt auch das hinter sich und wird wieder altmeisterlich und eklektizistisch, postmodern oder photorealsitisch.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Die These, die Du an den Anfang Deiner Ausführungen stellst, lieber farinelli, ist aus meiner Sicht in hohem Maße diskussionswürdig.


    So gern ich es täte: Ich kann dazu nicht Stellung nehmen. Ich kriege zur Zeit nichts mehr hin. Alles, was ich für das Forum schreibe, sende ich nicht ab und lösche es wieder.


    Die überaus kritischen Äußerungen, die ich im Thread "Warum schreibt ihr nicht im Forum?" auf mich beziehen musste, haben bei mir schweren Schaden angerichtet.

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  • Lieber Helmut,


    in besagter Diskussion warst du doch ein würdiger und kluger Disputant, nicht der Gegenstand der Diskussion (das haben dir auch einige der Mitstreiter ausdrücklich versichert).


    Dies hier ist ein sehr spannender Diskurs, den ich bislang irgendwie übersehen hatte. Also mein dringender Appell - weiterschreiben!


    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Auch ich fordere Helmut Hofmann auf weiterzuschreiben.
    Vermutlich werden wir hier in diesem Thread nicht einer Meinung sein - aber es besteht von mir zumiondest keine Gefahr dich bewusst zu verletzen.


    Zum Thema:
    Es ist eine essentielle Frage welche Aufgaben man in der Kunst sieht, ob gesellschaftsverändernd oder behübschend.
    Ich habe hier bewusst zwei exponierte Standpunkte gewählt, weil hiebei mehr Transparenz erzielt werden kann.
    Ich bekenne mich offen zur "behübschenden Kunst", die es in der Tat gegeben hat.
    Was ist darunter zu verstehen ?
    Ich würde ganz allgemein sagen, alle Themen und ihre Verarbeitung, wo der Auftraggeber ein Gefühl des Wohlbefindens und der Überlegenheit oder der Frömmigkeit (ihr Stellenwert war einst höher als heute) vermittelt bekam.
    Ein Altarbild, das unten im Ecke (oder aber auch an prominenterer Stelle) den Stifter in betender Pose zeigt ist darunter ebenso zu verstehen, wie ein persönliches Portrait oder eine mythologische Szene, wo eine prägende Figur des Ereignisses rein zufällig die Züge des Herrschers oder Auftraggebers trägt.
    Hübsche homosexuelle Strichjungen konnten - bei aller päpstlichen Toleranz - nicht als solche gemalt werden, man stellte sie als engelgleiche Wesen mit Laute dar (Caravaggios Lautenspieler z.B). Desgleichen stadtbekannte Liebesdienerinen, die dann von den Altären herunterlächelten.
    Es gab Grenzen, die nicht überschritten werden durften - obwohl jedermann wusste, was sich hinter diesen Grenzen befand.


    Ich bin hier Farinellis Ausflug in die Welt der bildenden Kunst gefolgt - allerdings mit deutlich unterschiedlicher Ausffassung.
    Ich habe nichts dagegen wenn die Tonalität wieder tonangeben wird - und auch nchts gegen photorealistische Malerei, die natürlich KUNST ist, Denn in Wahrheit gibt es keine wirklich photorealistische Malerei. Malerei bringt zustende, was ein Photo nie vermag
    Ich möchte das am Bild von Papst Benedikt XV (regiert von 1914-1922) aufzeigen.
    Ein großer Humanist fürwahr, dieser Papst - und recht aktiv. Leider wirkt er auf Photographien stet ein wenig hilflos und verloren -





    Ein "photorealistisches" Gemälde indes verleiht dem Papst jene Würde und Überlegenheit, die man von ihm erwartet - dennoch ist die abgebildete Person wiedererkennbar.....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Caro Alfredissimo,


    also "behübschend", ich weiß nicht. Großer Portraitkunst war es stets darum zu tun, im Abbild das Wesen eines Menschen bloßzulegen und darzutun. Und Caravaggios Giovanni Baptisti sind ja nun gerade nicht engelgleich, sondern auf provokante Weise vulgär.


    Ich wollte aber gar nicht werten, sondern nur einen Bogen aufschlagen, um als These etwa folgendes zu behaupten:


    Dürers Melancholie-Stich identifiziert gerade die "Geometria", i.e. die Grundlage der neuzeitlichen Meßbarkeit der Welt, mit einer im Ästhetischen unzureichenden geistigen Haltung:


    "Aber ich weiß nit anzuzeigen ein sunder Maß, welches zum Hübschesten mocht nahen."


    Das Schöne ist eben kein mathematischer Näherungswert; mit der Pointe, daß es eben etwas über die melancholische Geometrie hinaus geben muß; nämlich die göttliche Inspiration, den poetischen Wahnsinn. Nur in der Kunst offenbart sich das göttlich-schöne Maß des Irdischen.


    Für Dürer steht damit der Künstler auf einer höchsten Erkenntnisstufe, aus deren reflexiver Haltung heraus die Darstellung der scheiternden Melencolia I allererst möglich ist. Folgt man der großartigen Studie von Klibansky, Panowsky und Saxl, so ergibt sich im Schematismus des Agrippa von Nettesheim eine Zuordnung der niedersten Erkennstnisstufe zu den (in Dürers Stich ja überdeutlichen) Naturkatastrophen und ihrer astronomischen Ankündigung (Komet). Erst die nächsthöhere Stufe hat vorausschauende Einsicht in politische Umstürze, während die dritte und höchste Erkenntnisstufe religiöser Offenbarungen teilhaftig wird.


    Die hier quasi im Grundstein befestige Genieästhetik mit ihrer grenzenlos aufgestoßenen Weite der Welthaltigkeit darf man dann mit der in der Romantik erreichten Schwundstufe, z.B. in Schuberts "Winterreise", vergleichen. Denn ganz gleich, ob man, wie ich vorschlage, im "Lindenbaum" etwa ein zartes Vexierbild revolutionärer Hoffnungen nostalgisch erblühen läßt, oder solch eine Deutungsdimension mit Helmut überhaupt leugnet: Die "Melancholie" der Winterreise ist eine subjektive, ein defizitäres, verarmtes Eingesperrtsein im lieblosen Selbst, dem vom faustischen Elan nur das "Verweile doch, du warst so schön!" verblieben ist.


    Je mehr der Künstler auf sein kleines wehleidiges Reich verwiesen bleibt, desto pseudo-aufklärerischer wirkt der Anspruch, gerade hier verwirkliche sich symbolisch die gesellschaftliche Freiheit. Die mit sich selbst und ihrem Spielzeug beschäftigte ausdifferenzierte Kunst leidet an dieser Isolation und schlägt daher revoltierend über die Stränge. Das wird dann als "kühn" gefeiert, als revolutionär gar.


    Die faustischen Entwürfe in der Kunst nehmen ab. Auf Beethoven als Freiheits-Appell wurde von Wolfram im "Voraussetzungs"-Thread hingewiesen. Wagner wäre zu nennen, der mit seinem Weltanschauungs-Musikdrama auch das (bloß) Ästhetische zu transzendieren trachtet. Hans Castorp im "Zauberberg" zieht schon eine recht dürftige Maxime aus der Kunst. - Die Geschichte Adrian Leverkühns soll als Künstlerdrama die gesellschaftliche Katastrophe Deutschlands wiederspiegeln - das funktioniert zuletzt so wenig wie Viscontis Versuch, Gustav von Aschenbach (dem bekantlich Gustav Mahler die Züge lieh) in Adrian Leverkühn zu überblenden.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das Grundproblem dieses Threads ist die ungeheure Komplexität der Thematik. Und genau hier liegt mein Problem, lieber Alfred Schmidt.


    Ich kann, wenn ich mich auf ein Thema einlasse, das nur mit der Gründlichkeit tun, die ich für angemessen, ja für unabdingbar halte. Aus meinen bisherigen Beiträgen zu diesem Thread müsste eigentlich deutlich werden, dass man sich auf philosophische Ästhetik einlassen müsste, um der Fragestellung gerecht zu werden. Wenn ich sage, dass ich mich damit ziemlich gründlich beschäftigt habe, dann tue ich das nicht, um damit anzugeben, sondern aus einem anderen Grund. Ich würde all dieses Wissen in meine Beiträge einfließen lassen müssen. Ich kann hier nicht anders schreiben.


    Und dann taucht das Problem auf, über das ich gerade wieder buchstäblich gestolpert bin als ich versuchte, den Begriff "Banause" historisch zu konkretisieren, um mich von eben diesem Inhalt zu distanzieren. Man haute mir die Frage um die Ohren, für wen derartige Ausführungen denn eigentlich "von Nutzen" sein sollen und konfrontierte mich mit eine Definition aus dem Fremdwörterduden. Manche mögen hier anscheinend nicht, wenn einer sein Bildunsgwissen in Beiträge einbringt, - auch wenn dies sachlich geboten ist. Siehe den Vorwurf: "Musikologe". Womit ich sagen will: Ich bin gar nicht "verletzt" worden (wie Du meinst), sondern ich wurde mit der offenkundigen Nutzlosigkeit meiner Beiträge konfrontiert, - um das Wort Sinnlosigkeit zu meiden.


    Wenn farinelli auf die Malerei der italienischen Renaissance und auf Dürer zurückgreift, um die dimensionale und die inhaltliche Einengung der künstlerischen Freiheit in Frage zustellen, wie er sie heute beobachtet, dann ist das zwar völlig berechtigt, er hat aber dabei nicht bedacht, dass eben diese künstlerische Freiheit in der Zeit der Renaissance geboren wurde. Das kann man im einzelnen ganz genau aufzeigen.


    In einem Brief des Dichters Annibale Caro an Vasari von 1518 wird zum Beispiel das Recht des Künstlers betont, genauso "nach eigenem Belieben" zu verfahren. Es heißt wörtlich: "Wie es ihm gefällt". Die Idee des "uomo universale" und das damit verbundene Postulat von der "Würde des Menschen" wirkte sich auch auf die Kunst aus. Innozenz III. hielt zum Beispiel dem Menschen noch seine Nacktheit als etwas Schändliches vor. Manetti hielt ihm entgegen, der Mensch sei "um des Schicklichen und des Schönen willen" geboren.


    Will sagen: Wenn ich die These aufstellte, dass die Quelle jeglicher großen Kunst - historisch betrachtet, zumindest von der Zeit der Reaissance an - eben die "künstlerische Freiheit" ist, dann kann man das an unendlich vielen Beispielen und historischen Quellen belegen. Darauf müsste man sich dann einlassen.


    Wenn Du sagst: "Es ist eine essentielle Frage welche Aufgaben man in der Kunst sieht, ob gesellschaftsverändernd oder behübschend. ..."


    ... dann berührt diese Feststellung grundlegende Fragen der Ästhetik. Es ist zum Beispiel durchaus strittig, ob Kunst überhaupt "eine Aufgabe" hat oder haben darf. Ob vielleicht ihr Wesen - und ihr Sinn! - gerade darin besteht, dass sie eine sie nicht hat. Was nun wiederum nicht heißt, dass sie nicht "gesellschaftsverändernd" wirken kann. Da wäre wir dann aber beim Problem der "Rezeption", das in besagtem anderen Thread schon angesprochen wurde. Hierzu meint zum Beispiel der Herausgeber eine Werkes über "Ästhetische Erfahrung heute:


    "Freisetzung durch ästhetische Erfahrung kann sich auf drei Ebenen vollziehen: für das produzierende Bewußtsein im Hervorbringen von Welt als seinem eigenen Werk, für das rezipierende Bewußtsein im Ergreifen der Möglichkeit, die Welt anders wahrzunehmen, und schließlich ... in der Beipflichtung zu einem vom Werk geforderten Urteil oder in der Identifikation mit vorgezeichneten und weiterzubestimmenden Normen des Handelns." (Jürgen Stöhr)


    Die Alternative, die Du oben postulierst - "gesellschaftsverändernd oder behübschend" - trifft auf jede wirkliche und große Kunst gar nicht zu. Wenn sie nur "behübschend" im Sinne von schönfärberisch ist, dann ist sie keine Kunst, sondern sie lügt. Wenn sie allerdings mit ästhetischen Mitteln - und so deute ich jetzt einmal Deinen Begriff "behübschend" - etwas über das ausdrückt, was ihr Gegenstand ist, und dabei die Augen für dessen Wesen öffnet, dann ist sie indirekt auch "gesellschaftsverändernd". Und zwar weil sie den Blick und das Bewusstein dessen verändert, der sie in sich aufnimmt. (rezipiert).


    In diesem Sinne mag das Gemälde von Benedikt XV. mehr über das Wesen dieses Menschen als Amtsträger aussagen, als dies eine Fotografie kann, Es sei denn, sie ist eine künstlerische. Womit wir wieder beim Thema wären.


    Es wäre mir lieb, wenn ich mich wieder in die Ecke des Liedforums zurückziehen könnte. Der Ausflug ins Zentrum dieses Forums ist mir nicht bekommen. Ich bin schlicht ungeeignet dafür. Und das ist die Feststellung eines Defizits, auf keinen Fall Ausdruck irgendwelchen Hochmuts.

  • Ich sehe gerade, dass farinelli, während ich hier schrieb, eine Stellungnahme zu Alfreds Beitrag eingestellt hat. Die kannte ich nicht, sonst hätte ich darauf natürlich Bezug genommen. Ich gehe mal davon aus, dass farinelli, falls er seinerseits meinen Beitrag gelesen hat, nicht mehr erwartet, dass ich mich meinerseits zu diesem noch einmal äußere. Obwohl das natürlich reizvoll wäre!


    Ich bitte um Verständnis.

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  • Nach Martin Heidegger ist "Kunst das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seins" (er zeigt das an einem Bild von Bauernschuhen van Goghs). Mahlers Neunte Sinfonie ist ein muikalisches Kunstwerk. Welche "Wahrheit des Seins" ist da ins kompositorische Werk gesetzt? Der Musikwissenschaftler Eggebrecht behauptet, in Mahlers Sinfonien seien "musikalische Vokabeln mit bestimmter Bedeutung" zu finden. Welche sind das hier in der Neunten? Und was sagen sie aus?


    Hallo Helmut,


    das Heidegger-Zitat ist insofern kontrapunktisch-gegensätzlich zum Thema, weil Heidegger die Freiheit der Interpretation bestreitet. Das Kunstwerk gibt diese Deutung vor, wir haben da nichts in das Bild hineingelegt, beteuert Heidegger. Nur leider hat sich Heidegger vertan: es sind gar keine Bauernschuhe! Wenn wir wirklich beschreiben, was wir sehen, dann sehen wir Schuhe abstrakt auf eine leere Fläche gestellt. Van Gogh hat ganze Serien von Schuhbildern gemalt - der Kunsthistoriker sagt, es waren wohl seine eigenen Schuhe. Nur was dürfen wir als Betrachter darin sehen, wenn wir davon nichts wissen? Mit Roman Ingarden ist der "Aufbau" eines Kunstwerks von einer gewissen schematischen Unbestimmtheit und darauf angelegt, daß diese vom Rezipienten "konkretisiert" wird. Darf man also in einem abstrakten Bild etwas hineinsehen? Ist das vielleicht sogar gewollt vom Kunstwerk, also Heideggers Irrtum gar kein Irrtum? Ingarden würde sagen, dem Interpreten und deutenden Hörer läßt das Kunstwerk einen Freiheitsspielraum offen. Wenn man das nicht zugesteht, verwechselt man ein fiktionales ästhetisches Objekt mit einem real existierenden Gegenstand. Natürlich ist diese "Konkretisation" auch nicht beliebig, sie darf das innere Gleichgewicht des Werkaufbaus nicht zerstören. Es gibt gute und schlechte Intepretationen.


    Eggebrecht versucht mit seinem Begriff der "Vokabel" das leidige Problem zu lösen, daß Mahler vermeintlich zitiert, wobei diese Zitate dann doch keine Zitate sind, sondern idiomatische Ausdrücke, die er als vorgeprägte Vokalbeln benutzt. Das ist eine Antwort auf die vermeintlich fehlende Originalität seiner Themen. Er arbeitet - das hatte schon Adorno zu recht betont - wie ein Romanschriftsteller, der eben schon vorgeformtes Material benutzt. Der Bezug von Heidegger und Mahler paßt - für Mahler ist eine Symphonie eine "Welt", Musik hat eine "Wahrheit" als Ausdruck eines Inhalts im Sinne eines bestimmten Weltverständnisses. Hier ist sehr interessant, wie weit die "Konkretisation" letztlich gehen darf. Wir können als Hörer der 1. und 2. Symphonie z.B. Bezüge zu den Liedern herstellen und uns so den Sinn des symphonischen Geschehens verständlich machen. Interessant ist aber, daß Mahler selbst in den poetischen Erläuterungen z.B. zur 2. Symphonie (Fischpredigt) einen solchen Bezug gar nicht herstellt. Auch da stellt sich die Frage: Wie weit darf die Sinnerschließung gehen? Ich habe die Freiheit, das Lied mitzuhören oder nicht. Wenn ich aber dle Lieder kenne, dann wird es mir kaum gelingen, davon zu abstrahieren. Das würde Mahler wohl auch zugeben.


    Beste Grüße
    Holger

  • Dein Beitrag, lieber Dr. Holger Kaletha, kommt mir wie gerufen. Deshalb - aber nicht nur deshalb! - danke ich Dir dafür. Wenn man sich wirklich auf Deine Ausführungen einlassen würde, brauchten wir einen eigen Thread. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass Heidegger die Freiheit der Interpretation bestreitet. Das könnte ich Dir mit Zitaten belegen.


    Zu der Sache mit den "Bauernschuhen" gibt es inzwischen jede Menge Literatur. Das ist alles gündich reflektiert und kommentiert worden. Ich verweise - nur mal willkürlich herausgegriffen - auf den Aufsatz von Michael Wetzel: "Ästhetik der Wiedergabe. Heideggers Ursprungstheorie des Kunstwerks und ihre Dekonstruktion". Er findet sich in dem von mir erwähnten Sammelwerk über "Ästhetische Erfahrung heute".


    Nein, ich bleibe dabei. Diese Probleme sind hier im Forum nicht in verantwortlicher, das heißt der Sache gerecht werdender Weise diskutierbar. Nicht, weil es keine Kenner der ganzen Problematik hier gäbe, sondern weil die Sache für ein auf Musik ausgerichtetes Klassikforum viel zu komplex und vom Gegenstand dieses Forums wegführend ist.


    Obwohl, - Deine hochinteressanten Ausführungen zum Thema "Mahler" könnten mir die Sache wieder schmackhaft machen.

  • Dein Beitrag, lieber Dr. Holger Kaletha, kommt mir wie gerufen. Deshalb - aber nicht nur deshalb! - danke ich Dir dafür. Wenn man sich wirklich auf Deine Ausführungen einlassen würde, brauchten wir einen eigen Thread. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass Heidegger die Freiheit der Interpretation bestreitet. Das könnte ich Dir mit Zitaten belegen.


    Zu der Sache mit den "Bauernschuhen" gibt es inzwischen jede Menge Literatur. Das ist alles gündich reflektiert und kommentiert worden. Ich verweise - nur mal willkürlich herausgegriffen - auf den Aufsatz von Michael Wetzel: "Ästhetik der Wiedergabe. Heideggers Ursprungstheorie des Kunstwerks und ihre Dekonstruktion". Er findet sich in dem von mir erwähnten Sammelwerk über "Ästhetische Erfahrung heute".


    Ich habe ja nun über Heideggers Kunstwerk-Aufsatz schon zwei Seminare veranstaltet, zuletzt im vergangenen Sommer. Das Problem ist, das ich - und so wird es vielen "ernsten" Interpreten auch gehen - meine Schwierigkeiten damit habe. Für Heidegger vergegenwärtigen die Schuhe bei van Gogh eine ganze bäuerliche Welt (mit "Sein und Zeit": einen Verweisungszusammenhang), und er sagt: Dies alles sagt uns angeblich das Kunstwerk selbst und nicht wir legen da irgend etwas deutend hinein. Da legt einem Heidegger Fesseln an, die einen Rettungsversuch im Keim ersticken (denn das sind nun mal keine Bauernschuhe!), etwa mit einer phänomenologischen Interpretation im Anschluß an Ingarden. Das ist aber eine tiefgehende philosophische Frage, der gewisse "Objektivismus" im Kunstwerkaufsatz und der radikale Versuch, jegliche ästhetische Subjektivität auszuschalten. Kunst als "Erlebnis" zu verstehen, bedeutet für Heidegger das Ende der Kunst.


    Beste Grüße
    Holger

  • Es wurde hier die These vertreten, dass es genüge, ein musikalisches Kunstwerk zu hörend zu "genießen". Damit sei ihm vollauf Genüge getan. Einen Anspruch im Sinne einer bestimmten "Haltung" ihm gegenüber stelle es nicht. Ich halte diese These für unzutreffend. Um nun die Diskussion im Sinne des Threads wieder in Gang zu setzen, stelle ich die Behauptung auf:


    Wer Kunstwerke, also auch musikalische, konkretistisch genießt, ist ein Banause.


    Er ist es, weil er sich dem Anspruch verweigert, die künstlerische Botschaft, die das Kunstwerk enthält, zu vernehmen und zum Bestandteil seines Welt- und Selbstverständnisses werden zu lassen. Denn genau dazu ist Kunst, also auch Musik, ihrem Wesen nach da.


    Meine These: "Wer Kunstwerke konkretistisch genießt, ist ein Banause" hat hier Verärgerung bis ironische Stellungnahmen ausgelöst, was ich - ich gestehe es - amüsant fand.


    Denn die These stammt gar nicht von mir. Ich zitierte Theodor W. Adorno. Und dieser ist - von seinem philosophisch-ästhetischen Konzept her - der Meinung, dass derjenige, der Kunst, also auch muikalische Kunstwerke, einfach so genießt, diese ihres Wesens entfremdet und sie zu einer Ware macht. Kunst ist aber für Adorno das Gegeneil von "Ware", und ihre gesellschaftliche "Funkion" besteht im Kern darin, den Fetischcharakter der Warenwelt offenzulegen. Ich bekenne mich dazu, im wesentlichen seine Auffassung vom Wesen des Kunstwerkes zu teilen.


    Es wurde eben nicht "zitiert", siehe 1. Zitat, im Gegenteil: "Ich stelle die Behauptung auf". Auch wäre der letzte Satz des 2. Zitates zu beachten.



    Ich persönlich habe das Wort Banause weder hier im Forum noch sonstwo jemals in den Mund und meine schriftlichen Äußerungen genommen. Ich bedaure sehr, dass sich zum Beispiel Mme. Cortese durch meine - vielleicht leichtfertige! - Zitiererei betroffen und vielleicht sogar verletzt gefühlt hat. In dem Wort "Banause" steckt eine in der griechischen Antike sozusagen selbstverständliches, nur vereinzelt und spät ernsthaft kritisch reflktiertes oder in Frage gestelltes elitäres Denken, das in dem geistig-gesellschaftlichen Konstrukt der Aristokratie wurzelt. Von einem derartigen Denken bis ich so weit weg, wie man überhaupt nur weg sein kann.


    Und dann taucht das Problem auf, über das ich gerade wieder buchstäblich gestolpert bin als ich versuchte, den Begriff "Banause" historisch zu konkretisieren, um mich von eben diesem Inhalt zu distanzieren. Man haute mir die Frage um die Ohren, für wen derartige Ausführungen denn eigentlich "von Nutzen" sein sollen und konfrontierte mich mit eine Definition aus dem Fremdwörterduden. Manche mögen hier anscheinend nicht, wenn einer sein Bildunsgwissen in Beiträge einbringt, - auch wenn dies sachlich geboten ist.


    Alles klar?
    Ich kann es auch in eine Frage kleiden: Wer mag das, wenn klare Äußerungen später verdreht werden?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Helmut, lieber Holger -


    das mit Mahlers "Materialität" spukt schon sehr lange in mir herum. Musil fragt (im Tagebuch) : "Sind Thomas Mann und Richard Strauss nicht beide Manieristen?"


    Thomas Mann flicht Kontexte in seine Erzählung ein, z.B. mythischer Natur. Dabei geht es gerade nicht um die Materialhaftigkeit, eher um die berühmte doppelte Optik. Der ironische Stil leistet die Verschmelzung der heterogenen Quellen samt der aufgesetzten Verweisungs-Lichter.


    Anders bereits Musil, der ganze Bibliotheken der Irrationalität in seinen "Mann ohne Eigenschaften" einbringt. Ähnlich wie es Karl Kraus zu seinem Drama "Die letzten Tage der Menschheit" sinngemäß formulierte - die krassesten Wendungen seien Zitat -, bleibt auch Musil vornehmlich inhaltlich interessiert am eingearbeiteten Diskurs.


    Marcel Proust verwendet Zitathaftes als Stil-Pastiche, weniger am Inhalt, mehr an der Diktion orientiert. Die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens schmilzt diese Differenzierung vielleicht allzusehr im Ebenmaß der gewählten Erzähl-Stillage ein.


    Die Mannsche wie die Proustsche Ironie sind aus diesem Blickwinkel mehr sprachlich-stilistischer Herkunft. Auch Mahler lehnt sich, wenn er zitathaft schreibt, an Stillagen an, ohne sich kompositorisch davon beirren zu lassen. Es wäre reizvoll, etwa Mahlers Walzer-Adaptionen (z.B. das "schattenhafte" Scherzo der VII.) mit Ravels "La Valse" zu vergleichen, einer sehr französischen Apotheose des Wiener Walzer-Sujets. So monographisch Ravel klingt, so fluktuierend wirkt das Anzitierte bei Mahler. So ironisch Ravel den Walzer-Katzenjammer aus einem verkaterten Erwachenstopos (auch ein Lever du jour) entwickelt, einschließlich schwindeligem Kopf, so ernst nimmt der Wahl-Wiener Mahler au fond den Walzer in seiner Totentanz-Symbolik und seinem Vitalitäts-Versprechen.


    Proust, der Entlarver sprachlicher Posen, rückt wieder näher an Musil heran; und auch Mahler hat in seiner Marsch-Dekonstruktion (VI.) etwas von einem Komponisten, der sein Material gegen es selbst richtet.


    Anders scheinbar die Mahlersche Liebe zur Natur, zum innig Schlichten, zum Volkslied. Die besitzt die Kraft zur Evokation einer Gegenwelt des grell Zitierten. Doch selbst das Andante der VI. wurde der überdeutlichen Banalität geziehen. Das Sentimentale (des thematischen Beginns) wird zum Anstoß für weltflüchtige Innerlichkeit (das Atadzietto der V. läßt grüßen).


    Ein schwieriges Terrain, fürwahr. Und Mann und Strauss haben auch manches gemeinsam.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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